Oliver Trend

Gebrochenes Schweigen


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sich an die Tischkante anlehnt, „gibt es da bereits einen neuen Auftrag für Sie … Sie müssen morgen früh nach Berlin reisen!“, sie beißt sich auf die Unterlippe und kraust die Stirn. „Es tut mir leid! Leider können wir uns im Moment keine Aufschübe leisten, Sie wissen das, Señor Faretti. Wir brauchen dieses Amulett …, dringend!“

      Faretti nickt konsterniert, „verstehe! Na, dann später, kein Problem! Geben Sie mir Bescheid, wenn Ihnen danach ist!“ Sein Blick wandert gedankenabwesend an ihr herab und bleibt beim zusammengeknüllten Papier wenige Zentimeter von ihrem linken Schuh hängen, während er sich am Hinterkopf kratzt.

      „Entschuldigen Sie die Störung, Señora.“ Er dreht sich zu Tür um. „Gute Nacht, schlafen Sie gut!“, er verlässt ohne ein weiteres Wort ihr Büro.

      „Gute Nacht!“, erwidert Sofía und schaut ihm mit einem flauen Gefühl im Magen nach. Die Müdigkeit lullt sie wieder ein, während sie noch immer auf die geschlossene Tür starrt.

      Nicht weit von Sofías Büro entfernt. Melidas sitzt in einem kleinen, dunklen Raum, dessen Wände mit flimmernden Bildschirmen tapeziert sind. Es gibt kein einziges Fenster, insofern verwundert es nicht, dass es stickig hier drinnen ist. Aber das nimmt der Alte kaum wahr und wenn, würde es ihn vermutlich nicht interessieren. Er starrt gebannt auf einen der Bildschirme, auf dem flackernd Sofía zu erkennen ist, wie sie an ihrem Schreibtisch hockt und im Begriff ist, einzunicken. Leider konnte er das Gespräch zwischen ihr und Faretti eben nicht mithören, lediglich visuell verfolgen.

      Das macht nichts, ihre Gestiken haben mir schon genug verraten! Er schüttelt energisch seinen Kopf. Soweit kommt es noch, dass sich meine sorgfältig vorbereitete Raupe mit einer niederen Kanalratte zusammentut!

      „Es wird offensichtlich Zeit, um zu handeln!“ Er erhebt sich behäbig und keuchend aus dem Stuhl, schaut noch einmal schmatzend zu den still flimmernden Bildschirmen und verlässt den kleinen Raum.

      Faretti ist auf dem Weg in sein Quartier, während er in Gedanken versunken ist. Bis jetzt klappt alles soweit, wie geplant. Bleibt zu hoffen, dass es Señora Sofía auch findet … am besten erst nachdem ich bereits abgereist bin. Es verhindert Missverständnisse, und dass der Alte davon Wind bekommt! Er bleibt stehen, fährt sich mit der Rechten vorsichtig über die linke Schulter. Er denkt an den Inhalt, der nur aus Zahlen, sogenannten Binärcodes, besteht. Ich habe ihn so kurz wie nur möglich gehalten. Ich weiß, dass sie sich gelegentlich damit beschäftigt. Sie sollte nicht lange brauchen, um ihn zu decodieren. Er setzt sich wieder in Bewegung, lenkt seine Aufmerksamkeit auf die gegebene Situation; er analysiert sie zum wiederholten Mal. Er prüft, wie seit Venezuela öfters, alle ihm zur Verfügung stehenden Optionen. So wie ich den Alten kenne, ist er nicht begeistert von meinem Versagen. Ein tiefer Seufzer entfährt ihm. Er betritt sein Quartier nicht weit von Sofías Büro. Der Alte möchte jeden kontrollieren. Es steht also außer Frage, dass er alles mit vollem Bewusstsein tut.

      Ihm ist schon lange klar, dass der Alte nicht mit offenen Karten spielt, spätestens aber, seit der Sache mit Señora Vélez. Ich kann bis heute nicht verstehen, was in sie gefahren ist? Ich war noch beinahe zwei Meter von ihr entfernt, als der Fensterrahmen unter dem Druck nachgab! Er schüttelt sachte den Kopf, „ich verstehe es nicht! Sie muss mit ihrem ganzen Gewicht daran gelehnt haben! Noch nie zuvor hat ein Mensch solche Angst vor mir gehabt!“

      Ob es der Alte wusste? Aber wie sollte er das machen? Wie könnte er gewusst haben, dass sie so auf mich reagiert? Er ist erschöpft vom Flug von Venezuela hierher, ihn quälen pochende Schmerzen in der linken Schulter.

       Soweit ich hörte, sitzt Carmen seither im Rollstuhl.

      Er legt seine Geldbörse auf das Nachttischchen und schlüpft umständlich aus seinen Kleidern.

      Auch wenn ich nur für den Alten arbeite und selbst nicht zur Loge gehöre, kann ich deutlich spüren, dass hier etwas nicht stimmt … Mit dem Alten! Er kratzt sich nachdenklich den Nasenrücken. Er verfolgt ein Ziel, das er vor allen geheim hält, da wette ich drauf. Über das Weswegen kann ich allerdings lediglich spekulieren. Was ich aber mit Sicherheit weiß, ist, dass ich ein Teil seines Planes bin! Und diese Tatsache gefällt mir ganz und gar nicht! Etwas in mir sagt mir, dass er mich dabei über die Klinge springen lässt! Er streicht sich mit der rechten Hand über die Stirn.

      „Leider hilft mir das alles nicht weiter. Ich habe mich in Venezuela von einem Impuls hinreißen lassen und gegen die direkten Befehle des Alten verstoßen. Jetzt muss ich zusehen, dass ich bei der nächsten Möglichkeit, die sich mir bietet, von der Bildfläche verschwinde.“

      Bilder, wie er der alten Ortiz seine Waffe an die Nase hält, blitzen in seinem Geist auf. Das Amulett in ihrer Bluse … Bilder, die er sofort verdrängt. Trotzdem bin ich ein Idiot! Rügt er sich, nicht lange, und ich muss beim Alten antraben und dafür geradestehen …, erklären, weshalb ich sie nicht getötet habe! Warum ich mich stattdessen anschießen ließ! Ich hoffe nur, dass er mir meine Geschichte abkauft! Ihm wird bei dem Gedanken speiübel. Die Kälte ignorierend, tappt er barfuß über die Steinplatten ins Bad und putzt sich die Zähne. Wieder spürt er tief in sich die Trauer, die mit seinem Entschluss, abzuhauen, einhergeht.

      Als er fertig ist, setzt er sich seufzend auf den Bettrand und fährt sich mit der rechten Hand durch das Haar.

      Ich brauche ein Zeitfenster von einigen Stunden, wo mich niemand vermisst, oder gar sucht. Dessen ungeachtet wäre es mir lieb, Señora Sofía findet das Papier, interpretiert es richtig und greift zum Hörer und ruft mich an. Jetzt hört es sich auf einmal dämlich an; er kraust die Stirn und legt sich steif aufs Bett.

      Ich hätte verschwinden sollen, solange noch Zeit dafür war! Mit diesem Gedanken deckt er sich halbwegs zu. Mir ist verdammt noch mal nicht mehr wohl in meiner Haut! Fühle mich geblendet, missbraucht! Den einzigen Ausweg, den ich noch sehe, ist … abzuhauen, wie ein kleiner Feigling! Wenn ich Pech habe, sitzt der Alte plötzlich vor mir, wenn ich die Augen aufmache! Er hat schon immer wenig von meiner Privatsphäre gehalten. Mit diesen Gedanken döst er weg, fällt nach und nach in einen unruhigen Schlaf.

      Plötzlich fühlt Faretti sich beobachtet und öffnet blinzelnd seine schweren Lider. Leicht verschwommen, erkennt er den Patron des Hauses – den Alten, der seinen schrumpeligen Körper in ein smaragdgrünes Gewand gehüllt hat. Er riecht seine Ausdünstung, der Geruch vom nahenden Tod.

      „Ich habe noch keinen Bericht von La Fraternitis in Venezuela erhalten“, spricht er mit zittriger Stimme, seinen lauernden Blick auf Faretti gerichtet. „Erklären Sie mir bitte, weshalb Sie versagt haben?“

      Faretti setzt sich kerzengerade hin und streckt sich knackend.

       Und schon muss ich geradestehen!

      „Können Sie nicht anklopfen?“

      „Nein, und jetzt antworten Sie mir!“

      „Weshalb haben Sie mir vorenthalten, dass es sich dabei um die Mutter von Sofía handelt?“, forscht er mit bebender Stimme, „warum sollte ich sie töten? Ich habe zuvor noch niemals für Sie getötet. Ich bin kein Mörder, Señor Melidas, und das wissen Sie genau!“

      Ein maliziöses Grinsen zeichnet sich im faltigen Gesicht des Alten ab, das gleich wieder verschwindet. „Sie werden dafür bezahlt, zu tun, was ich Ihnen auftrage, nicht zu hinterfragen, warum ich wem was nicht mitteile, Señor Faretti. Oder warum ich Ihnen einen Auftrag erteile, oder eben nicht! Auch nicht, wenn er sich scheinbar gegen Mitglieder oder Angestellte von La Fraternitis richtet!“

      „Wenn Sie aus mir einen Mörder zu machen versuchen, dann denke ich, habe ich durchaus das Recht, zu hinterfragen!“, opponiert Faretti aufgebracht. „Weiß Señora Sofía davon? Weiß sie, dass Sie dabei sind, hinter ihrem Rücken ihre Familie auszumerzen?“

      Die grünen Augen des Alten blitzen unter gesenkten Lidern unheilverkündend auf. „Sie haben keine Rechte, Señor, wirklich keine, nur Pflichten mir gegenüber“, schüttelt er den Kopf, ohne auf Farettis letzten