Oliver Trend

Gebrochenes Schweigen


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Ich roch das verbrannte Fleisch, das nach Metall schmeckende Blut; stand mit meinem weißen Hut mit der rosa Schleife in den Händen haltend da, ohne etwas tun zu können, außer zu schreien: Es war das Einzige, was ich wirklich machen konnte! Plötzlich wurde ich von einem kräftigen Arm niedergedrückt, mit dem Kopf in die feuchte Erde, sodass mir die Luft wegblieb. Ich hörte, wie er mit den Händen die Unterwäsche zerriss, worauf ich einen heftigen Stich zwischen meinen Schenkeln verspürte. Es brannte, als würde Feuer in mich eindringen.

      Es musste bereits Mittag sein, als die Tür hektisch aufgeschlossen und danach grob aufgestoßen wurde. General Morillias und die Nonne betraten zusammen mit einem Arzt das Zimmer. Ich vernahm in meinem weichenden Dämmerzustand die leicht hallenden Schritte, raschelnde Kleider und probierte, mich sogleich mühsam im Bett aufzurichten. Das Tageslicht stach in meinen Augen. Ich blinzelte mehrmals, ohne den gewünschten Erfolg zu erzielen, stattdessen füllten sich meine Augen mit Tränenwasser. Trotz des Gefühls, ausgeruht zu sein, schaffte ich es nicht, mich ganz aufzurichten. Ich sackte keuchend vor Anstrengung zurück ins Kissen. Mein Kopf pochte, als sei er eben gerade geplatzt, und weil das alles zu viel für mich war, schluchzte ich still. Die warmen Tränen rollten über meine Wangen, als sich der Arzt über mich beugte und eindringlich begutachtete. Und ich weiß nicht, warum, aber mit den hektischen Gestiken des Arztes kehrten auch die Erinnerungen an die Geschehnisse, die mir die üble Wunde am Schädel zugefügt hatten, zurück.

      Der Arzt hielt mir ein Licht in die Augen, dass es bis in mein Gehirn stach. So schwoll mein erst leises Weinen rasch zu einem lauten Heulen an; die Furcht vor weiteren Misshandlungen gewann rasch an Kraft in mir. Der Arzt schob mein Haar beiseite und entdeckte das unförmige Feuermahl an meinem linken Ohr.

      „Oh, eine Gezeichnete!“, meinte er daraufhin nur abschätzig und machte mit seiner Arbeit weiter. Nach einigen Minuten richtete sich der Arzt auf und drehte sich zum General um – ein hoch gewachsener Mann mit stechenden Augen, die in einer prägnant hohen Stirn eingelassen waren.

      Die dunklen Augen ruhten auf mir, als sich seine schmalen, fast femininen Lippen plötzlich bewegten. Er bat mich höflich, aufzuhören zu weinen, zwinkerte mir gar zu.

      Aus einer mir unergründlichen Tatsache heraus, hörte ich prompt auf und glotzte ihn mit geschwollenen Augen an. Wahrscheinlich lag es an seiner tiefen Stimme, die mir irgendwie Wärme und Sicherheit vermittelte, oder dem Zwinkern, ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung!

      „Sie wird wieder!“, diagnostizierte der Arzt abwesend, während er in seiner mitgebrachten Tasche nach einer Arznei kramte. „Dreimal am Tag, zwei von diesen hier“, und streckte der alten Ordensschwester dabei einen Beutel mit Tabletten hin.

      Anfangs starrte sie nur drauf, ohne Anstalten zu machen, ihn an sich nehmen zu wollen.

      „Nehmen Sie schon, Schwester Lucia, es ist in Gottes Interesse!“, er blickte rasch nach oben, als würde es etwas ändern.

      Zögerlich nahm Lucia den Beutel an sich. Sie schielte kurz zum General und hernach zu mir herüber, ehe sie wieder den Arzt anschaute. „Gracias“, entgegnete sie kaum hörbar und nickte ihm zu, dass sie verstanden habe.

      Der Arzt drehte sich nun zum General und erklärte trocken: „Eine Woche, dann ist sie wieder auf den Beinen, General Morillias, ich verspreche es Ihnen. Vielleicht wird sie noch Kopfschmerzen haben, aber auch das wird mit der Zeit verschwinden. Das kommt von der Gehirnerschütterung, die sie erlitten hat.“ Danach wandte er sich wieder an Schwester Lucia und meinte spöttisch, „und sonst werden Sie es schon mit Ihren Gebeten richten, verehrte Schwester!“, grinste selbstgefällig und winkte ab, „oder wird sich die alte Maselda um die Kleine kümmern?“

      „Mmmhh … bueno, bueno, das höre ich gerne“, nickte Morillias indessen mit erhellter Miene der Nonne zu, die sich sogleich mir zuwandte, ohne dem Doktor eine Antwort zu geben.

      Der General blickte sie eine Weile eingehend an und antwortete für sie: „Sie konnte noch nie jemandem etwas zu leide tun – darum beschränkt sie sich wohl auch darauf, allen zu helfen – bis zu ihrem Tod! Und Maselda …“, er schüttelte angewidert den Kopf, als würde ihn schon der bloße Gedanke an sie abstoßen, „ja, die hat der nackten Wahrheit bereits ins Antlitz geblickt! Nicht wahr, Schwester Lucia? Unsere reizende Maselda weiß, dass es nicht nur Gottes Kinder auf dieser Erde gibt!“

      Als die Nonne auch dieses Mal nicht antwortete, schmunzelte der General zufrieden und klopfte dem Doktor kumpelhaft auf die Schultern. Daraufhin verließen sie zusammen das Zimmer, ohne weiter auf die Schwester oder mich zu achten.

      Obschon ich wieder weinte und mich im Kissen versteckte, hörte ich, wie sie beim Weggehen von der gestrigen Nacht sprachen. Ich erinnere mich noch, als wäre es eben gewesen. Erinnere mich an das Kissen, ja, dieses wunderbare Kissen, welches nach frischer Seife roch, die mir erst auffiel, als ich den Kopf darin eingrub. Ich atmete einige Male tief ein, während ich meine Augen geschlossen hielt; einen einzigen Augenblick war ich wieder zu Hause in Nuevo Alumbrado, zu Hause in der Hacienda meiner Eltern, in meinem Zimmer.

      Als mich im nächsten Moment eine kalte Hand berührte, platzte die Illusion. Ich öffnete meine Augenlider, so gut ich es vermochte und blickte in das Gesicht der Schwester. Es verschwamm langsam, ich weinte erneut.

      „Es wird alles gut, Kind! Gott lässt nichts geschehen, was nicht für einen vorgesehen ist!“, ein trauriges Lächeln umspielte ihre ausgetrockneten Lippen, während sie mir sorgfältig die Tränen mit einem weißen Tuch wegwischte. „Glaube mir ruhig, Kind, ich weiß es genau!“, sie drehte sich um und nahm den Beutel mit den Tabletten.

      „Die brauchst du nicht, Kleines. Sie sollen nur dafür sorgen, dass dein Wille gebrochen wird!“, mit diesen Worten ließ sie den Beutel in ihrer passend dazu raschelnden schwarzen Kutte verschwinden. Das Lächeln, welches sie mir nun schenkte, wo sie sanft mit ihrer linken Hand über meine Stirn streichelte, besaß eine unfassliche Barmherzigkeit.

      Ich hörte auf, zu heulen und zu schluchzen. Ich fühlte mich plötzlich geborgen und brachte erstmals seit gestern ein schüchternes Lächeln zustande. Ihre starke Präsenz lullte mich angenehm ein; ich ließ es geschehen.

      „Ich werde dir helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Du darfst dir keine Sorgen machen, alles ist in Ordnung! Du musst nicht auf die Worte des Doktors hören oder gar die von General Morillias! Sie versuchen nur, deinen Verstand zu trüben, deinen Geist zu vergiften und deine Seele zu schänden!“, Schwester Lucia streichelte mich erneut mit sanften Berührungen; ein Lächeln stahl sich in ihr faltiges Gesicht. Ihre Augen strahlten eine Gutmütigkeit aus, die sich tief in mich hineinbrannte.

      „Ich werde auf dich aufpassen, Kind, ich verspreche es dir im Beisein unseres geliebten Herrn!“, und als wären diese Worte das Zeichen gewesen, stach es heftig in meinem Unterleib, als wäre er vom Blitz getroffen worden. Ich krümmte mich stöhnend und nach Luft schnappend im Bett zusammen.

      Schwester Lucia fragte besorgt, was los wäre, als ich ihr nicht sofort antwortete, mich stattdessen nur vor Schmerzen zusammenzog, riss sie unsanft die Decke von meinem Körper. Zwischen meinen Oberschenkeln war alles voller Blut!

      Der Schmerz zwischen meinen Beinen klang langsam ab. Lucia setzte sich am nächsten Morgen zu mir ans Bett und erklärte mir behutsam, dass Mädchen ab einem gewissen Alter dort unten bluten und sie das die Menstruation nennen würden. Alles wäre völlig in Ordnung mit mir. Sie erläuterte es mir mit einer Selbstverständlichkeit, wie ich sie zuvor nicht kannte.

      „Keine Sorge, du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen!“, erklärte sie mir einfühlend und strich mit ihren schwieligen Fingern durch mein langes Haar. „Bei vielen Frauen lässt der Schmerz mit den Jahren nach, du wirst sehen!“

      Ich starrte währenddessen gedankenverloren auf ein seltsames Bild, welches mit der hinteren Wand zu verschmelzen schien.

      Lucia folgte meinem Blick und räusperte sich. „Das ist ein Fresko. Ein Bild, das direkt auf den frischen Verputz aufgetragen wird, auf die Mauer sozusagen. Es zeigt den Erbauer dieses Klosters, den spanischen Konquistador Felipè Melidas, der anno 1511 mit acht weiteren Schiffen an der heutigen Küste Venezuelas strandete