Oliver Trend

Gebrochenes Schweigen


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aus voller Kehle heraus, aus Verzweiflung, aus Wut, ich weiß es nicht mehr! Es half mir aber, wieder aufzustehen und weiter zur Wendeltreppe zu hasten. „Ich will hier raus!“, schrie ich mit meiner hohen Mädchenstimme, die im Lärm der Waffen und gebrüllten Befehlen unterging, „ich will hier weg!“

      Als ich die aus Stein gefertigte Wendeltreppe hinter mir gelassen hatte und das große Gewölbe im Obergeschoss erreichte, atmete ich kurz auf. Meine Knie brannten, beinahe so fest wie meine Oberschenkel, mein Schädel pochte genauso wie, als ich das erste Mal hier erwachte. Ich begutachtete heulend meine leicht blutverschmierten Knie, strich zitternd über die Schürfungen und schniefte wieder, „ich will hier raus!“, als ich meinte, ein Fahrzeug draußen zu hören.

      Ich stolperte in ein Nebenzimmer gegenüber der Treppe, deren Wand herausgeschlagen war. Als ich bei der Öffnung angelangt war, die mit Sandsäcken geschützt war, spähte ich vorsichtig hindurch. Ich schaute ins weite, grüne Tal hinunter, ohne aber etwas zu entdecken, was wie ein Fahrzeug aussah, nur die leere Straße. Unten über dem Tor, wo noch vor Kurzem die Soldaten Säcke auftürmten, lag ein weißer Schleier über der Erde. Es schmeckte bitter, mein Rachen fühlte sich kurz darauf eigenartig betäubt an. Ein toter Soldat hing einen Stock tiefer über einem zerfetzen Sack, der ein weißes Pulver beinhaltete, welches sich langsam mit tiefrotem Blut vollsog. Wieder Schüsse, doch dieses Mal irgendwo weiter weg. Trotzdem schreckte ich schnell hinter die schützende Mauer zurück. Dann sehr laute Schüsse, ganz nahe. Sie kamen von hinten, direkt hinter mir!

      Ich drehte mich hastig um, stolperte beinahe über meine eigenen Füße und starrte mit weit aufgerissenen Augen in die eines sehr vertrauten Mannes aus Salvatores Privatarmee. Ich erkannte ihn, weil er, seit ich denken konnte, meinen Onkel herumchauffierte und stets freundlich zu mir war: Horatio! Sein Oberkörper war blutgetränkt, während er kraftlos und mit ausgebreiteten Armen auf mich zu taumelte.

      Ich weinte und schrie, als sich blitzschnell eine unterarmlange Klinge um seinen Hals legte.

      Er strauchelte und hielt mitten in seiner Bewegung inne und glotzte mich, den nahenden Tod in seinen verklärten Augen, unverhohlen an. „Corre, bonita, lauf!“, dann verwandelte sich sein zittriger Flüsterton in ein hilfloses, abgehacktes Gurgeln.

      Der Mann hinter ihm zog mit einem kräftigen Ruck die schmutzbefleckte Klinge bis zur Spitze durch das Fleisch, ohne dass ich ihn dabei erkennen konnte. Doch es reichte mehr als deutlich aus, dass ich mein Leben lang davon träumte, mich diese Bilder jagten, ja gar bis in den Tod hinein verfolgen! Es ließ mich damals auch aus der Starre erwachen, und ich rannte los. Vorbei an dem zusammensackenden Chauffeur meines Onkels, Vater von drei Kindern, zuletzt Kämpfer für die Freiheit Kolumbiens.

      Carlos Horatio Carreras stürzte hinter mir vergebens nach Luft schnappend zu Boden, während ich dazwischen ein kaum wahrzunehmendes Klacken vernahm. Ich hetzte mit großen Schritten laut schnaubend, auf die Treppe zu, dann nahm ich einen Satz, noch einen und danach noch einen. Gerade als ich die Treppe erreichte und die Steinstufen hinunterhastete, explodierte Horatio samt seinem namenlosen Mörder hinter sich. Staub stob wie ein Sandsturm durch die Gänge und rieselte hernach kraftlos zu Boden.

      Ich rannte geduckt und nach Luft schnappend, hinunter ins nächste Stockwerk. Mir war übel; ich dachte jeden Augenblick, mich übergeben zu müssen. Meine Brust hatte sich schmerzhaft zusammengezogen, ich bekam kaum Luft. Als ich ein Geschoss tiefer angekommen war, blieb ich auf der Treppe stehen. Niemand folgte mir, so glaubte ich. Einige Sekunden lang wurde mir schwarz vor Augen; ich fiel beinahe vornüber, konnte mich aber im letzten Moment fangen. Durch einen Schleier nahm ich umgestürzte Tische und Stühle wahr. Säcke, die ungeordnet im Raum verteilt lagen. Ich hielt mich an der kalten Steinwand fest, während sich mein Blick langsam klärte. Überall donnerten schallende Schüsse durch die Luft, begleitet von schauderhaften Schreien und lauten Jubelrufen zugleich!

      Da drangen mehrere Soldaten aus einem angrenzenden Zimmer gegenüber der Treppe, auf der ich stand, in den Saal herein. Sie riefen sich gegenseitig immer wieder zu, sich zu ergeben – beide Fraktionen ernteten von der anderen dafür höhnisches Gelächter. Darauf klickte es mehrfach, eine Sekunde später lösten sich auf beiden Seiten hallende Schüsse.

      Ich konnte mich nicht von der Stelle bewegen, meine Beine wollten nicht, egal, wie sehr und vor allem wie laut ich sie in Gedanken anflehte. Sie zitterten nur heftig, ohne dass ich es schaffte, sie zu bewegen. Bilder von Horatio blitzten in meinem Kopf auf, wie er mich mit aufgeschnittener Kehle aufforderte, zu rennen, ehe er explodierte! Renn!, befahl mir mein ganzes Inneres panisch. Doch ich starrte nur furchterfüllt zu den aufeinander schießenden Soldaten im Saal vor mir und urinierte vor Angst in mein Höschen.

      Die drei Männer vor mir hatten sich inzwischen auf den Boden geworfen und robbten hinter die Tische, Stühle und Säcke. Dabei schossen sie auf die anderen, die sich hinter dem Türrahmen zum nächsten Zimmer verschanzten, ohne sich anfangs zu treffen. Weißer Staub wurde durch die Luft geschleudert und brachte die Soldaten zum Keuchen und Fluchen, während sie schwitzten wie Schweine. Sie nahmen keine Notiz von mir, während sie sich gegenseitig umbrachten.

      Meine Zähne surrten, als wären sie betäubt, ebenso fühlte sich auch meine Mundhöhle samt Rachen an. Das Atmen ging jetzt wieder, doch das Gefühl war seltsam, kribbelnd irgendwie!

      Während sich die Soldaten beschossen, flog das Flugzeug erneut über uns weg, worauf überall Kugeln in die Wände krachten und sie durchbrachen wie dünnes Holz. Es zischte, donnerte und grollte, dazwischen immer wieder ratternde Gewehrsalven. Steinsplitter wurden durch den Saal geschleudert, Befehle und Drohungen wurden geschrien, die ich nicht mehr zuordnen konnte.

      Einer der Soldaten direkt vor mir war aufgesprungen, vollzog einen ruckartigen Satz nach vorne, während er von Dutzenden Kugeln durchsiebt wurde. Seinem Kameraden erging es gleich.

      Der Letzte der Dreiergruppe sprang jetzt ebenfalls hinter der behelfsmäßigen Deckung hervor, etwa zwei Meter vor mir und fing einige Kugeln ab, die mich sonst wahrscheinlich getroffen hätten. Er stöhnte laut, ging aber nicht in die Knie, er taumelte lediglich kurz. Darauf hob er zitternd sein Gewehr durch den Nebelschleier und drückte ab. Heute kann ich mit Sicherheit sagen, dass er damals unwissend mein Schutzengel war, denn in jenem Moment spürte ich eine kräftige Hand auf meiner rechten Schulter, die mich aus der Starre erlöste.

      Ich ließ mich fallen, rollte unbeholfen, aber schnell auf die Seite, kam irgendwie wieder auf die Beine und sauste los. Vorbei an meinem fallenden Schutzengel und den vier Soldaten, die ihre Gewehre noch immer auf den Fallenden richteten.

      Ich stürmte in das Zimmer, aus dem zuvor die Soldaten kamen, ohne mich umzudrehen, dann war Endstation! Im Saal vorne wurde wieder geschossen und geflucht, ohne dass sie auf mich reagierten. Da glaubte ich, in dem heillosen Durcheinander abermals ein Fahrzeug zu hören und hastete zu einem der Fenster.

      Diese waren ebenfalls mit Säcken ausgefüllt. Über einem lag der Soldat, den ich vorhin von oben gesehen hatte, besser gesagt, was von ihm übrig geblieben war! Seine Beine waren ihm abgerissen worden; ich konnte deutlich die glitzernden Innereien in seinem aufgeplatzten Unterleib erkennen.

      Nach einiger Überwindung brachte ich es fertig, an einem der Fenster daneben hinaus zu spähen. Nichts! Doch plötzlich brauste ein khakibrauner Jeep hupend die matschige Straße hinauf. Ich beobachtete ihn eine kurze Weile, registrierte einen Mann mit weißem Hut, weißem Hemd, der bequem auf der Beifahrerseite saß. Und, als hätte mir mein geliebter Gott ein dunkles Tuch von den Augen gezogen, erkannte ich, wer es war.

       Heilige Maria, er lebt!

      Da donnerte das Flugzeug erneut nahe am Kloster vorbei, während dutzende Kugeln in die Wand hinter mir einschlugen und sie wegfetzten. Ich warf mich laut brüllend auf den Steinplattenboden und bedeckte mit meinen Armen meinen Kopf. Über mir schossen unzählige Felsbrocken durch die Luft. Es zischte bedrohlich, gepaart mit einem schrillen, unstetigen Pfeifen. Einer der Stützpfeiler stürzte laut krachend in sich zusammen.

      Ich befürchtete in meiner Angst und dem unsagbaren Getöse, das ganze Gewölbe über mir stürze gleich ein. Sand von geplatzten Säcken wurde durch das Gewölbe geschleudert, sodass ich lauthals brüllte. Die Sandkörner stachen