Kendran Brooks

Die neunschwänzige Katze


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muss heute noch raus«, mahnte sie die Sekretärin, die stumm nickte.

      In der Zwischenzeit stand Holly Peterson längst auf dem Gehsteig unten, atmete dort ein paar Mal tief ein und aus, brachte ihre Erregung unter Kontrolle. Die aparte Frau von Mitte vierzig wurde von den meisten an ihr vorbeieilenden Passanten zumindest gemustert, wenn nicht sogar frech angestarrt. Doch Holly beachtete sie nicht, denn ihre Gedanken rasten.

       Wurde ihre kleine Familie nun auseinandergerissen? Was war, wenn die Sozialdeppen ihr und Henry die Betreuung von Sheliza tatsächlich entzogen? Sie womöglich in ein Heim steckten?

      Holly war wütend, jedoch weniger auf die verbohrte Misses Myers vom schulpsychologischen Dienst als auf sich selbst. Hätte sie doch Henry zu diesem Termin mitgenommen. Der wäre bestimmt ruhig geblieben und hätte dieses dumme Stutenbeißen vermieden. Doch für Reue war es nun zu spät. Beamte vergaßen in der Regel nie, ähnlich Elefanten. Beide bewegten sich eher schleppend, geistig wie körperlich, spielten im Gegenzug nur zu gerne ihre Kraft aus, ließen ihre Muskeln spielen. Nein, sie hatte weder Sheliza noch Henry einen Dienst erwiesen. Aber selbst eine ehrlich gemeinte Entschuldigung konnte hier kaum mehr etwas retten. Denn wer Stolz und Ehre mit Würde verwechselte, wer sich gleichzeitig und fälschlicherweise anmaßte, über ein riesiges Können zu verfügen, der konnte nicht verzeihen. Niemals.

      »Du dumme Kuh«, herrschte sich Holly selbst laut an. Eine Passantin blieb stehen und musterte die hübsche, fluchende Frau, bezog den Ausspruch wohl auf sich, zog bereits eine beleidigte Miene und setzte zu einer Erwiderung, was Holly nicht entging.

      »Nicht Sie«, beeilte sie klar zu stellen, »ich meine mich«, und als sich die andere endlich abwandte und weiterging, fügte Holly leise hinzu, »denn du bist nur dämlich.«

      Als sie wenig später Henry von der Auseinandersetzung mit der Schulpsychologin erzählte, rief dieser sogleich ihren Anwalt an, der ihnen damals die Erlaubnis zur Betreuung des Flüchtling-Teenagers verschafft hatte. Er schilderte ihm die neue Situation in wenigen, klaren Worten. Der Anwalt erkundigte sich zuerst über ihren eigenen Eindruck der schulischen Leistungen ihres Schützlings und Huxley gab offen zu, dass einer der Lehrer sie bereits vor einigen Wochen auf Mängel hingewiesen hatte, dass Sheliza öfters ohne Hausaufgaben erschienen war und im Unterricht immer öfters geistesabwesend wirkte. Deshalb kam es auch zur Aussprache mit der Schulpsychologin.

      Der Anwalt versprach ihnen nichts, würde sich jedoch umgehend um die Sache kümmern, machte jedoch ebenso klar, dass mit dem Sozialdienst der Stadt kaum zu spaßen war. Ihre Macht wäre weit größer als die jedes Staatsanwalts oder Richters. Die Behörde konnte fast nach Gutdünken Familien auseinanderreißen und neu zusammensetzen. Und jede Klage dagegen käme stets zu spät, besaß auch nie aufschiebende Wirkung, weil man das Wohl eines Kindes eher den Beamten, als den Erziehungsberechtigten zutraute.

      »Wundern Sie sich also nicht, wenn bereits morgen früh jemand an Ihrer Haustüre klingelt und Sheliza in Gewahrsam nimmt«, verabschiedete sich der Mann am Telefon.

      Henry legte betroffen auf, informierte Holly. Sie riefen Sheliza aus ihrem Zimmer, setzten sich mit ihr aufs Sofa, erzählten von den Problemen in der Schule und erklärten ihr die möglichen Konsequenzen. Die junge Muslimin zeigte sich erschrocken, beinahe panisch.

      »Ihr lasst das doch nicht zu?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen, denen man deutlich die Furcht sah.

      »Nein, niemals«, bestätigte Holly sogleich und vehement und auch Henry nickte.

      »Wir sollten erst einmal die Stadt verlassen«, entschied der Brite, »ein paar Tage in Brighton können bestimmt nicht schaden, auch wenn es dort zu dieser Jahreszeit meist regnet und der Wind kalt und in unangenehmen Böen weht.«

      »Oder wir fahren gleich weiter, nach Frankreich oder nach Deutschland?«, fügte Holly hoffnungsvoll hinzu.

      »Lieber nicht«, erwiderte Henry, »falls man uns sucht, wird man uns bei einer Rückkehr aus dem Ausland womöglich gleich an der Grenze verhaften.«

      Sheliza hörte ihnen nachdenklich zu, war ganz in sich gekehrt.

      »Also packen wir erst einmal für eine Woche. Und bereits diese Nacht verbringen wird in einem Hotel in der Nähe. Morgen früh brechen wir dann nach Brighton auf. Okay?«

      Holly nickte sogleich, Sheliza zögernd. Ihre Pflegeeltern sahen sie besorgt an.

      »Darf ich morgen früh noch einmal zur Moschee, bevor wir fahren?«

      »Aber sicher, Sheliza«, bestätigte ihr Holly sogleich und wieder nickte Henry zustimmend.

      »Doch du solltest niemanden von Brighton erzählen«, wurde sie vom Briten ermahnt.

      »Nein, selbstverständlich nicht.«

      Die junge Muslimin erhob sich und ging hinüber in ihr Zimmer, um zu packen. Henry und Holly blickten sich an.

      »Was meinst du?«

      »Sie wird es schon wegstecken.«

      »Sie sah aber sehr bestürzt aus?«

      »Das legt sich wieder, sobald wir aus London raus sind.«

      »Armes Kind.«

      Henry nickte stumm.

      *

      Familie Ling saß beim Abendessen, das wie immer um halb acht aufgetragen wurde. Doch nur

      Zenweih und Sihena hatten Platz genommen. Das Gedeck von Shamee lag verwaist.

      »Wo ist unsere Tochter?«, fragte der Hausherr beiläufig.

      »Keine Ahnung. Noch nicht nach Hause zurückgekehrt«, gab Frau Ling recht kühl zurück, drehte sich dann aber zum Major Domus um und fragte diesen, »das stimmt doch, Aílton, sie ist noch nicht zurück?«

      »Nein, Senhora Sihena Ling, Ihre Tochter ist noch außer Haus.«

      Die beiden aßen stumm weiter. Doch nach einer Minute meinte Zenweih: »Ich mag es nicht, wenn sie unentschuldigt ausbleibt. Das Abendessen ist die einzige Zeit, die wir noch gemeinsam und als Familie verbringen. Shamee könnte wirklich etwas mehr Rücksicht zeigen.«

      »Ha«, entschlüpfte Sihena ziemlich verächtlich, wobei Zenweih genauso wie Aílton und Carlos das Gefühl hatten, die Gattin hätte eher zu sich selbst gesprochen.

      Als das Dinner beendet war, entschuldigte sich Sihena bei ihrem Mann.

      »Ich bin müde, Liebling. Ich geh heute früh zu Bett.«

      Zenweih nickte zustimmend.

      »Gute Nacht, Sihena.«

      »Gute Nacht, meu rei do baffo.«

      Die Hausherrin rauschte an den beiden Bediensteten vorbei, strebte der breiten Treppe im Eingangsbereich zu, die sie nach oben in ihre Zimmerflucht führte.

      »Noch einen Wunsch, Senhor Ling?«, fragte Aílton, während Carlos die Teller, das Besteck und die Gläser abräumte.

      »Sie können mir noch einen Cognac in die Bibliothek bringen. Ich werde noch etwas lesen.«

      »Sehr wohl, Senhor Ling.«

      Zenweih blieb noch für einen Moment am großen Esstisch sitzen, sah sich die leergeräumte Platte mit den unbesetzten Stühlen ringsum an. Was er dabei dachte, was er empfand, das blieb hinter seiner Stirn verborgen. Sein Gesicht war maskenhaft starr, ebenso seine Augen. Sein Mund wirkte dagegen verkniffen und erschien einem deshalb grimmig. Doch so blickte der erfolgreiche Betreiber einer China-Restaurant-Kette die meiste Zeit über. Dieser Gesichtsausdruck gehörte ebenso zu ihm, wie sein Millionenvermögen. Erfolg gab es nirgendwo umsonst.

      *

      »Wo bleibt sie denn?«

      Holly und Henry hatten längst gepackt und ausgecheckt, warteten in der Hotel-Lobby auf die Rückkehr von Sheliza, die sich verspätete.

      »Ausgemacht war doch elf Uhr, oder?«, vergewisserte er sich noch einmal bei seiner Freundin, die zustimmend