Oliver Trend

Gebrochenes Schweigen


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Geschenken beschäftigt. Wir saßen in einem Kreis am Boden nicht weit von Horatio entfernt; ich packte gerade das Geschenk von Tante Salma aus. Zum Vorschein kam ein weißer Hut mit einer rosaroten Schleife. Ich jauchzte vor Freude, während ich aufsprang, zu Tante Salma eilte, sie fest umarmte und mich bedankte. „Danke, Tante Salma, den habe ich mir schon so lange gewünscht!“, ich drückte mich an ihre Brust.

      „Ich weiß, Liebes! Pass immer gut darauf auf, ja!“, mahnte sie und fuhr mir mit der Hand durch mein langes Haar. „Und jetzt pack die anderen Geschenke aus, sonst bist du heute Abend noch nicht fertig damit!“, neckte sie und kitzelte mich.

      „Aufhören, Tante Salma … bitte aufhören!“, johlte ich, und sie ließ mich nach einem Moment los.

       „Jetzt pack die anderen Sachen aus! Die Leute hier“, zeigte sie in die Runde der Gäste, „warten gespannt darauf, dass ihre Geschenke als Nächstes dran sind.“

      Die Bauern und Arbeiter aus der Umgebung nickten alle gut gelaunt.

      Ich schnappte mir das nächstbeste Paket.

      Selbstverständlich waren nur diejenigen Bauern und Arbeiter mit ihren Familien geladen worden, die ihr Schutzgeld pünktlich an meinen Onkel zahlten. Die anderen schmollten im nahen Dorf und warteten auf den Tod, ohne es auch nur zu ahnen. Die Männer spielten gelangweilt Karten oder lagen vom Bier niedergestreckt, geräuschvoll dösend in ihren flickbedürftigen Hängematten auf ihrer einfachen Veranda. Ihre Frauen hockten zusammen und tratschten, wie jeden Nachmittag, bis auf den heiligen Sonntag natürlich, ausgelassen miteinander. Dafür gab es in Nuevo Alumbrado einen Platz, der nach dem berühmten Freiheitskämpfer Simón Bolívar benannt worden war; an dem sich die Frauen trafen, um sich die jungfräulichsten Neuigkeiten zu berichten und nicht selten lautstark darüber zu urteilen. Der Platz war von den einfachen Fincas umgeben, in denen sie meist seit ihrer Kindheit wohnten. Dahinter verbarg sich der urgewaltige Regenwald, der heroisch in den türkisblauen Himmel ragte – la Floresta Negra. Heute war das Thema der Tratschtanten, wie konnte es auch anders sein: Mein Geburtstag!

      Aber ehrlich gesagt, bekam ich es an dem herrlichen Tag nicht mit. Ich war zu sehr mit den vielen großzügigen Geschenken beschäftigt, die mit Abstand die tollsten waren, die ich je bekommen hatte.

      Schließlich schaffte ich es aber, jedes von ihnen auszupacken und mich dafür zu bedanken. So durfte ich endlich mit den anderen Kindern spielen gehen. Wir verzogen uns von der knarrenden terraza grande.

      Wir schlenderten zusammen zum nahen Waldrand, wo wir einen roten Ball hin- und herwarfen. Ich sollte hier erwähnen, dass es mir wie den anderen Kindern verboten war, dort zu spielen! Doch war es wohl genau das, was mich diesen schrecklichsten Tag meines Lebens überleben ließ. Vielleicht war es auch Gott, der einfach nicht wollte, dass ich an meinem Geburtstag sterben sollte.

      Niemand, weder die tratschenden Frauen auf dem Platz des Simón Bolívar noch wir fröhlich miteinander spielenden Kinder oder die geladenen Bauern, bemerkten, dass die Vögel heute erstaunlich still waren, ebenso wie die Affen und anderen Tiere.

      Onkel Salvatore natürlich schon. Schließlich handelte es sich nicht nur um ein paar versprengte Soldaten der Regierung, sondern um ein ganzes Regiment, welches von General Morillias in mehrere schlagkräftige Bataillone, die schon seit Tagen von den Anden her in die Täler vordrangen, aufgeteilt wurde.

      Wir vergnügten uns, unwissend vom nahenden Unheil, lautstark mit dem Ball – ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen! Wohl auch deswegen, weil sich noch so viel ereignen würde, und ich … Stopp! Ich greife den Geschehnissen zu weit vor, entschuldigen Sie! Wo waren wir? Ach ja, im Wald! Wir spielten im Schatten der mehr als dreißig Meter hohen Regenwaldbäume.

      Chevaron warf mir gerade den Ball zu, den ich nicht zu halten vermochte. Er rollte raschelnd hinter mir in die dichten Büsche, und ich musste ihn suchen gehen.

      Die Kinder riefen meinen Namen, während ich durch das Dickicht kroch.

      „Ja, ich komme ja!“, gab ich lautstark zurück, als ich den Ball auch schon entdeckte. Ich bewegte mich auf allen Vieren darauf zu, darauf bedacht, mein Kleid nicht kaputt zu machen. Dreckig war in Ordnung, aber wenn ich es, aus welchen Gründen auch immer, zerriss, bekam ich richtigen Ärger mit meiner Mutter.

      Als ich den Ball erreichte, bemerkte ich erschrocken, dass ein Mann in einem eigentümlichen, purpurfarbenen Gewand daneben stand. Er hatte keine Haare auf dem Kopf und blickte mich mit tiefgrünen Augen, die von vielen Falten umgeben waren, an. „La Fraternitis wird dich beschützen, mein Kind!“ Er hüstelte, glotzte mich an, während sich noch mehr Falten in seinem Gesicht bildeten.

      Es raschelte plötzlich überall um uns herum. Äste brachen knackend. Er hob seinen dürren Zeigefinger an die spröden Lippen. „Schschschscht!“

      Keine Sekunde später erfüllten schallende Maschinengewehrsalven die von der Hitze flimmernde Luft.

      Ich schrak zusammen und drehte mich panisch um. Allerdings hockte ich mitten in den Büschen und konnte deswegen nicht wirklich etwas erkennen. Ich drehte mich gehetzt zu dem Mann um. Er war verschwunden.

      Wieder Schüsse.

      „Onkel Salvatore!“, wimmerte ich unschlüssig, was ich tun sollte. Da traf mich etwas Hartes am Hinterkopf, und mir wurde schwindlig.

      „Onkel Salvatore!“, wiederholte ich mit brüchiger Stimme; einen Augenblick später sackte ich bewusstlos auf den trockenen, mit Ästen übersäten Untergrund. Das bewahrte mich davor, mit ansehen zu müssen, wie meine Eltern, mein Onkel und meine Tante; alle, die ich kannte, auf bestialische Weise ermordet wurden: Selbst den Pater, der seit den frühen Morgenstunden in seiner kleinen Kapelle am westlichen Ende des Dorfes betete, verschonten sie nicht. Nicht einmal einen einfachen Diener Gottes!

      Als ich das erste Mal erwachte, war es bereits Nacht, und der Vollmond leuchtete auf uns herab. Alles um mich drehte sich. Ich brauchte einige Zeit, bis ich begriff, was geschehen war; respektive geschehen sein konnte. Erst, als ich den roten Ball neben mir entdeckte, der inzwischen von Kugeln zerfetzt war, begriff ich es. Ich kroch hektisch aus den raschelnden Büschen, dahin, wo wir vorhin gespielt hatten.

      An der Stelle lag Chevaron vor mir auf der Erde. Seine feinen Kleider, die er extra für meinen Geburtstag hatte anziehen dürfen, waren mit rot umrandeten Löchern übersät. Bei genauerem Hinsehen bemerkte ich durch sein zerrissenes Hemd, dass sein Bauch über der Hose aufgeplatzt war und überall Feuerameisen herumwuselten.

      „Chevaron?“, japste ich entsetzt, ahnend, dass er tot war.

      Auch alle anderen Kinder, die mit mir gespielt hatten, lagen um ihn herum im feuchten Morast! Meine Kraft ließ augenblicklich spürbar nach. Ich kippte nach hinten; die Ohnmacht nahm mich wiederholt in ihren wiegenden Armen auf. Ich registrierte nicht einmal mehr, wie mein Oberkörper auf dem Waldboden aufschlug. Auch nicht, wie das Militär mein geliebtes Nuevo Alumbrado samt Hacienda meines Onkels anzündete, wie es loderte und knackend in sich zusammenbrach, es auf bizarre Weise die sternenklare Nacht erhellte, ebenso wie in Dutzenden anderer kleiner Dörfer in den Tiefebenen der Ostkordilleren. Trotzdem wurde ich in dieser Nacht erwachsen, so erwachsen, wie ein Mädchen mit neun Jahren nur werden kann.

      Denn, als ich das nächste Mal erwachte, lag ein unrasierter, keuchender Mann auf mir. Ein Soldat, der aus jeder Ritze seiner Uniform stank, sodass mir speiübel wurde. Allerdings war es wohl auch der Grund, weshalb ich wieder das Bewusstsein erlangte.

      Der Mann schob gerade seine glitschige Zunge lüstern in meinen trockenen Mund, als mir dämmerte, was mit mir geschah.

      Ich presste meine Lippen aufeinander.

      Er meinte keuchend: „Stell dich nicht so an, Kleines, ich werde dir nicht weh tun!“, wieder drückte er seine Zunge zwischen meine Lippen.

      Ich konnte das feuchte Etwas an meinen Zähnen fühlen und wollte schreien.

      Der Soldat hielt mir plötzlich die Nase zu, dass ich mit dem Mund nach Luft schnappen wollte.

      Stattdessen bekam ich nur die faulige Luft seiner Lungen von