Oliver Trend

Gebrochenes Schweigen


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Faretti! Das übliche Zimmer wurde bereits für Sie hergerichtet. Danke, dass Sie so schnell gekommen sind!“, lächelt sie matt.

      „Keine Ursache!“, er erhebt sich langsam, verneigt sich knapp, aber höflich vor ihr. „Señora“, verabschiedet er sich mit dünner Stimme und verlässt mit leisen Schritten die Räumlichkeit.

      Hinter sich schließt er sorgsam die schwere Holztür.

      Sofía blickt ihm in Gedanken nach und fährt sich mit der Hand über das Feuermahl: Ich hoffe, du hast deinen Frieden gefunden, Mutter! Das wünsche ich mir von ganzem Herzen. Auch, wenn du mich nicht, wie du wahrscheinlich erwartest, auf der anderen Seite wiedersehen wirst! Vielleicht hätte ich nach dir suchen sollen, vielleicht auch nicht! Fakt ist nun mal, dass ich es nicht getan habe! Eine Stimme tief in ihr flüstert ihr kaum verständlich zu: Du hast eine Tochter, die du suchen kannst!

      „Carmen“, murmelt sie in sich hinein.

      In der gegenüberliegenden Ecke, die vom spärlichen Licht nicht beleuchtet wird, raschelt es plötzlich. Das reißt sie aus ihren Gedanken.

      „Glaubst du ihm?“, will eine zittrige männliche Stimme aus dem Hintergrund wissen.

      Sofía entgegnet, ohne sich umzudrehen. „Ja, das tue ich, Señor Melidas.“

      „Du weißt, warum das Amulett so wichtig für La Fraternitis ist … für mich!“ Der eher kleine, schmächtige Mann mit polierter Glatze schlurft nicht mehr ganz so sicher auf den Beinen ins schwache Licht der Tischlampe. Er ist in eine Art saphirblaue Kutte gehüllt mit goldenen Verzierungen an den Ärmelenden. Seine Bekleidung schürt den Eindruck, er stamme aus einer anderen Zeit, ja gar aus einer anderen Welt.

      „Ich möchte, dass Faretti herausfindet, wo es jetzt ist und es mir bringt. Er soll in Berlin mit der Suche beginnen.“ Er legt eine Hand auf die angenehm warme Schulter von Sofía und räuspert sich, während er mit seinen tiefgrünen Augen in den Bildschirm starrt.

      Sie verbirgt es vor mir, ihre Trauer um ihre Mutter, die sie meinetwegen nie kennengelernt hat! Eine Erinnerung blitzt in ihm auf, an die Zeit, als er ihrer Mutter an ihrem neunten Geburtstag im Floresta Negro begegnete. Ob sie die Wahrheit ahnt? Leider muss ich meine Fassade um jeden Preis aufrechterhalten. Sie wird es verstehen, wenn es soweit ist! Ich habe sie nicht umsonst die letzten Jahrzehnte behutsam in die Geheimnisse der Loge eingeweiht! Früher oder später wird sie über ihren Verlust hinwegkommen!

      „Soll er sich nicht erst etwas von den vorangegangenen Strapazen erholen, Señor?“, erwidert sie zögerlich.

      Strapazen! Jetzt geht es in die vorletzte Runde! Seine Augen blitzen dabei auf, und seine weißen Brauen ziehen sich zusammen, während er schmatzend erwidert: „Nein, er ist hart im Nehmen, er wird es überleben! Außerdem brauchen wir zurzeit jeden Mann und jede Frau. Alle müssen sie nach dem Amulett suchen. Ausnahmslos!“ Er strafft seine Schultern, so gut er das in seinem hohen Alter noch vermag. Darauf knackt es mehrfach.

      „Mhm“, schmatzt er nachdenklich, „du bereust es, deine Mutter nie kennengelernt zu haben, nicht wahr?“, orakelt er.

      Sie nickt aufrichtig: „Ja, das tue ich!“

      Einen Augenblick Schweigen, nur das schwere Atmen des alten Mannes ist zu hören.

      Wenn ich dir nun sagen würde, erklären, dass ich dich darauf vorbereitet habe … Er schüttelt kaum merklich seinen Kopf. Nein, das würde meine ganze Arbeit mit dir zunichtemachen! Zudem würde ich wohl in arge Erklärungsnot geraten, fürchte ich!

      „In Ordnung, ich will dich nicht länger von deiner Arbeit abhalten.“ Er nimmt seine Hand von ihrer Schulter, dreht sich um und schlurft mit unsicherem Schritt in die gegenüberliegende Ecke zurück.

      „Wie lange noch, Señor Melidas?“, unterbricht ihre klare Stimme das schleifende Geräusch. „Wie lange, denken Sie, werden Sie ohne die Kraft des Amuletts leben können?“

      Der Mann dreht sich langsam, schon fast bedächtig um und lächelt gepresst, „höchstens zwei Wochen, mein Kind, allerhöchstens!“

      Und dann bist du am Zug … Du weißt es nur noch nicht! Ein kaum wahrnehmbares Lächeln umspielt seine spröden Lippen.

      „Wir finden es, da bin ich mir sicher!“ Hört er ihre Stimme durch seine dicht verwebten Gedanken hindurch. Er schaut unter gesenkten Lidern zu ihr herüber, dann verlässt er, ohne zu antworten, das Gewölbe.

      Sofía blickt ihm müde nach. Manchmal habe ich den Eindruck, er will gar nicht, dass wir es finden! Sie gähnt und streckt ihre Arme nach oben. Wenn ich schon so viel gesehen und erlebt hätte … so viele Gräueltaten, ich weiß nicht, ob ich da noch leben würde wollen! Ihr Blick fällt auf den Bildschirm. Sie kehrt in Gedanken zu ihrer verstorbenen Mutter zurück.

      Später. Sofía hockt noch immer an ihrem Schreibtisch. Sie durchforstet das Internet nach Berichten über den Tod ihrer Mutter, hofft, dadurch etwas mehr Gewissheit zu erlangen.

       Als ob das die verlorenen Jahre wieder gut machen würde! Ungeschehen macht, dass ich mich feige verkrochen habe!

      Viel entdeckt sie allerdings nicht darüber, da sich der Unfall erst vor Stunden ereignete. Sie lehnt sich erschöpft zurück und gähnt laut. Morgen finde ich wahrscheinlich mehr darüber! Ich sollte mich etwas hinlegen, statt mir eine Gewissheit zu beschaffen, die in Wahrheit gar nichts zu bedeuten hat. Ich habe es verpatzt, damit muss ich leben! Ein wenig Schlaf wird mir sicher gut tun. Sofern ich schlafen kann … So viele Dinge geschehen im Augenblick, und ich habe Angst, dass mir etwas entgeht, das wichtig ist! Sie schürzt überlegend die Lippen. Aber jetzt sollte ich mich dringend etwas ausruhen! Müde und erschöpft nütze ich niemanden!

      Gerade als sie sich erheben will, klopft es hohl an der Tür.

      Sie sinkt sogleich wieder in ihren warmen Sessel zurück. Es sollte wohl nicht sein! Ein Gähnen entfährt ihr, dass ihre Kiefer knacken. „Ja, herein.“

      Die Tür öffnet sich: Faretti streckt seinen Kopf hinein, der im Schein der Tischlampe ebenso verbissen wirkt, wie schon beim letzten Zusammentreffen.

      Vermutlich die Schmerzen! Überlegt sie und schiebt den Gedanken beiseite.

      „Señora Sofía? Störe ich Sie gerade bei der Arbeit?“, erkundigt er sich mit leicht bebender Stimme.

      „Nein, schon gut, kommen Sie ruhig herein!“ Dabei kann sie ein weiteres Gähnen nicht unterdrücken und hält sich die Hand vor den Mund.

      Er tritt etwas unsicher an den Tisch heran und räuspert sich.

      „Nun, ich wollte Sie fragen, ob Sie morgen mit mir zusammen frühstücken wollen? Selbstverständlich lade ich Sie ein …, wie gefällt es Ihnen im Restaurant Villa María nicht weit von hier?“

      „Señor Faretti, ich …, es tut mir leid, aber ich treffe mich nicht mit Angestellten der Loge, außer es bezieht sich auf die Arbeit.“ Ihr Blick verharrt regungslos auf ihm.

      Faretti schüttelt sachte den Kopf, „entschuldigen Sie, Señora, ich habe mich ungeschickt ausgedrückt“, lächelt er erzwungen leutselig. „Ich dachte mir, dass Sie vielleicht über Ihre Mutter sprechen möchten“, er zuckt unbedacht mit den Schultern, was seine Linke gleich mit einem stechenden Schmerz quittiert. Er fährt mit verkrampftem Gesichtsausdruck zusammen. Dabei lässt er unauffällig ein zusammengeknülltes Stück Papier vor ihren Schreibtisch fallen.

      Sofía sitzt da, ihre Müdigkeit ist wie weggeblasen, und einen Moment sieht sie irritiert zu Faretti. Erst, als er sich an die linke Schulter fasst, begreift sie. Sie schießt hoch und macht einen Satz um den Tisch. Das Papier zu ihren Füßen bemerkt sie nicht.

      „Geht es? Kann ich etwas für Sie tun?“, erkundigt sie sich warmherzig und legt Faretti ihre Hand auf die Schulter.

      „Nein, aaahh …, nein, danke, es geht schon wieder“, presst er schnaubend hervor.