Kendran Brooks

Die neunschwänzige Katze


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der Lings. Und der Schildpatt-Rücken der Bürste war zerbrochen, zeigte nicht nur Risse, es fehlte ein ganzes Stück. In einem Anflug von Wut hob Naara ihren Arm, schwang ihn über ihre Schulter, wollte die Bürste zornig gegen eine Wand schleudern, hielt jedoch inne und ihr Oberkörper schwankte. Tränen liefen ihr über Wangen und Kinn, als sie ihren Arm langsam wieder sinken ließ und dann die verdreckte und zerbrochene Bürste sanft auf den Küchentisch zurücklegte. Sie starrte sie an und hörte dann auf zu weinen. Noch einmal schniefte sie laut, sog die Luft scharf durch ihre Nase ein, jedoch nicht zornig, auch nicht enttäuscht, eher wie ein Versprechen.

      *

      Eine Etage höher stellte Vater Ling seine Tochter zur Rede.

      »Und was hast du für Naara gekauft?«

      »Eine Haarbürste«, gab Shamee mit trotzigem Gesicht zurück.

      »Teuer?«

      »Ein paar Real, keine fünfzig«, log sie weiter.

      »Na gut. Aber warum hast du dann so abfällig gelächelt?«

      »Abfällig gelächelt?«

      Sie konnte das Glucksen in ihrer Stimme gerade noch vermeiden.

      »Ja, gelächelt, abfällig und überheblich. Du weißt doch genau, Shamee, dass wir auf unsere Bediensteten stolz sein dürfen, dass sie zuverlässig sind und vor allem ehrlich. Warum musst du sie dann immer wieder aufziehen oder heruntermachen? Du solltest ein besseres Verhältnis zu ihnen Aufbauen und sie nicht wie Dreck behandeln.«

      »Ich weiß«, stöhnte die Siebzehnjährig weniger zustimmend als ablehnend und ihr Vater verdrehte ebenso wie sie seine Augen, wandte sich hilfesuchend an seine Frau Sihena, die ihm aufmunternd zunickte.

      »Man erzählt sich, du hättest Naara vor ein paar Tagen zu Unrecht des Diebstahls bezichtigt.«

      »Wer erzählt solche Lügen? Ich habe niemanden verdächtigt. Doch meine neue Haarbürste war tatsächlich verschwunden und ich hab Naara auf den Kopf zugesagt, dass ich sie bei der Polizei anzeigen werde, falls die Bürste nicht wiederauftaucht.«

      »Und?«

      »Ein paar Stunden später lag sie wieder auf meinem Frisiertisch«, gab ihre Tochter triumphierend bekannt, sah danach kurz und prüfend zu Chen hinüber, der sie damals nach Hause kommen sah, mit der Bürste in der Hand, die sie zuvor bei ihrer Freundin Cäcilia abgeholt hatte. Doch ihr Bruder blickte sie unbestimmt und wenig interessiert an, verband wohl das eben Gesagte nicht mit einer seiner möglichen Erinnerungen. Shamee fühlte, wie ihre Sicherheit zurückkehrte.

      »Ist noch was?«, fragte sie ihre Mutter und die schüttelte verneinend den Kopf.

      Das Christfest fand vier Stunden später im kleinen Familienkreis statt. Chen verbrachte den Abend diesmal bei der Familie seiner Freundin. Der zweite Sohn weilte bei einem Onkel in Brasilia und die älteste der Töchter hatte schon Kinder und feierte mit ihrem Ehemann zu Hause. So stießen bloß Mei Ling und Chufu Lederer, sowie die zweitjüngste Tochter Yaari zu Vater, Mutter und Shamee hinzu. Auch die Angestellten hatten das Haus vor über einer Stunde verlassen, waren unterwegs zu ihren Familien oder Freunden. Die Horsd’œuvre standen bereit, ebenso zwei Flaschen Champagner im Eiskübel. Im Ofen wartete die Fleischpastete, die ganz Traditionell nach einem US-amerikanischen Rezept vom Feinkosthändler stammte, von Marta fertig gebacken und warm gestellt worden war. Der Hausherr selbst würde persönlich aus dem Weinkeller eine oder zwei gute Flasche heraufholen, die ihm Aílton selbstverständlich passend zum Essen bereitgestellt hatte.

      Es war von Anfang an eine lockere, wenig weihnachtliche, doch fröhliche Stimmung, wozu sicher auch der Alkohol bald einmal beitrug. Vor allem Shamee lehrte rasch zwei Gläser Dom Perigon, rülpste danach verhalten, ertrug auflachend die tadelnden Blicke ihrer Eltern, ließ sich von Chufu ein drittes einschenken.

      »Man soll die Feste feiern, wie die Flaschen fallen«, verballhornte sie noch vor der Bescherung eine alte Weisheit, wurde von ihrer Mutter sogleich gemaßregelt, denn für Sihena Ling waren Stil und Würde untrennbar miteinander verbunden.

      »Bitte nicht solch dumme Sätze, Shamee, nicht in diesem Haus und nicht zu Weihnachten.«

      Ihre Jüngste blickte sie einen Moment lang verächtlich an, erwiderte jedoch nichts, sondern senkte rasch ihre Augen, um nicht weiter zu provozieren.

      Chufu und auch Mei vermissten in diesem Jahr die Weihnachtsstimmung im Hause Ling, das Gemeinsame, das Füreinander, die Herzlichkeit. Vielleicht lag es am Fehlen der anderen drei Geschwister von Mei. Ja, das musste es wohl sein. So würden die beiden später am Abend, auf dem Rückweg zu ihrer Wohnung, übereinstimmend über den Abend urteilen.

      Februar 2014

      In Syrien breitete sich ein neuer Virus aus. Islamischer Staat im Irak und Syrien oder abgekürzt ISIS nannte er sich und er versprach seinen Anhängern ein besseres Leben im Diesseits wie im Jenseits und vor allem zu Lasten aller Andersgläubigen. Frühere Offiziere des irakischen Diktators Saddam Hussein bildeten ihr Rückgrat. Sie wurden ergänzt von erfahrenen Terroristen aus Tschetschenien und mit Dschihadisten aus Syrien. Unterstützt wurden sie vom reichlich fließenden sunnitischen Geld aus der Golfregion. Und sie überfielen schlecht geführte Militärposten im Irak, erbeuteten dort schwere Waffen und auch viel Geld, bekämpften immer seltener die Truppen des al-Assad Regimes in Syrien, wandten sich vielmehr gegen alle anderen Konkurrenten um das Erbe in der Levante.

      Unterstützt von der mehrheitlich sunnitischen Türkei, in Ruhe gelassen von den Kurden im Nordosten, nicht bedrängt von der schiitischen Armee im Irak, beherrschten sie bald einmal große Landstriche im Grenzgebiet zwischen den beiden Staaten. Europa wie die USA schauten fassungslos zu, wie sich dieser Virus weiter ausbreitete, wie er durch Geld und Waffen von Woche zu Woche an Macht gewann. Man zögerte jedoch weiterhin, lieferte keine schweren Waffen an die Freie Syrische Armee, überließ den Seiltanz mit dem Teufel der unerfahrenen und schlecht ausgebildeten irakischen Armee.

      Henry, Holly und Sheliza verfolgten die zunehmende Radikalisierung und Brutalisierung über die Medien, konnten nicht verstehen, wie der Westen einmal mehr bloß zuschaute, wie Länder von Extremisten auseinandergerissen und neu zusammengesetzt wurden. Wie war das damals, in Afghanistan, als man nach dem Abzug der Russen das Feld den Islamisten überließ? Wann war das noch mal? Ach ja, 1992. Damals akzeptierten die USA unter der Führung ihres Präsidenten George Bush Senior eine islamische Regierung unter der Führung der Mudschaheddin, kümmerten sich nicht weiter um das Land, das wenig später in einen Bürgerkrieg verfiel und seither nur Unterdrückung und Terror kannte. Doch diesmal und in Syrien lagen die Gefahren weit näher zum Westen, direkt an der Grenze zur Nato. Und trotzdem redeten in Europa und den USA weiterhin nur die zaudernden Politiker und nicht etwa die Generäle. Wie war das noch in Afghanistan Anfang der 1990er Jahre gewesen? Der Westen sah zu, wie das Land unterging, spielte den passiven Weltenveränderer, ähnlich dem britischen Premierminister Chamberlain, der 1938 aus Angst vor Adolf Hitler und den Nationalsozialisten das schändliche Münchner Abkommen unterzeichnete. Doch wie sah es im Osten der Ukraine aus? Da war Russland dabei, die Halbinsel Krim zu annektieren und Europa schaute auch hier tatenlos zu, ließ der Aggression freien Lauf.

      Machten Politiker in jedem Zeitalter dieselben Fehler? Waren sie nicht lernfähig? Konnten sie weiterhin nicht rechnen?

      Vom zehnten bis zum fünfzehnten Jahrhundert focht die katholische Kirche in Europa mit den weltlichen Herrschern um die Macht. Auch der Islam war mittlerweile 1400 Jahre alt geworden und steckte im selben Dilemma fest, rang mit den Regierungen der Erde um die absolute Herrschaft.

      Sheliza schien vor allem traurig über all die schrecklichen Meldungen zu sein, enttäuscht über die Ohnmacht der Staaten, entrüstet über die Gräueltaten der Extremisten. Sie zog sich noch weiter zurück, vielleicht aber auch, weil sich ihr Bauch immer mehr wölbte und so die Geburt ihres Kindes im Juni ankündigte. Holly und Henry verstanden das Mädchen, drangen nicht auf sie ein, wollten sie nicht unnötig bedrängen und belasten.

      In der Schule machte sie dagegen gute Fortschritte und