Oliver Trend

Gebrochenes Schweigen


Скачать книгу

Kopf. Dabei versuchte ich, mich zu drehen, um von dem stinkenden Mann wegzukommen. Aber ich schaffte es nicht, zumindest nicht so! Getrieben durch die tief sitzende Angst, biss ich so fest ich konnte mit meinen Zähnen zu! Presste sie so heftig aufeinander, bis es schrecklich knirschte und mein Mundraum nass und warm wurde.

      Der Soldat ließ augenblicklich von mir ab und drückte sich vor Schmerz stöhnend die Lippen zusammen. Doch die Anstrengung war umsonst! Blut quoll ihm aus den vibrierenden Mundwinkeln, ohne dass er es verhindern konnte. Er torkelte im Schein des brennenden Dorfes in seiner Qual nach hinten und versuchte, das quellende Blut hinunterzuschlucken. Aber es schien ihm das Leben nicht zu retten, da er nach einigen Sekunden Blut aus der Nase pustete, worauf er unkontrolliert hustete. Er spuckte einen Schwall Blut nach mir und sackte vor Pein schwer stöhnend auf den Waldboden. Der Mann wollte wieder husten, was ihm diesmal nicht richtig gelang. Ich vermute, weil er den kümmerlichen Rest seiner Zunge heruntergeschluckt hatte. Er zitterte am ganzen Leib, während seine rechte Hand nach der Waffe im ledernen Halfter tastete. Seine dunklen Augen starrten mich an, als wäre ich ein Waldteufel. Schweiß perlte ihm von der Stirn, ich konnte es deutlich im flackernden Schein des Feuers erkennen.

      Ich sah voller Furcht zu ihm hoch, ohne dass ich es fertig brachte, zu schreien. So spuckte ich, ohne es zu wollen, die Spitze seiner weichen Zunge aus dem Mund. Dabei beobachtete ich, wie er den Halfter, in dem seine Dienstwaffe steckte, fand.

      Er zog die Waffe mit einem Ruck heraus und zielte auf mich, doch die Luft, die er dafür brauchte, reichte nicht mehr aus! Er zuckte plötzlich wild und unwillkürlich, schmiss die Waffe im wahrsten Sinne des Wortes weg; fasste sich panisch an die Kehle und grunzte eigenartig, während sein Mund weit offen stand. Blut quoll dunkel glitzernd aus seinem krampfhaft aufgesperrten Maul und aus seinen Nasenlöchern. Er glotzte mich aus aufgerissenen Augen an, ehe er nach hinten stürzte und elendig krepierte.

      Ich fixierte gebannt den sich in der Agonie windenden Soldaten, bis zum letzten Zucken. Mir schossen unzählige Gedanken durch den Kopf, denn wir Mädchen wurden dahin erzogen, immer zu helfen, dem Mann zu Diensten zu sein; eigentlich selbst dann, wenn wir verprügelt oder entehrt würden. Aber ich half ihm nicht, konnte es nicht! Ich hockte im Morast und wartete starr darauf, bis ich sicher war, dass er tot war. Daraufhin versuchte ich, vorsichtig aufzustehen, ohne meinen Blick vom toten Soldaten wenden zu können. In meinem Unterleib brannte es wie Feuer, ohne dass ich darauf reagierte. Zu groß war die Verwirrung über das Geschehen, die Gewalt und die Angst, dass noch ein Soldat auftauchen würde.

      Als ich es endlich nach einiger Anstrengung schaffte, mich zu erheben und die Ameisen das Blut des Soldaten von meinem Gesicht gewischt hatten, hörte ich die Stimmen weiterer Männer. Die Kraft kehrte mit einem surrenden Gefühl in meine Beine zurück; ich wollte in Panik wegrennen, irgendwo hin, einfach weg von hier.

      Da packte mich eine kräftige Hand am Schopf, sodass ich laut aufkreischte und endlich ungehemmt schreien konnte. „Hier geblieben Kleine!“, donnerte eine harte, befehlsgewohnte Männerstimme von hinten, woraufhin ich mitten in der Bewegung erstarrte.

      In diesem Moment vergaß ich, weiter um Hilfe zu schreien.

      Der Soldat drehte mich grob um und studierte mein blutverschmiertes Gesicht, blickte hin und wieder zum toten Soldaten am Boden. „Mmmhh“, brummte er mit verdrießlicher Miene. Er blickte auch zu den anderen toten Kindern, und seine Stirn wurde daraufhin von tiefen Furchen durchzogen.

      „War er das?“, fragte er in die Richtung der leblosen Körper. Als ich nicht antwortete, nur gebannt in sein kantiges Gesicht starrte, drehte er seinen Kopf zu mir und guckte mich prüfend an. Sein Griff lockerte sich leicht; der stechende Schmerz, der dadurch erzeugt wurde, ließ nach.

      Derweil traten weitere Soldaten zu ihm, die mich eingehend musterten, nachdem sie entdeckten, was ich mit ihrem colega de puta getan hatte, beziehungsweise er sich selbst angetan hatte.

      „Wir nehmen sie mit!“, befahl der Mann, der mich am Schopf festhielt.

      „Zu Befehl, General Morillias!“

      „Und das ihr nichts geschieht, klar!“, der General drehte sich auf dem knackenden Ästen zu seinen Männern um und blickte sie streng einer nach dem anderen an: „Ihr haftet persönlich für ihre Sicherheit, verstanden!“

      „Ja, General, wir haben verstanden!“, klang es synchron in die Nacht hinein, die lediglich vom Knistern des nahen Feuers gestört wurde.

      All die Tiere, die sonst um diese Jahreszeit hierher kamen, schienen vom Erdboden verschluckt. Die vorangegangenen Schießereien und das schreckliche Feuer hatten sie vertrieben.

      „Mit eurem Kopf!“, fügte der General kalt und emotionslos hinzu und brach diese eigenartige Atmosphäre für einen Moment.

      Als ich trotz der oberflächlichen Gewissheit, diese Nacht unbeschadet zu überleben, laut heulte, streckte mich einer der Soldaten kurzerhand mit dem Gewehrkolben nieder. Ich hörte noch das hohle Klacken des wuchtigen Aufschlages, ehe ich in einer wirren Welt versank, in der ich schon zuvor gewesen war. Hernach luden mich die Soldaten auf einen Militärjeep und brachten mich in ein höher gelegenes Kloster, welches schon seit Jahrhunderten friedlich da oben existierte.

      Die Iglesia del Cielo, welche anno 1534 von Felipè Melidas gegründet wurde, thronte an der oberen Grenze des Floresta Negra; mehr als tausenddreihundert Meter höher, als Nuevo Alumbrado und mindestens siebzig Kilometer weiter nördlich. Sie befand sich mitten in den Anden, weit südwestlich von den Grenzen zu Panama, gut versteckt auf einem Hochplateau zwischen zerklüfteten Steilhängen und hohen Nadelhölzern. Ich wusste es, weil ich einmal mit meinen Eltern hier gewesen war und wir mehrere Nächte hier oben verbringen durften.

      Die etwas mehr als vierzig Klosterfrauen lebten von allem zurückgezogen, bevor Morillias Truppen auftauchten. Sie existierten ganz bescheiden, ohne die übrige Welt für ihre Errungenschaften zu beneiden. Ihre Töpfe, Krüge, Betten, einfach alles stammte noch aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, und sie dankten jeden Tag Gott dafür. Sie bewirtschafteten Gärten, die genügend Knollengewächse, Gemüse und Früchte hergaben, damit sich der Orden davon ernähren konnte. Ganz nach den Grundsätzen, welche einst vom großen Konquistador Melidas erdacht wurden. Zumindest taten sie das, bevor die Soldaten vom General den Befehl erhielten, hier einzukehren.

      Das Militär brachte zahlreiche Geschütze, Gewehre und dutzende Kisten Munition hierher und verwandelte das alte Kloster in eine kaum einzunehmende Festung.

      „Die Brigado Libertad de Credibilidad, die noch ein entscheidendes Kapitel in Kolumbiens Geschichte einnehmen könnte; für die zahlreichen Rebellen und noch zahlreicheren paramilitärischen Milizen nur schwer anzugreifen und für die kommende Zeit des Blutes mehr als nur angemessen ist!“, so der General bei einer seiner leidenschaftlichen Reden in Santafè Bogotha vor den sogenannten Cámara de representante, fünf Tage, bevor der Bürgerkrieg die Freiheit der Menschen dieses wunderbaren Landes in Asche verwandelte.

      Ich erwachte in einem kleinen Zimmer. Das Erste, was ich erblickte, war eine ältere Nonne, die an meinem Bett saß und mir meine Stirn mit einem feuchten Tuch abtupfte. Sie erweckte in mir den Eindruck, als wäre sie die ehrwürdige Mutter persönlich. Ihr Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen, ihre dunklen Augen blickten ernst. Heute würde ich sagen, die Ordensschwester umgab eine Aura der Reinheit, als hätte Gott selbst seine schützende Hand über sie gelegt. Als sie bemerkte, dass ich wieder unter den Lebenden weilte, erhob sie sich leise und verließ, ohne ein Wort an mich zu richten, mit lautlosen Schritten das Zimmer.

      Ich vermochte es nicht, ihr mit meinen Augen zu folgen. Meine ganze linke Schädelseite brannte, wie ein eben entfachtes Feuer. Es pochte schmerzlich; ich wusste nicht, warum! Dennoch versuchte ich, mich zu erheben, als ich hörte, wie die Tür verriegelt wurde. Aber die Kraft reichte dafür nicht aus, ich sank nach einigen vergeblichen Versuchen zurück ins weiche Bett.

      Draußen zwitscherten Vögel, in weiter Ferne meinte ich, einen Affen brüllen zu hören oder vielleicht doch eher einen Puma, oder beides? Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen, war verwirrt und erschöpft. Ich schloss meine brennenden Augen und lauschte den vertrauten Klängen der Natur und döste weg. Verwickelte mich