Oliver Trend

Gebrochenes Schweigen


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beobachtet. An sich nichts Besonderes, bis auf das Phänomen, dass es sich bei den Beobachtern um die Loge selbst handelt; um den Gründer La Fraternitis, den Mann, der ihn vor vielen Jahren unter seine Fittiche nahm, ihm indirekt beibrachte, was er heute weiß und kann – mehr oder weniger.

       Eben das macht die ganze Sache so kompliziert. Ich komme mir vor, als wäre ich in einem falschen Film! Ich hoffe nur, dass Sofía meine Nachricht findet und sie auch richtig entschlüsselt. Mit ihren Kenntnissen über Binärcodes sollte sie es eigentlich schnell encodiert haben. Und viel ist es nicht! Bald werde ich es wissen, entweder sie ruft mich an, oder nicht, und ich weiß, dass es ein Scheißplan war!

      Die Altstadt zieht an ihm vorbei, während das Taxi abbiegt.

      Ein anderes Taxi folgt ihm tatsächlich. Er späht flüchtig nach hinten. Hier gibt es Taxis wie Sand am Meer, es könnte ein Schatten von La Fraternitis sein oder auch nicht! Sein Blick wandert zum Seitenfenster; er lässt die Gebäude, Läden und alten Häuser auf sich wirken. Er versucht, die erdrückenden Gedanken beiseite zu schieben – wenigstens eine kurze Weile, dabei nagt er nervös an der Unterlippe.

       Ich mag diesen mittelalterlichen, gotischen Baustil der Altstadt. Das bringt mich auf einen anderen Gedanken: Hier muss irgendwo die Sagrada Familia sein, die unvollständige Kathedrale, welche von Antoni Gaudi konzipiert wurde. Nun komme ich schon so viele Jahre nach Katalonien und habe es noch nicht einmal geschafft, sie zu besuchen. Ich bin früh genug dran, vielleicht könnte ich …

      „Entschuldigen Sie bitte?“, spricht er den Taxifahrer an, der nur kurz den Kopf zu ihm nach hinten dreht, um den Verkehr nicht aus den Augen zu verlieren.

      „Ist es möglich, dass Sie mich erst noch zur Sagrada Familia bringen?“

      „Wenn Sie bezahlen, ist alles möglich, Señor. Allerdings muss ich dann ein ganzes Stück zurückfahren.“

      „Das ist schon in Ordnung.“

       Dann weiß ich schon einmal, ob ich beschattet werde! Sobald ich am Flughafen angekommen bin, setze ich mich mit meinen Kontakten in Berlin in Verbindung. Ich brauche eine neue Identität und ein Konto auf den neuen Namen.

      „Also ist Ihr nächstes Ziel die Sagrada Familia?“

      „Ja.“

      Das Taxi lenkt kurze Zeit später in die Schnellstraße ein, und der Wagen beschleunigt rasant. Die Häuser ziehen wieder an ihm vorbei, während er in Gedanken nach Venezuela und zu Sofía abschweift. Zwischendurch späht er nach hinten.

      Das Taxi folgt ihnen noch immer.

      5

      Salvatore de la Sourcas Truppe stürmten die paramilitärischen Milizen die Mauern der Brigado Libertad de Credibilidad. Sie kamen mit drei kleinen Flugzeugen, die sie von einem Militärstützpunkt nahe der Stadt Cartagena de Indias entwendeten: Einem Stützpunkt, der bis anhin dem direkten Befehl von General Morillias unterstellt war. Lastwagen mühten sich mit laut heulenden Motoren die schlammige Straße hoch. Dazwischen bewaffnete Jeeps mit Maschinengewehren auf den Heckflächen montiert, die mit ihren Rädern immer wieder im Matsch durchspulten. Die Flugzeuge drehten auf einmal alle ab und zogen sich in Richtung Tiefebene zurück. Es gab überall in und vor der Festung kleinere Scharmützel, die meist von de la Sourcas Leuten gewonnen wurden. Alle waren in einen an Benzin erinnernden, weißen Dunst eingehüllt, der sie bittersüß einlullte und antrieb, ihr Bestes zu geben. Beide Seiten fühlten sich unschlagbar, meinten, sie seien stärker und besser!

      Nicht gerade das, was sich Morillias vorstellte, als er die Säcke mit de la Sourcas Kokain füllen und vor dem Eingangstor auftürmen ließ. Doch als Nachteil empfand er es auch nicht, da er das Zeug selbst mit tiefen Zügen einatmete, während er sich hinter einem Pfeiler verschanzte, der die Decke des Esssaales stützte. Die Decke knackte und knarrte bedrohlich, als es heftig und laut rumpelte, weil ein Panzer irgendwo in der Nähe eine der Mauern durchbrach.

      Morillias schaute sich mit schnellen Blicken um, ließ sich dadurch aber nicht aus der Ruhe bringen. Bis zum Augenblick, als er deutlich vorsichtig abtretende Stiefel auf dem Boden hörte und wie sich fast schleichend knirschend das Gewicht auf dem Schutt der Erde verlagerte. Der General wartete einen Atemzug, schnellte darauf hervor und feuerte einige Schüsse in die Richtung ab.

      „Coño!“, zischte er zwischen seinen schmalen Lippen durch, als er mit weiten Augen erkannte, dass er einen seiner eigenen Leute erwischt hatte, was besser nicht geschehen wäre; denn danach wurde er plötzlich von de la Sourcas Leuten umstellt, die alle ihre Läufe auf seinen Kopf richteten. Sie waren einfach da, wie aus dem Nichts aufgetaucht.

      Morillias erhob vorsichtig die Hände über sein Haupt und sackte danach auf die Knie, mitten in die unzähligen Splitter und Trümmer hinein, ohne einen Laut von sich zu geben. Seine Augen blitzten; er schien wirklich wütend zu sein.

      Zur selben Zeit drangen mehrere Gruppen paramilitärischer Kämpfer von den nördlichen Anden zur provisorischen Festung herab. Sie überwältigten die Männer von General Morillias ohne nennenswerte Probleme. Sie nahmen die vermeintlich kaum einzunehmende Festung – die ehemalige Iglesia del Cielo zusammen mit den paramilitärischen Milizen binnen kurzer Zeit ein, weil Morillias sich von seinen eigenen Leuten täuschen ließ, die ihm mitgeteilt hatten, Salvatore sei tot, ohne dass er dies mit eigenen Augen überprüfte hatte! Oder waren sie gar in Wirklichkeit Anhänger de la Sourcas? So oder so, Morillias verfluchte diesen Tag inbrünstig und voller Leidenschaft: Der Tag seiner Niederlage, und dabei hatte die verdammte Violencia noch nicht einmal richtig begonnen!

      Als Salvatore dann höchstpersönlich mit einem Gehstock stolz im Esssaal erschien, breit grinsend und mit einer teuren Zigarre in der rechten Hand, sackte Morillias in sich zusammen. Mein Onkel ganz in Weiß gekleidet, wie sein prächtiger Hut, trat elegant zum General hin, und seine Leute machten einen Schritt zurück.

      Noch immer den Zeigefinger am Abzug, nur auf den geringsten Befehl ihres Patrons wartend, um dem General das Licht auszulöschen.

      „So sieht man sich also wieder, Bruderherz!“, grinste Salvatore gefährlich und rieb sich das sauber rasierte Kinn, „im Schoße der missglückten Kindheit, die wir hier in der Iglesia del Cielo deinetwegen verbringen durften, und … am Tag deines Todes! Es war noch nie gut, einen Halbbruder zu haben, vor allem keinen wie dich!“, seine Miene wurde ernst. Er senkte seinen Kopf und schickte seine Leute mit einem leisen Befehl hinaus, die ihm anstandslos gehorchten und sich aus dem Saal verzogen. Er nahm den Hut vom Kopf und legte ihn sorgsam auf einen Tisch, der ihm dafür noch stabil genug schien. Sein ergrautes Haar schimmerte sanft im Esssaal und ließ ihn weise wirken.

      Die Sonne drang teilweise durch den dichten Dunst aus Kokainstaub.

      Lucia, Maselda und ich kauerten mucksmäuschenstill über dem Esssaal in der Decke, genau über den beiden Halbbrüdern: Denn, als der Panzer vorhin eine Mauer durchbrach, gab es hier einen Riss, und wir konnten deswegen nicht mehr weiter. Waren gefangen und gezwungen, mit anzusehen, wie eine Fehde zwischen zwei Halbbrüdern ihren Lauf nahm.

      Lucia hatte uns befohlen, uns unsere Taschentücher, die wir von ihr geschenkt bekamen, vor die Atemwege zu halten.

      Maselda fluchte noch immer, aber so leise, dass ich es kaum noch hören konnte.

      „Du hast meine Soldaten gekauft, nicht wahr!“, drang die tiefe Bassstimme des Generals gepresst zu uns herauf.

      „Ja, das habe ich, und noch mehr!“, antwortete ihm Salvatore mit einer eisigen Ruhe, die mich schaudern ließ.

      Onkel Salvatore, dachte, nein schrie eine Stimme immer wieder in mir auf, aber ich war still. Still, wie es mir Lucia befohlen hatte!

      „Du hast deine ganze Familie, dein ganzes Dorf, welches du beschützen sollst, dafür geopfert, dass du mich kriegst? Mich?“, Morillias keifte jetzt brüllend, was wahrscheinlich eine Wirkung des Kokains war.

      Mir zumindest war inzwischen ganz komisch, ich fühlte