Oliver Trend

Gebrochenes Schweigen


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in Arbeit verkroch, um nicht über die unangenehme, schmerzliche Vergangenheit nachzugrübeln, mich ihr zu stellen! Erinnerungen drängen in ihr Bewusstsein, wie sie damals vor fast fünfzig Jahren in den Armen eines Deutschen erwachte.

      Ich kann mich vage an ihn erinnern! Walter Berthold Brül! Seit ich von Tirpakna weggegangen bin, habe ich ihn nie wieder gesehen. Ob er noch lebt? So wie ich? Ihr Blick wandert zu einem kleinen, eingerahmten Bild. Das Foto ist verblasst und nicht mehr so gut erhalten. Dennoch erkennt sie darauf ein lächelndes Baby mit einem unförmigen, roten Mahl am linken Ohr. Unten im Bild steht in verblichener Schnörkelschrift: Mi ángel Carmen. Aber das Bild weckt keine Muttergefühle in ihr, stattdessen spürt sie tief in sich eine ungewohnte Unruhe. Fragmentarische Bilder aus der Zeit, als sie noch in einem katholischen Internat nahe Medellín lebte, flammen in ihr auf. Ein Gesicht, erst unscharf, dann …

      „Paulo!“, flüstert sie sinnierend. Wie lange ich schon nicht mehr an dich gedacht habe! Wir waren damals so furchtbar verliebt! Ein Lächeln stiehlt sich in ihr Gesicht. Es war eine harte Zeit, aber auch eine vergleichsweise unbeschwerte, schöne Zeit. Ihr Blick wandert erneut zum Bild. Ob Paulo je erfahren hat, dass er ein Kind hat? Dass ich ihm eine Tochter geboren habe, die mir wenige Wochen nach der Geburt von Soldaten der Regierung weggenommen wurde! Geraubt!

      „Oh, Carmen!“, murmelt sie und seufzt wehmütig. Könnte ich zurück, ich würde keinen Tag verschwenden und sofort nach dir suchen!

      Die Räumlichkeiten, in denen sie arbeitet, sind alt, sehr alt; eine eigenartige Kälte scheint sich im steinernen Gemäuer festgefressen zu haben; obschon verschiedene, in Öl verewigte Porträts des einstigen Hofmalers des spanischen Königs Phillip, Diego Velázquez, die sonst eher karg wirkenden Wände zieren.

      Da klopft es leise hallend an der schweren Holztür; ein elegant gekleideter Herr mittlerer Größe, der seinen linken Arm in einer schwarzen Schleife trägt, tritt ein. „Señora Sofía?“, fragt er mit italienischem leicht schleppenden Akzent. Seine Stimme verklingt gedämpft in dem hohen, irgendwie düster wirkenden Gewölbe, während er ungeduldig wartet und ein an den Rändern zerfleddertes Bildnis studiert. Es ist immer dasselbe: Ein mit Kohle gezeichnetes Bild, das schon sehr verblasst ist. Dennoch erkennt er darauf den Herrn dieses Anwesens und einen Indio. Zwischendurch späht er flüchtig zu Sofía herüber, fragt sich, ob sie seiner begangenen Taten würdig ist.

       Was macht das für einen Unterschied? Ich sitze mächtig in der Scheiße! Ich kann froh sein, wenn sie mich nicht durchschauen und ich lebend von hier weg komme!

      Über die transatlantische Verbindung konnte er bislang nicht Bericht erstatten, da es momentan aus irgendwelchen technischen Gründen sehr schwierig ist, eine offene Leitung zu kriegen. Soweit er sich schlau machen konnte, handelt es sich um ein Problem mit einem im Atlantik verlegten Kabel. Solche Unterbrüche kommen auch heutzutage regelmäßig vor und sind von daher nichts Besonderes. In diesem Fall sind sie vor allem äußerst unangenehm.

      Er ist innerlich zum Zerreißen angespannt, hat Angst, muss sich immerzu ins Gedächtnis rufen, weshalb er hier ist – in der Höhle des Löwen sozusagen. Er ist sich sicher, dass die Räumlichkeiten allesamt überwacht werden. Sein Unbehagen wächst, und er presst verbissen seine Lippen aufeinander, während seine Kiefermuskulatur beharrlich zuckt. Ich sehe keine andere Möglichkeit, Zeit herauszuschlagen, als diese! Eventuell komme ich so noch an nützliche Informationen, die mir bei meinem Vorhaben weiterhelfen könnten! Wenn ich mich schon aus dem Staub machen muss, dann so gut vorbereitet, wie nur irgend möglich! Außerdem möchte ich Señora Sofía vor dem Alten warnen! Es darf nichts schief gehen, sonst bin ich tot! Auf seiner Nase glitzert Schweiß, und er kratzt mit dem Fingernagel des Zeigefingers der rechten Hand mehrmals über den Nasenrücken. Während er vor Nervosität sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagert und wieder zurück, nimmt er tief unter der zum Zerreißen gespannten Oberfläche Trauer wahr. Immerhin ist er mehr oder weniger hier aufgewachsen, erzogen worden. Hier wurde er geformt, zu dem gemacht, was er heute ist. Mit diesem Ort sind die meisten seiner Erinnerungen verbunden. Die Guten, ebenso wie die Schlechten. Hier ist er zum Mann herangereift, der er heute ist.

      Dann habe ich die Sache in Venezuela aus einem dämlichen Impuls heraus verbockt, und jetzt ist alles anders! Trotzdem! Niemand hier, außer mir, kennt gegenwärtig die Wahrheit bezüglich Venezuelas. Ich habe sozusagen einen kleinen, sagen wir, vorläufigen Trumpf im Ärmel. Erneut verlagert er sein Gewicht und kratzt sich den Nasenrücken.

      Sofía tippt den begonnenen Satz zu Ende und schaut blinzelnd auf, mustert ihr Gegenüber – die schwarze Schleife –

      und furcht ihre Stirn. Sie weist den Mann mit kühler, aber dennoch angenehmer Stimme an: „Setzen Sie sich bitte, Señor Faretti!“ Sie beobachtet ihn schweigend dabei, wie er mit verbissenem Gesichtsausdruck vor ihrem Schreibtisch behutsam auf dem einzigen Stuhl Platz nimmt. Ihre dunklen Augen haften unangenehm auf ihm, ohne dass sie es selbst bemerkt.

      Er hat sie kennengelernt, meine Mutter! Hätte ich vielleicht selbst gehen sollen? Wenn ich gegangen wäre, hätte sie mich erkannt? Ich sehe nicht aus, als wäre ich schon über fünfzig Jahre alt! Andererseits trug sie das Amulett bei sich. Vielleicht verstand sie ja, welche Macht sie mit sich führte. Sie sammelt einen Moment ihre Gedanken, indem sie tief durchatmet und fährt laut fort, ohne den Blick von ihm abzuwenden: „Erst einmal …“, beginnt sie überlegt und prüft, ob ihr hochgestecktes Haar nach wie vor richtig sitzt, wobei seine Aufmerksamkeit auf ihr Feuermahl am linken Ohr fällt.

      Sein Herz pocht schnell und laut. Sein Magen verkrampft sich, was er zu ignorieren versucht.

       Was ist, wenn sie es irgendwie trotzdem in Erfahrung brachten, die Wahrheit? Dass, was in Venezuela wirklich geschehen ist?

      „… Bin ich froh, Sie heil wiederzusehen, beziehungsweise lebend!“, durchbricht sie seine Gedanken. „Wie kam es dazu?“, sie nickt Richtung Schleife.

      „Die Schulter? Nun mhm … Sie mögen es mir nicht glauben“, lächelt er gequält, „aber ich wurde in der Casa de la Bondad sobre la Tierra überrumpelt.“

      „Wie überrumpelt und von wem?“

      „Mhm“, räuspert er sich, „auf den Punkt gebracht, Señora“, er sucht denn Blickkontakt zu ihr, „der Makler …, er war schneller als ich, vermutlich militärische Ausbildung!“

      Sofía nickt verstehend, während sie ihn weiterhin stechend mustert. Ich habe keinen Grund ihm zu misstrauen, bisher war er der Loge stets loyal ergeben! „Sind die Schmerzen schlimm?“, erkundigt sie sich mit gekrauster Stirn.

      „Ich habe gut verträgliche Schmerzmittel bekommen, und solange ich keine hektischen Bewegungen mache, geht es, danke der Nachfrage.“

      Sofía fährt abgeklärt fort: „Nun gut, wie mir vorab schon mitgeteilt wurde, ist Señora Ortiz letzte Nacht ums Leben gekommen.“

      Faretti bestätigt kraftlos: „Ja, diese Information habe ich auch.“

      „Und Sie sind sich sicher, dass sie das Amulett des Tipirikitape um den Hals getragen hat …, einfach so?“, verklingt ihre ungerührte Stimme im Raum.

      „Sie machte nicht den Eindruck auf mich, als wüsste sie, welchen Schatz sie da um den Hals trägt.“

      „Wie kommen Sie zu dem Schluss?“

      „Als ich sie darauf ansprach, reagierte sie nicht sonderlich darauf, versteckte es aber danach auch nicht. Mehr kann ich nicht sagen ... Es ist lediglich mein Eindruck von der Sache.“

      Er stiert in ihre funkelnden Augen, riecht ihr wunderbares Odeur, während sich sein Magen anfühlt, als wäre er mit scharfkantigen Steinen gefüllt worden.

       Was mache ich hier nur? Ich hätte nie wieder herkommen sollen! Ich muss verrückt sein!

      „Und wo befindet sich das Amulett jetzt?“, zerschneidet ihre klare Stimme seine Gedanken.

      „Keine Ahnung!“, antwortet er kaum hörbar, „ich nehme an,