Oliver Trend

Gebrochenes Schweigen


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hatte – gerade dabei war, voller innerer Pein einen passenden Abschiedsbrief auf meinem Notebook zu verfassen, geschah es: Ich wurde von dieser verstorbenen Seele heimgesucht, die mich nun zwingt, aus ihrem vergangenen Leben zu berichten.

      1

      Es begann im Frühsommer des Jahres 1948, als die blutige Violencia in Kolumbien losbrach, ein Bürgerkrieg von vielen. An diesen jedoch erinnere ich mich noch genau, da an jenem schicksalhaften Tag mein neunter Geburtstag gefeiert wurde. Es war der heißeste Tag des Jahres, und das nicht etwa nur der Hitze wegen, nein! Es wäre sogar möglich, dass es sich um den heißesten Tag eines ganzen Jahrzehnts handelte, und glauben Sie mir ruhig, dieses Datum, der 27. Mai 1948, brannte sich erbarmungslos in die Gedächtnisse und Seelen aller Kolumbianer ein. Ich verlor meine über alles geliebte Familie und all meine Freunde, einfach alles, was mir bis dahin lieb und teuer gewesen war.

      Seit drei Monaten hatte es nicht mehr geregnet, der Boden in den höheren Regionen war staubtrocken. Viele der wilden Tiere kamen aus diesem Grund in dieser Jahreszeit mit ihren Jungen in die Tiefebenen herunter.

      In einer dieser Tiefebenen der Ostkordilleren lebte ich in einem kleinen, aber reichen Dorf mit dem verheißungsvollen Namen Nuevo Alumbrado, was so viel bedeutet, wie „Neue Beleuchtung“. Nahe dem Río Humea, dem einzigen Fluss hier, der um diese Jahreszeit für alle genügend Wasser mit sich führte und dessen Uferläufe noch nicht ausgedorrt waren. Er mündete viele hundert Kilometer südöstlich, am Fuße des Anden-Gebirgsverlaufs, in den Río Meta und den Orinoco. Manchmal, wenn sich die wilden Tiere unbeobachtet fühlten, wagten sie sich auch tagsüber zum Río Humea herunter. Mein Onkel und Horatio, sein Chauffeur, erklärten mir dann flüsternd von der terraza grande aus, welcher Artenfamilie sie angehörten, ob sie gefährlich waren und wie ich mich verhalten sollte, wenn ich ihnen im Floresta Negra begegnete: Ein Wald, der sich weit die Anden hinaufzog, bis er vom ewigen Schnee abgelöst wurde. Wir nannten ihn so, weil die Bäume sehr dicht beieinander standen und hoch in den Himmel hinauf wuchsen. Und auch, weil der Wald am Tage düster und bedrohlich wirkte, vor allem auf uns Kinder! Weit im Süden verschmolz er mit dem Amazonasbecken, einer geheimnisvollen Landschaft aus dichten, tropischen Hölzern, vielen Flüssen, und Tieren, deren Namen ich nicht aussprechen konnte.

      Die Erwachsenen betrachteten den Floresta Negra als Geschenk des Himmels. Denn einige Jahre zuvor wurden etwa drei Kilometer oberhalb des Dorfes beachtliche Smaragdvorkommen entdeckt, die den bis zu diesem Tag armen Bauern und einfachen Arbeitern erlaubten, sich fortan ein ruhigeres und besseres Leben zu gönnen. Das ging gut, bis zu den vorjährigen Präsidentschaftswahlen, dessen schändliche Folgen am Tag meines Geburtstages mich und die Leute unseres wunderbaren Tales erreichten, wie auch ein Tropensturm es im Sommer oft tat. Jeder wusste, dass er irgendwann kommt, aber niemand konnte vorhersagen, wann oder aus welcher Richtung er das Chaos mit sich bringen würde!

      Die Truppen von Präsident Mariano Ospina Pèrez drangen mit Panzern und Artilleriegeschützen im Schutze des uns umgebenden Floresta Negra und der vorangegangenen Nacht zu uns vor. Sie erschienen mit den wilden Tieren, folgten leise ihren Spuren, bis hin zu unseren Dörfern. Pèrez’ Soldaten schlugen erst nach Mittag zu, in jener Stunde, die allgemein als siesta bekannt war. In der die meisten Bewohner Kolumbiens, ja in ganz Lateinamerika, ein Nickerchen zu tun pflegten.

      Mein Onkel, Salvatore de la Sourca, war ein schlanker Mann mittlerer Größe und Großgrundbesitzer der vierten Generation. Er baute in der unteren Tiefebene traditionell Guadua-Bambus an, wie Novogratense in der oberen Tiefebene. Um genau zu sein, gehörte ihm Nuevo Alumbrado samt umliegendem Gebiet – eine Fläche von mehr als tausendfünfhundert Hektar Land: Also auch ein beachtlicher Teil des Floresta Negra unter- und oberhalb des Dorfes, in dem sich die Militärs von Pèrez für den Angriff wappneten!

      Sie ahnen sicher, dass nichts auf seinem Land geschehen konnte, ohne dass er davon Wind bekam – auch nicht die heimliche Aufstellung von Soldaten einer subversiven Regierung, die den fast wichtigsten Stützpfeiler der kolumbianischen Gesellschaft mit Gewalt zu verdrängen suchte: nämlich die für das gemeine Volk so wichtige katholische Kirche.

      Der einfache Diener Gottes unseres Dorfes war empört und außer sich über die unwürdigen Maßnahmen der Regierung, weswegen er an diesem Tag in der Kapelle blieb und betete. Salvatores Hacienda, seine Plantagen und Minen wurden seit knapp einem Jahr von mehreren privat organisierten paramilitärischen Milizen gesichert. Ebenso beschützten sie die Bewohner des Dorfes, sofern diese ihr Schutzgeld pünktlich an meinen Onkel entrichteten.

      Wir hatten uns an dem Tag alle auf der terraza grande von Onkel Salvatores Hacienda (von wo aus er mir sonst immer mit Horatio zusammen die wilden Tiere erklärte) versammelt. Ich packte voller Freude meine Geschenke aus. Die Hacienda, die er bewohnte, hätte für das halbe Dorf gereicht, aber er lebte nur mit Salma, meiner Tante, und ihrem gemeinsamen Sohn Chevaron dort – ein eingebildeter Junge, der mich meistens hänselte.

      Es war kurz vor Mittag, die Sonne kroch unaufhörlich gen Zenit zu. Die Luft war feucht; es roch nach Tang vom nahen Fluss. Ein leichter Wind umgarnte die Tiefebene, brachte aber nicht die gewünschte Abkühlung mit, nur den schweren Geruch des Tangs. Ein von meinem Onkel zusammengestelltes Orchester aus dem fernen Medellín spielte leise auf der tags zuvor frisch gemähten Wiese die zeitlosen Kompositionen zu Verdis `La Traviata` – Sempre Libera.

      Während ich neugierig das Geschenk von Horatio auspackte, guckten mir alle geladenen Gäste lachend zu. Sie waren heute zum Scherzen aufgelegt und nahmen sich gegenseitig hoch.

      „He, Luis!“, rief Horatio dem el gigante con solo un brazo, wie der einarmige Riese oft von seinen sogenannten Freunden betitelt wurde, zu.

      Luis drehte seinen Kopf und blickte zu ihm herüber.

      Horatio war aufgestanden und stellte sich grinsend hinter die dicke Haushälterin. Er ließ seine Hüften im Takt zu Maria Callas’ hoher Stimme vor- und zurückschwenken.

      Luis und die anderen Männer johlten auf und feuerten ihn lautstark an, „si, hombre!“, als die Haushälterin sich plötzlich umdrehte und Horatio eine scheuerte.

      „Caramba, pórtate bien, Horatio!“

      Die Männer krümmten sich vor Lachen und mahnten ihn: „Hast du gehört, Horatio, benimm dich!“

      Dieser winkte ab und meinte nur: „Ja, ja …, man darf doch noch seinen Spaß haben oder?“, und sein Grinsen verschwand zunehmend aus seinem vollen Gesicht. Seine tiefliegenden Augen schielten einige Male unsicher zum Patron herüber.

      Der lehnte lässig an der Balustrade und lachte wie die anderen.

      Horatio schüttelte darauf seinen Kopf und gab der Haushälterin, die abermals an ihm vorbeiging, einen Klaps auf den Hintern, wofür er noch mal eine kassierte.

      „Ich warne dich, Horatio!“, knurrte sie mit funkelnden Augen und einem spitzbübischen Schmunzeln. „Sonst sag ich deiner Frau, dass du deine Hände nicht bei dir lassen kannst und sie dich gefälligst an die Leine nehmen soll!“

      Die anderen grölten lauthals, während sie Horatio stirnrunzelnd anstarrte. „Oder lässt sie dich jetzt schon nicht mehr ran, mmmhh?“, fragte sie darauf schnippisch und stemmte ihre Fäuste in die Hüften. „Warum?“, wollte sie weiter wissen. „Wäschst du dich nicht oft genug?“

      Luis krümmte sich auf seinem Stuhl und gab glucksende Töne von sich.

      „Das … das“, stotterte Horatio verlegen, „geht dich nichts an! Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Sache!“

      „Mein Hintern ist meine Sache!“, fauchte sie und ließ ihn stehen.

      „Ja, ja, … lacht nur, ihr …“, maulte Horatio, während er sich zu seinem Platz begab und sich niedergeschlagen auf den Holzstuhl plumpsen ließ und „bin auch nur ein Mann!“ murmelte.

      Luis neben ihm hatte vor Lachen Tränen in den Augen und schüttelte immer wieder zuckend