Oliver Trend

Gebrochenes Schweigen


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nicht mehr getrennt. Dort, wo eben noch ein Gefecht stattfand, lagen jetzt nur noch Tote!

      In meiner Panik wollte ich zur nahen Treppe zurückkriechen, die weiter nach unten führte. Dahin, wo sich hoffentlich Lucia und ihre verbliebenen Schwestern aufhielten. Meine Knie schmerzten vom vorangegangenen Sturz, bei jeder Bewegung auf dem knirschenden Sand, die ich tat. Ich drückte mich weinend an den blutüberströmten Soldaten vorbei, ohne sie anzusehen. Es rieselte jetzt eine Unmenge Staub auf mich hernieder. Dazwischen einzelne Mauerstücke, von denen manche die Größe einer Faust wie meine hatten. Als ich endlich nahe genug an der Treppe war, sprang ich auf und rannte. Meine Knie wollten nicht, doch meine Angst – die Angst, hier drin begraben zu werden – war in jenem Moment eindeutig stärker.

      Wieder donnerten Gewehrsalven ins Gewölbe; ich fühlte, wie etwas Schreckliches passieren würde. Aus mehreren Richtungen hallten ratternde Maschinengewehrsalven an meine Ohren. Die Schwestern! Dachte ich panisch und hastete die Treppe hinab. Von unten her drangen laute Gewehrschüsse zu mir hoch, verzweifelte Schreie und wieder Schüsse, als Lucia und Schwester Maselda die Treppe hinaufhetzten.

      Lucia bedeutete mir in Panik, ich solle still sein. Ihre Augen, die aus einem schmutzigen Gesicht starrten, entblößten mir dabei das nackte Grauen.

      Ich nickte verstört, während ich mich eilig umdrehte, um mit ihnen wieder nach oben zu flüchten.

      Wieder hallende Schüsse im Untergeschoss, dieses Mal ohne Schreie; wir wussten, die da unten, wer auch immer die armen Teufel waren, hatten das Leben hinter sich gebracht!

      Ich wimmerte, ohne es zu wollen, in mich hinein, konnte einfach nicht damit aufhören. Wollte, dass es wieder so wurde, wie es vor meinem schrecklichen neunten Geburtstag war! Wir hörten, wie Soldatenstiefel über und unter uns über die steinigen Böden stapften.

      Plötzlich blieb Lucia auf dem zwischendurch bebenden Treppenlauf stehen. Sie packte mich am Schopf. „Hier rein!“, schnaubte sie außer Atem. Ihre Augen blitzten dabei unheilvoll auf, ich ahnte, dass sie keinen Widerspruch duldete.

      Staub und feine Gesteinsbrocken, die sich unentwegt von der Decke lösten, rieselten auf uns hernieder.

      Maselda drückte schwer atmend einen bestimmten Stein an der linken Wand, der sichtlich keine besonderen Merkmale aufwies, in das Mauerwerk hinein. Der Stein glitt mühelos und mit einem leisen Kratzen zurück.

      Beinahe im selben Moment öffnete sich gegenüber eine Luke, Lucia drückte sich schnell durch, dann ich und zuletzt Maselda. Ehe die Soldaten die Stelle auf der Treppe erreichten, schloss sich die Luke, als hätte es sie nie gegeben. Da erzitterte die ganze Festung in ihren Grundmauern, gefolgt von einem mächtigen Krachen und nachfolgenden Grollen, als würden die Anden selbst erwachen. Wir krochen indessen durch einen engen schachtähnlichen Gang, der uns nach oben zu führen schien, als die Decke über uns einzustürzen drohte.

      „Bastardos, no me gusta nada!“, schimpfte Maselda in den Lärm hinein, „banditos del Diablo!“, als sie grob von Schwester Lucia unterbrochen wurde, die abrupt stoppte und nach hinten, „sei still Maselda, um Gottes Willen, sei still!“, fauchte.

      Dann krochen wir alle schweigend weiter, während ich noch immer leise wimmerte.

      Vor mir Lucia, hinter mir Maselda, die jetzt etwa so leise fluchte, wie ich weinte. Zwischendurch zauberte sie eine kleine Flasche aus ihrer nach Schweiß stinkenden Robe und nahm einen kräftigen Schluck daraus. Am Ende machte sie sich nicht einmal mehr die Mühe, den Schnaps zu verstecken, da sie sich alle paar Minuten einen Mundvoll gönnte.

      4

      Castillo de la Tolleda. Der alte Mann blickt sehnsüchtig aus dem gewölbten Fenster, während er umständlich eines seiner weiten Purpur-Gewänder mit antiken Verzierungen an den Ärmelenden an den Hüften zuschnürt. Erinnerungen längst vergangener Tage suchen ihn seit einiger Zeit anheim. Erinnerungen an eine glorreiche Epoche, in die er damals große Schande brachte.

      Und trotzdem ist es eben diese Schande, die mich zu dem machte, was ich heute bin! Seine zittrigen Hände schieben den schweren rostroten Vorhang beiseite; er beobachtet, wie Faretti vom hauseigenen Butler zum Taxi im Innenhof des Castillo de la Tolleda gebracht wird.

      Ich bin ein entseelter Strippenzieher, der die Menschen nach seiner Pfeife tanzen lässt, wie es mir beliebt! Habe jegliches Mitgefühl verloren, sehe nur noch meine Ziele vor Augen. Nickt er zittrig und hüstelt. Einen winzigen Augenblick tut es ihm beinahe Leid, wie er mit dem Italiener umspringt. Doch Melidas hat schon vor sehr langer Zeit gelernt, solche Anwandlungen von Mitgefühl im Keime zu ersticken, in dem er sich sofort wieder seinen Zielen widmet. Faretti wird in Berlin hoffentlich finden, was ich will! Heute werde ich Sofía mitteilen, dass sie nach Venezuela reisen wird. Er grinst lautlos in sich hinein.

      Der pittoreske Hof ist von säuberlich gestutzten Olivenbäumen und Zypressen umgeben und grenzt ihn vom Garten und dem Steilhang weiter hinten ab.

      So viele Ränke, nur um heimlich sterben zu können. Sein Atem ist hektisch und flach; es fällt ihm von Tag zu Tag schwerer, zu stehen. So lange alle nötigen Anstrengungen unternommen werden, um das Amulett und das Tagebuch zu finden, ist das Leben La Fraternitis in Ordnung; niemand sollte Verdacht schöpfen. Ich muss sie glauben lassen, ich wolle tausend Jahre alt werden! Nur um sicherzustellen, dass mein Vermächtnis … La Fraternitis weiter existiert. Ein heiseres Kichern dringt aus seiner trockenen Kehle.

      „Bald ist es nicht mehr möglich, den Lebensfunken noch einmal zu schüren, darauf muss ich vorbereitet sein!“, flüstert er mit einem von Sehnsucht geprägten, inneren Drängen schwach zu sich selbst. Er kann das fremdartige Funkeln in dem einst geborgenen Gestein deutlich vor seinem geistigen Auge sehen, es drängt sich ihm förmlich auf.

      „Dieses Mal nicht!“, hüstelt er stockend, „dafür werde ich Sorge tragen! Warum sonst sollte ich einen solchen Zirkus um den Verbleib des Amuletts und das Tagebuch veranstalten!“

       Nur die Angelegenheit mit Faretti und Sofía bereitet mir Kopfzerbrechen. Aber wenn Faretti einmal aus dem Weg geschafft ist, kann mir niemand mehr in die Quere kommen. Auch wenn er es sich nicht bewusst ist, besitzt er nicht unerhebliche Informationen über meine heimlich gesponnenen Pläne. Wenn er diese Sofía offenbart, könnte sie beim inneren Zirkel intervenieren. Das darf auf keinen Fall geschehen!

      Plötzlich klopft es zweimal hohl an der Tür: Sofía tritt ein und schließt die Tür hinter sich. Sie trägt eine schwarze Jeans und eine rosa Bluse. Ihr schwarzes Haar hat sie hochgesteckt, wie so oft.

      „Señor Melidas“, begrüßt sie ihn knapp, verneigt sich und verharrt in der Haltung, bis sie angesprochen wird.

      Der alte Mann dreht sich zu ihr um und macht eine wegwischende Handbewegung: „Schon gut, Sofía, komm zu mir!“

       Ich muss auf der Hut vor ihr sein, sie hat einen ausgeprägten Sinn für geheime Dinge! Wenn sie Verdacht schöpft, fängt sie an, nach Beweisen zu suchen. Und Spuren gibt es immer irgendwelche!

      Der Raum ist bis auf die Vorhänge, ein antikes Bett und einen alten Schreibtisch, die auf dem kalten Steinplattenboden stehen, leer. Dennoch wirkt das private Gemächer stets anmutig auf Sofía, und sie fragt sich, während sie auf ihren Patron zugeht, ob er selbst der Grund dafür ist.

      Der Alte, der sie beobachtet, wie sie in Gedanken auf ihn zuschreitet, kichert abermals und nickt. Dann werde ich mal meine letzten Karten ausspielen!

      „Du fragst dich, ob diese Gemäuer meine energetische Präsenz weitertragen, wenn ich nicht mehr bin, nicht wahr?“

      Sofía bleibt nichts übrig, als zu bejahen. Wie macht er das bloß? Manchmal denke ich, ich bin ein offenes Buch in seinen Augen.

      „Und, warum wir dieses Amulett nicht nachschmieden können?“, er breitet raschelnd seine Arme aus, „ein solch mächtiges Werkzeug wie La Fraternitis, und trotzdem gelingt es uns nicht! Selbst mit den bedeutendsten Kunstschmieden und Physikern erreichten