Oliver Trend

Gebrochenes Schweigen


Скачать книгу

lief ununterbrochen; ich versuchte immer wieder, leise den Rotz in mir zu behalten. Ich schwitzte und hatte kaltnasse Hände.

      Da klatschte es unten schallend.

      Morillias war augenblicklich still.

      „Ja, ich habe meine Familie … ja, selbst meine Frau und meinen einzigen, geliebten Sohn Chevaron für dich geopfert, denn hier wird es ein für allemal enden, Bruderherz!“ Salvatore hob seinen Gehstock und schrie in den Saal hinein, als wolle er es allen mitteilen: „Dieser ganze Zirkus wird heute, hier und jetzt enden! Ich werde deine gesamte Sippschaft ausrotten und denunzieren lassen. Sie werden verfolgt, egal, wo sie sich in Kolumbien verstecken, wir finden sie!“, er beugte sich kurz vor, „ich werde es richtig zu Ende führen, kleiner Brandstifter, das verspreche ich dir!“, er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und grinste höhnisch: „Es wird mein ganz persönlicher Tag der Rache sein!“, es wurde einen Augenblick still, ehe der Patron zögernd zu Ende sprach: „Du hast schon zu viel Unheil und Leid über das einfache Volk gebracht …, deine Zeit ist abgelaufen!“, dabei zeigte er mit dem rechten Zeigefinger an seine eigene Kehle und schnitt sie symbolisch durch und nickte, während sein Blick den seines Halbbruders traf.

      General Morillias erhob sich und knurrte mit gesenktem Kopf: „Si, dann tue es doch, wenn du … gggnn!“, weiter kam er nicht, da ihm Salvatore den Gehstock mit voller Wucht in den Hals rammte. Der General versuchte mit dem rechten Arm, den Stock abzuwehren, schaffte es aber nicht.

      „Si, ich tue es, siehst du“, er drehte seinen Gehstock im Fleisch seines Bruders herum, der gurgelnd in die Knie ging.

      Der Schock war ihm ins Gesicht geschrieben; er starrte in das aufbrausende Antlitz meines Onkels.

      „Du denkst, es ist mir so leicht gefallen, wie dir, alles aufzugeben, um weiterzuleben, si, General!“, er zog seinen Gehstock abrupt aus dem Hals Morillias und verpasste ihm einen schallenden Tritt in den Oberkörper. Der General wehrte sich nicht mehr, konnte es vielleicht nicht, oder wollte nicht, keine Ahnung.

      Er wurde von der Wucht nach hinten geschleudert, während dunkelrotes Blut aus seiner Wunde am Hals spritzte. Er versuchte, sich die Wunde mit seinen dreckigen Händen zuzudrücken, was ihm auch halbwegs gelang. Der rote Lebenssaft spritzte darauf nicht mehr, doch es quoll zwischen seinen Finger durch und tropfte lautlos auf den Boden.

      „Du warst ja immer so diszipliniert, Bruderherz!“, warf Salvatore Morillias lauthals vor und spuckte abschätzig in sein Gesicht. „Du musstest in Santafè Bogotha ja den Großen vor den Cámara de representante markieren, du Held! Glaubtest du wirklich, ich hätte das nicht mitgekriegt? Wir sind Halbgeschwister, ich kann nicht glauben, dass du dachtest, ich würde diese überhebliche Ansprache nicht vernehmen!“

      Anschließend schritt Salvatore zu seinem sichtlich resignierten Bruder hin und stieß den Stock noch einmal mit aller Wut in dessen Fleisch und schrie: „Du hast mir damit mit deinem überheblichen Stolz die Chance gegeben, endlich Rache an dir zu üben! Für alles, was du meiner Familie angetan hast, unserer Familie!“

      Dann einige Sekunden Stille, nur ein unstetiges Gluckern des Generals war zu hören, der gebannt in die Augen seines Halbbruders glotzte.

      Einige Atemzüge wurde es fast schon unheimlich ruhig, und ich dachte, dass wir im nächsten Moment entdeckt werden würden, doch es kam anders.

      General Morillias hielt verkrampft die Hände an seinen Hals, trotzdem war ein deutliches Gurgeln zu hören.

      „Stirb, du elendiger asesino …, verdammter Mörder!“, hallte es zu uns hoch, wir beobachten, wie Salvatore wie ein Wahnsinniger mit seinem Stock auf Morillias einschlug, bis dieser endgültig tot war. Danach richtete sich Salvatore zur vollen Größe auf, straffte sein Hemd und seine Hosen. Wischte das Blut seines Gehstocks an seines toten Bruders Hosenbeinen ab, holte seinen Hut vom Tisch, zog sich ihn tief ins Gesicht und verließ den demolierten Esssaal. Dabei sprach er ein kurzes Gebet zur heiligen Maria, während er mit knirschenden Schritten zu seinen Leuten nach draußen ging.

      Morillias lag tot am Boden, kein Zucken, nichts ging mehr von ihm aus. Er starrte genau zu uns herauf, zu mir, in meine Augen. Schwarz und dunkel wirkten sie auf mich, und ich scheue die Erinnerung an diese Augen, bis heute in den Tod, der mich beharrlich in seinen düsteren Hallen gefangen hält!

      Vor den eingeschossenen Toren der verlorenen Festung trat Salvatore vorsichtig durch den Matsch auf einen großen Mann zu und sprach kurz mit ihm, zeigte mit dem Gehstock Richtung Gemäuer. Dieser winkte daraufhin einem Panzer, der zehn Meter weiter hinten wartete und sogleich auf uns zusteuerte. Wir hörten, in der Decke über dem Esssaal eingeschlossen, wie der Panzer seine lange Kanone ausrichtete. Danach ertönte ein gleichmäßiges, aber schrilles Summen, ehe ein gewaltiger Knall erschallte und die Decke, in der wir unbeweglich kauerten, mit einem gewaltigen Grollen einstürzte. Wir fielen kreischend in den Esssaal hinunter – ich genau auf den toten General, der mir wohl das Leben rettete. Es hagelte Gesteinsbrocken aller Größen, die uns teilweise unter dem Geröll begruben. Der Kokainstaub vermischte sich mit dem Staub der einstürzenden Decke; es war mir nicht möglich, etwas zu sehen. Ich hielt mich am toten General fest, bis es vorbei war.

      Insgesamt schoss der Panzer mehr als fünfmal, während ich in Gedanken immer wieder betete, wie es mir Schwester Lucia beigebracht hatte.

       Vater unser im Himmel, geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden. Unser tägliches Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.

      Derweil wurde es ruhig, und ich richtete mich vorsichtig auf, beobachtete, wie sich der Staub um mich herum legte. Mir war schwindelig; ich fühlte mich trotz des Sturzes irgendwie gut. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.

      Als sich der Staub zum großen Teil gelegt hatte und Lucias Körper wieder freigegeben wurde, erschrak ich dermaßen, dass ich kreischte, bis es mich selbst in den Ohren schmerzte. Lucias Rückgrat musste beim Aufprall gebrochen sein. Sie lag halb auf einem lädierten Tisch und halb auf dem Boden, völlig unnatürlich verdreht. Ich suchte durch den Staub Schwester Maselda, während ich schrie, dass mir beinahe das Trommelfell platzte. Überall Zerstörung, die ich durch einen seltsam matten Nebelschleier wahrnahm! Jetzt entdeckte ich Maselda endlich: mit eingeschlagenem Schädel, halb von Schutt verschüttet. Ihr noch vorhandenes Auge starrte grotesk nach oben. In ihrer rechten Hand hielt sie verkrampft die kleine Schnapsflasche, die fast leer war, umklammert.

      Ich kann nicht mehr sagen, wie lange ich auf Morillias erstarrendem Leib hockte und mir die Lungen herausschrie; wie mir der bittere Saft die Kehle herunterlief und eine Spur kribbelige Betäubung hinterließ.

      Auf jeden Fall stand da plötzlich mein Onkel am Rande des Gemäuers und starrte mich mit einem Gesicht an, das fast so weiß wie sein Anzug war, als hätte er einen Geist gesehen.

      In dem Moment, als ich ihn entdeckte, verstummte ich.

      Wir blickten uns einige Sekunden an – Auge in Auge – während sich seine Männer mit Maschinengewehren neben ihm aufstellten. Seine Augen schienen zu glühen, erst vor Mitleid, so empfand ich es, danach voller Kälte.

      „Onkel“, wimmerte ich unsicher und streckte meine zerkratzten, an mehreren Stellen blutigen Arme nach ihm aus. Mein dreckiges Kleid raschelte leise zu meinen Bewegungen. „Onkel Salvatore?“

      Salvatore zog stattdessen nur emotionslos seinen weißen Hut tiefer ins Gesicht, wohl damit er mir nicht mehr ins Angesicht blicken musste und gab trocken den Befehl, mich zu eliminieren!

      Eliminieren, pah, dabei wusste ich nicht mal, was dieses blöde Wort bedeutete noch konnte ich es richtig aussprechen! Trotzdem, nennen wir es im Nachhinein den weiblichen Instinkt, sprang ich wie auf Kommando vom schlaffen Leib Morillias hoch, während die Männer auf mich feuerten, als wäre ich ein wildes Tier. Ich schlüpfte gehetzt, aber nicht in Panik, keine zwei Meter neben dem General unter ein großes Stück Gemäuer, welches zuvor von der Decke heruntergebrochen war. Ich weiß nicht, ob sie mich nicht treffen wollten