Kendran Brooks

Die neunschwänzige Katze


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der langen Tafel im Speisesaal saßen nur Shamee und ihre Eltern, wurden von Carlos unter der Anleitung von Aílton bedient. Zenweih saß wie immer an der Stirnseite des Tisches, seine Frau zu seiner Rechten, Shamee gezwungenermaßen ihr gegenüber. Die Suppe war in kleinen Porzellanschüsseln mit blauer Verzierung aufgetragen worden und alle drei hielten den Porzellan-Löffel in der Hand und die Schüssel nahe an den Lippen, schöpften und schlürften das zarte Hühnerfleisch, die Nudeln und die Flüssigkeit lautstark ein.

      Carlos hatte sich längst noch nicht an die chinesischen Tischsitten gewöhnt, verzog angewidert sein Gesicht zu einer Grimasse, jedoch so, dass sie nur von Aílton gesehen werden konnte. Der behielt seine steinerne Miene bei, doch seine Augen funkelten zornig. Als Bediensteter hatte man sich seiner Herrschaft anzupassen und offene Kritik war nicht erlaubt, weder negative noch positive.

      »Du bist heute so schweigsam?«, wurde Shamee zwischendurch von ihrem Vater getadelt, »ist was in der Schule gewesen?«

      Sie schüttelte verneinend den Kopf und gab mundfaul ein »Nein, ist nichts«, von sich, bevor sie die letzte Nudel durch ihre geschürzten Lippen einsog, kurz kaute und schluckte, dann die Schüssel an ihren Mund führte und den letzten Rest der Suppe in ihn hineingoss. Sie stellte das Porzellan auf den Unterteller, nahm die Serviette auf und tupfte sich die Lippen ab, sah dann in das kühl-distanzierte Gesicht ihrer Mutter, aus dem sie den Tadel deutlich herauslas. Das Kinn von Shamee ruckte hoch wie eine Kampfansage. Sihena wandte ihren starren Blick von ihrer Tochter ab und widmete sich wieder ganz ihrer Schüssel, in der sie noch einen Brocken Hühnerfleisch mit dem Löffel aus den Nudeln herausschälte und ihn geziert zum Mund führte, wo er diesmal geräuschlos verschwand. Dann legte auch sie ihren Löffel ab und lehnte sich leicht zurück, wandte sich ihrem Gatten zu.

      »Wir haben heute endlich die neuen Rosenstöcke geliefert bekommen. Morgen früh wird der Gärtner kommen und sie einsetzen. Ich denke, Carlos kann ihm helfen, oder?«

      Zenweih nickte mit offenem Mund kauend und meinte nach dem Schlucken: »Ja, etwas körperliche Arbeit tut dem Jungen bestimmt gut.«

      Das war auch so etwas, das Carlos völlig gegen den Strich ging, diese Unterhaltung über eine anwesende Person, ohne sie in das Gespräch mit einzubeziehen. Er sog deshalb scharf die Luft durch seine Nase ein, was mit Sicherheit von allen drei Lings gehört wurde, was ihnen jedoch keinerlei Reaktion entlockte. Sie taten, als wäre er Luft. Nur Aílton runzelte seine Stirn und sah den Hausdiener drohend an.

      Ansonsten war er mit Carlos recht zufrieden. Der Junge gab sich echte Mühe, stellte sich bei den meisten Arbeiten auch äußerst geschickt an, hatte sogar die Dichtung an der Armatur in der Küchenspüle rasch und problemlos ausgetauscht, war sich gestern auch nicht zu schade gewesen, mit Hilfe der langen Leiter die Dachrinnen rund ums Haus von den Blättern zu säubern. Ja, der Junge war wirklich tüchtig. Wenn er doch nur nicht so furchtbar Stolz gewesen wäre. Denn Stolz, der brachte niemandem etwas ein, höchstens Scherereien. Man musste über den Dingen stehen, über der Verachtung durch seinen Dienstherrn, über all den kleinen und größeren Sticheleien. Sie lebten nun einmal in einer Welt von Wohlhabenden, waren deren Angestellte. Eine Vermischung mit ihnen war unmöglich und vor allem unnötig. Denn für Aílton gab es kein Oben und Unten, sondern nur Aufgaben. Selbst die für brasilianische Verhältnisse äußerst reichen Lings arbeiteten immer noch hart für ihr Geld, zumindest der Hausherr Zenweih, der jeden Morgen um vier Uhr früh aufstand und bereits um fünf das Haus in Richtung Großer Markt verließ, um den Einkauf seiner verschiedenen Restaurants zu begleiten und zu überwachen. Und um acht Uhr saß er in der Regel in seinem Büro in der Innenstadt, plante und entschied, telefonierte und empfing Besucher. Aílton hatte ihn ein paarmal begleiten müssen, für gewisse Botengänge oder auch für einen kleinen Empfang, den er für Geschäftsfreunde gab. Er bewunderte seinen Dienstherrn für dessen große Disziplin, für den Geschäftssinn, für die Hartnäckigkeit und das Organisationstalent. Und er eiferte ihm möglichst nach, gab sich in der Küche unten oft strategisch, plante die Haushaltsführung umsichtig, regelte kleine Streitigkeit unter den Angestellten oder wies Lieferanten und Handwerker zielstrebig an, übte alle notwendigen Kontrollen persönlich aus.

      Herr und Diener, Zenweih Ling und Aílton Santoro, der Major Domus empfand sie beide als ein perfekt aufeinander abgestimmtes Gespann, ein Dreamteam, eine Máquina, die reibungslos lief und perfekte Resultate ablieferte.

      »Willst du nicht endlich abtragen lassen, Aílton?«

      Die Stimme seines Herrn war leise, doch er fühlte sie wie Prügel.

      »Ja, selbstverständlich, bitte entschuldigen Sie, Senhor Ling.«

      Er nickte Carlos zu und wies mit dem Arm zum Tisch und der junge Mann setzte sich in Bewegung, sammelte das Porzellan ein, stapelte es geschickt auf seinem linken Unterarm und dem Handballen, verließ den Speisesaal durch die Türe in Richtung Küche, würde in weniger als einer Minute wohl mit dem Hauptgang anrücken.

      Immer noch wurde an der Tafel kaum gesprochen, denn alle drei Lings schienen in Gedanken versunken. Nur das Ticken der großen, französischen Kaminuhr aus dem Rokoko begleitete das Schweigen, schien immer lauter zu dröhnen.

      *

      Die Adoptionsfrage war erst einmal vom Tisch. Denn Sheliza weigerte sich, den Tod ihrer Eltern ohne amtliche Bestätigung zu akzeptieren und zu bezeugen. So hatte denn Henry und Holly das Innenministerium von Syrien und den syrischen Botschafter in London angefragt, ohne Antworten von einer der beiden Amtsstellen zu erhalten, hatten sich einen Anwalt in Damaskus besorgt, der vor Ort Abklärungen treffen sollte, hatten für Sheliza bin-Elik auf Facebook und Twitter zwei Accounts eingerichtet und dort um Hinweise zu den Vorfällen in al-Busayrah und dem Verbleib der Familie bin-Elik gebeten.

      Und es gab auch Menschen in den elektronischen Medien, die nahmen Anteil am Schicksal anderer, gaben bereitwillig ihr Wissen weiter oder taten zumindest ihre Meinung kund. Doch nur ein einziger berichtete direkt über al-Busayrah. Doch auch er war bereits vor Monaten dem Ort entflohen und lebte nun in Beirut im Libanon bei Verwandten. Der Mann sprach von einigen Dutzend Toten, die meisten davon Alawiten, nur wenige Christen und Schiiten. Die Massaker hätten vor allem den wohlhabenden Familien und Clans gegolten, waren also eher als Raubüberfälle zu werten und weit weniger als eigentliche Bürgerkriegsgräuel. Ob allerdings jemand aus der Familie bin-Elik überlebt hatte, das wusste er nicht zu sagen, denn er hatte am anderen Ende der Kleinstadt gelebt und vieles nur während der Flucht von anderen Geflohenen erfahren.

      Der Anwalt bestätigte nach mehreren Wochen Tätigkeit bloß, dass keine offiziellen Informationen über das Geschehen in al-Busayrah zu erhalten waren, ja, dass nicht einmal Human Rights Watch bislang von einem Massaker in dieser Ortschaft sprach. Die Behörden der Provinzstadt wären jedoch auch allesamt längst geflohen oder getötet oder anderweitig verschwunden und nicht mehr erreichbar. Wer in al-Busayrah die Macht ausübte, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen. Wahrscheinlich die al-Nusra-Front, unter Umständen jedoch auch die ISIS.

      Das anschwellende Bäuchlein von Sheliza war immer noch kaum zu erkennen. Sie trug auch zunehmend Kleider mit dickerem Stoff oder gleich zwei Abayas übereinander, um ihre Schwangerschaft so vor den anderen Schülerinnen ihrer Klasse zu verbergen. Mehr als ein Drittel der Jugendlichen waren dort Muslime, doch Sheliza fand trotzdem kaum Anschluss oder sie wollte gar keinen, schämte sich bestimmt, sich als schwangere Vierzehnjährige zu erkennen zu geben.

      Henry und Holly vereinbarten mit ihr, vorerst alle Anstrengungen für eine Adoption auf Eis zu legen und erst einmal die Geburt ihres Kindes abzuwarten. Sheliza schien sehr froh darüber, sagte es ihnen jedenfalls so: »Wisst ihr, es wäre schrecklich für mich, wenn ich mich von meinem Vater und meiner Mutter lossagen müsste, nur um ein paar Monate später zu erfahren, dass ich gar keine Waise bin. Das will und kann ich meinem Kind nicht antun.«

      Ob der Teenager dabei auch an die christliche Herkunft ihrer Pflegeeltern dachte oder doch nur an ihre wahrscheinlich toten Eltern?

      *

      Jules war neben ihr eingeschlafen, schnarchte leise und wohlig. Er hatte sein Bestes gegeben, hatte sie geliebt wie ein junger Gott, hatte es zumindest redlich versucht. Alabima war zum Höhepunkt gekommen. Allerdings weniger aufgrund der Bemühungen