Kendran Brooks

Die neunschwänzige Katze


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eigenen Planetensystems und der Sonne, der Milchstraße mit ihren Milliarden anderer Sterne, ja dem gesamten Weltall mit seinen unzähligen Galaxien und seiner unendlichen Dimension ganz einfach verloren fühlen, so ganz ohne Rückhalt, ohne den Glauben an eine höhere Macht.«

      Sheliza sah sie forschend an, hatte noch nicht verstanden, worauf ihre Pflegemutter mit diesen Worten hinauswollte. Oder sie mochte sie nicht wahrhaben. Aber dann nickte die Muslimin doch noch, als hätte sie sich eine stumm gestellte Frage selbst beantwortet.

      »Das Leben ist doch sinnlos, wenn Allah bloß eine Fiktion wäre«, reklamierte sie, »wenn der Glaube nur aus einem primitiven, menschlichen Bedürfnis entstanden wäre oder sogar nur aus Furcht vor dem Tod?«

      »Wir können das Rätsel um einen Schöpfer niemals lösen, Sheliza«, Henrys Stimme war ebenso sanft, wie die von Holly zuvor, »wir können nur glauben oder den Glauben an ein höheres Wesen ablehnen. So oder so müssen wir uns im Leben anständig zu anderen Menschen verhalten. Denn schon die Vernunft sagt uns doch, dass wir untereinander Frieden halten müssen, dass wir aufeinander zugehen sollten, sodass wir die Bedürfnisse anderer Menschen erkennen können und für einen Ausgleich besorgt sind. Wir müssen uns bemühen, Ungerechtigkeiten zu unterbinden und Gemeinsamkeiten zu finden. Die Religionen verfolgen dieselben, vernünftigen Ziele.«

      »Und trotzdem gibt es überall Krieg und Zerstörung, auch im Namen des jeweiligen Gottes«, fügte Holly wie als Widerspruch an und Sheliza nickte zustimmend.

      »Denn es sind immer wir Menschen, die das Wort unseres Gottes auslegen und dabei allzu gerne unsere egoistischen Bedürfnisse in sie hineinpacken«, warnte Henry vor allzu leichtfertigen Schlüssen. Diesmal sah ihn die Alawitin zweifelnd an.

      »Aber die Worte sind doch völlig klar? Sie stehen im Koran oder in eurer Bibel und jeder kann sie lesen und verstehen?«

      Holly und Henry lächelten nun beide auf eine ernste Weise, so dass ihre Gesichter traurig aussahen.

      »Mohammed hat doch andere monotheistische Religionen wie das Judentum oder das Christentum ausdrücklich geschützt. Solange er lebte und wirkte durfte jeder Mensch in Mekka oder Medina seinen Glauben frei ausüben. Erst Jahrzehnte später traten die ersten Einschränkungen ein, wurden Verbote erlassen und andere Religionen unterdrückt. Dasselbe geschah im Christentum ein paar hundert Jahre früher, jedoch ganz ähnlich. Nach einer Phase des Miteinanders, während der die neue Religion an weltlicher Macht gewann, veränderte sie sich irgendwann zur Diktatur. Die Religion wollte über jeden Menschen bestimmen. Doch das Christentum beruht auf dem Judentum und der Islam entstand auf der Basis beider Religionen. Und trotzdem bekämpfen sie sich gegenseitig, weil jede für sich die einzige Wahrheit reklamiert. Das kann jedoch kaum im Sinne Allahs, Jahwes oder von Gott sein. Denn alle drei lieben doch alle Menschen, denn so steht es in allen drei heiligen Schriften.«

      »Aber es geht doch vor allem um die Seele der Menschen«, führte Sheliza nun an, »man muss doch möglichst viele Seelen retten und darum die Menschen vom einzig richtigen Weg überzeugen?«

      »Und welcher Weg ist der einzig richtige, der ältestes oder der jüngste? Was ist, wenn gerade in diesen Tagen eine neue Religion entsteht, ein neuer Prophet geboren wird? Müssen wir dann all die Kriege, das Töten und Ausmerzen der Andersgläubigen einmal mehr wiederholen? Kann das der Wille Gottes sein?«

      »Mir schwirrt der Kopf«, meinte Sheliza und wirkte ratlos.

      »Uns allen schwirrt der Kopf angesichts der Dimensionen dieser Fragen«, sagte Holly sanft, »denn sie gehen über unseren Verstand hinaus, drehen sich deshalb im Kreis.«

      »Doch eines bleibt«, mischte sich Henry wieder ein, »nämlich die Einsicht, dass nur Toleranz funktionieren kann. Und mit Toleranz meine ich, anderen Menschen ihren Willen zu lassen und sie nicht mit Gewalt eines Besseren belehren zu wollen.«

      »Aber ein Leben ohne Gott ist doch völlig sinnlos, ohne echten Inhalt, ohne Bestimmung?«

      Die Stimme von Sheliza drückte ihre Hilflosigkeit aus.

      »Du solltest noch einen Schritt weiter zurückgehen, dann findest du die Antwort ganz von selbst«, meinte Henry und sah das Mädchen auffordernd an.

      »Einen Schritt zurückgehen? Was meinst du damit?«

      »Das Leben ist das Einzige, von dem wir wissen. Wir fühlen und spüren es, nehmen es bewusst wahr. Was vor dem Leben war und was nach ihm folgt, das erklären uns zwar die Religionen, die Philosophie oder die Wissenschaft. Doch was davon sich als Wahrheit erweisen wird und was als Irrtum, können wir während unseres Lebens doch nur vermuten. Denn zumindest die Wissenschaft und auch die Philosophie entwickeln sich stetig weiter, stellen ihre bisherigen Wahrheiten immer wieder in Frage, belegen frühere Fehlüberlegungen, stellen sie richtig. Auch bei den Religionen entstehen immer wieder neue. Und auch sie behaupten stets von Neuem, alle ihre Vorgängerinnen hätten sich in wesentlichen Teilen geirrt und nur sie führten zur Wahrheit.«

      »Aber was willst du mir damit klar machen? Ich verstehe nicht?«, warf Sheliza beunruhigt ein.

      »Niemand, keine Wissenschaft, keine Philosophie und auch keine Religion kann für sich allein die einzig gültige Wahrheit reklamieren. Die Geschichte zeigt uns doch all die Irrtümer in der Vergangenheit auf. Wenn wir jedoch keine abschließende Wahrheit kennen, dann dürfen wir auch nicht über das Leben anderer Menschen entscheiden und ihnen unsere eigenen Ansichten aufzwingen.«

      Die junge Muslimin saß auf dem Sofa, blickte erst Henry lange und schweigend an, warf dann einen Blick zu Holly hinüber.

      »Darf ich auf mein Zimmer gehen? Ich muss über all das nachdenken.«

      Henry nickte zustimmend: »Selbstverständlich. Schlaf gut, Sheliza.«

      Sie verabschiedete sich von Holly mit einer Umarmung und einen Kuss auf die Wange. Dann verließ sie den Wohnraum, verschwand in ihrem Zimmer. Auch Henry stand auf, ging hinüber zur Bar und schenkte für Holly und sich zwei Cognacs ein, kehrte mit ihnen zum Sofa zurück.

      »Wird sie es verstehen? Ich meine, das mit der Toleranz, die über allem stehen muss? Auch über dem Glauben und allen Religionen?«

      Henry schüttelte verneinend und traurig den Kopf.

      »Nein, ich denke nicht. Denn Sheliza hat einen großen Nachteil. Sie ist Muslimin.«

      Holly schaute ihren Lebensgefährten fragend und auffordernd an.

      »Der Islam ist die jüngste der Weltreligionen. Wie soll man seine Gläubigen jemals davon überzeugen können, dass auch der Islam irgendwann von einer neuen Weltreligion abgelöst wird? Jede neue Generation entwickelt doch das Gefühl, sie stünde an der Spitze der Menschheitspyramide, wäre allen früheren Zeitaltern überlegen. Und so wird auch Sheliza zur Einsicht gelangen, dass als einziger der Islam die richtigen Antworten auf alle Fragen kennt.«

      *

      Sie saßen allesamt um den Küchentisch herum. Der Major Domus fluchte immer noch leise über die erhaltene Seiko, Marta starrte ohne äußere Regung zu zeigen auf das pinkfarbene Töpfchen mit der Handlotion, Carlos hatte die Lederhandschuhe achtlos vor sich liegen, während Naara immer noch vor der ungeöffneten Rolle saß und sie wie eine Unheil anstierte, dem sie sich nicht stellen wollte.

      »Mach endlich auf«, wurde sie von Carlos gedrängt. Sie schüttelte stumm aber ablehnend ihren Kopf.

      »Täubchen«, säuselte nun Marta, »irgendwann musst du es öffnen.«

      Eine Träne zeigte sich im linken Auge des Zimmermädchens.

      Aílton war der einzige, der das ungeöffnete Geschenk mit der armen Naara dahinter nicht beachtete, denn er war immer noch maßlos entsetzt über die Armbanduhr ohne jeden Verkaufswert, rechnete sich immer wieder aus, wie viel Geld ihm entgangen war, falls diese oder jene Marke im Päckchen gelegen hätte.

      Plötzlich griff Naara zu, nahm die Rolle an sich, riss das Papier auf. Darunter kam eine Luftpolsterfolie zum Vorschein, die mehrfach um einen Gegenstand geschlungen war. Rasch wickelte sie ihn auf und hielt dann die Haarbürste in Händen,