Peter Padberg

Tarris


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      König Geminiano war in der großen Kathedrale zwischen Händlerviertel und Königshallen aufgebahrt worden. Tausende von leuchtenden Kerzen gaben der Kathedrale, die von innen mit dunklem Marmor ausgekleidet war, ein Ehrfurcht erbietendes Aussehen. Der König war in weiße lange Gewänder gekleidet und auf seiner Brust befand sich das Wappen der Könige des Südens: Die Handelskogge über den gekreuzten Speeren. Zur Mittagszeit würden die Tore der Kathedrale für die Bürger geöffnet, damit sie Abschied von ihrem König nehmen konnten. Auch wenn Geminiano während seiner Untätigkeit in den letzten Jahren nicht sehr beliebt war, hatten sich bereits lange Reihen wartender Homuae aus allen Gesellschaftsschichten gebildet. Gannio und Gandaros standen auf beiden Seiten des Sarges und blickten auf den König, der zum ersten Mal seit langer Zeit wieder Würde ausstrahlte. Unter dem in die Kleidung eingestickten Wappen hielt er sein Schwert in beiden Händen. Dieses würde er jedoch nicht mit auf seine lange Reise nehmen, sondern es würde Gannio bei der Krönung überreicht werden.

      Gandaros und Gannio standen schweigend an den beiden Seiten des Sarges und beide waren festlich gekleidet. Soweit Gannio sich erinnern konnte, trug Gandaros zum ersten Mal die weiße Robe mit den goldenen Stickereien, die dem Anführer der Gemeinschaft der Erfahrenen vorbehalten war. Gandaros, der keinen Hut trug, hatte seine langen grauen Haare in einen dicken Zopf gebunden, in dem sich kleine blaue Edelsteine befanden. Gandaros sah genau so aus, wie sich jeder einen mächtigen Magae vorstellte. „Prinz Gannio, ich werde Euch bald verlassen müssen, da wichtige Aufgaben in Hornstadt und den großen Städten von Tarris warten. Der hohe Rat selbst und die Gemeinschaft der Erfahrenen wird unsere Ansicht über die Gefahren aus dem Nordosten auf ganz Tarris verbreiten und wir werden versuchen, möglichst viele Verbündete zu finden, die der Gefahr gemeinsam Widerstehen wollen. Aber ich habe auch eine weitere wichtige Aufgabe. Vielleicht erinnert Ihr Euch daran, was ich Euch im ersten, kleinen Teil Eurer magischen Ausbildung über die vier großen Artefakte erzählt habe. Falls es zu einem Konflikt kommen sollte, wären sie eine große Hilfe gegen die Mächte, die gegen uns kämpfen werden; allerdings sind immer noch einige der großen Artefakte verschollen und der Rat ist intensiv auf der Suche nach ihnen. Ich hoffe, dass in den Geheimen Bibliotheken der Universität von Napoda Hinweise existieren, die verraten, wo sich die Artefakte befinden könnten. Gebt Ihr mir die Genehmigung, dort zu suchen?“

      „Was für eine Frage, Gandaros! Selbstverständlich könnt Ihr in jedem Winkel von Napoda suchen, in dem ihr suchen möchtet. Aber Ihr wisst, dass es gefährlich ist? Die Geheimen Bibliotheken befinden sich tief unter dem Meeresspiegel und der einzige Weg dorthin wird von Kreaturen bewacht, die niemandem Rechenschaft schuldig sind und auch den Befehlen des Königs selbst nicht folgen. Allerdings akzeptieren sie ihn als jemanden, der die Geheimen Bibliotheken besuchen darf. Im tiefsten Untergeschoss der Bibliotheken der Universität befindet sich ganz am Ende der Räume eine große Höhle, die Ihr durch eine Falltür erreichen könnt. Nehmt ein Seil mit, sonst werdet Ihr beim Rückweg große Schwierigkeiten haben. Folgt der Höhle in die Richtung, in der der Bewuchs der Wände mit Flechten immer mehr zunimmt und Ihr werdet auf einen schmalen Gang stoßen. Dieser ist sehr lang, führt aber an seinem Ende in die Geheimen Bibliotheken. Seid vorsichtig, sobald Ihr den Gang betretet, denn ab dort müsst Ihr damit rechnen, auf die Wächter zu treffen.“ Gannio griff nach der Hand seines toten Vaters und zog von dem frisch manikürten Mittelfinger einen schlicht wirkenden Ring mit einem roten Stein ab, aus dem die Handelskogge des Wappens fein herausgearbeitet war und bot ihn Gandaros dar. „Nehmt diesen Ring, Gandaros. Die Wächter kennen ihn und sie werden Euch als jemanden erkennen, der im Sinne von Napoda die Geheimen Bibliotheken aufsucht. Aber auch dieser Ring bietet Euch keine absolute Sicherheit.“ Gandaros nahm den Ring entgegen und steckte ihn auf seinen eigenen Mittelfinger. „Habt Dank, Prinz Gannio! Ihr werdet Euch nun bald als König beweisen müssen. Dies wird für Euch eine spannende und schwierige Zeit werden. Vergesst darüber aber nicht, Eure magische Ausbildung fortzusetzen. Übt jeden Tag mit Lady Zola! Es ist wichtig, dass Ihr vorbereitet seid, wenn die Magie sich gegen Euch auflehnt. Es gibt nur einige Handvoll von Homuae, die den Kampf gegen die Magie ohne Vorbereitung überstanden haben – und ich möchte Euch nicht verlieren! Wenn Zola denkt, dass Ihr genug gelernt habt, kommt unverzüglich zum Tarutos. Nur dort könnt Ihr die magische Ausbildung abschließen und Ihr müsst dies tun, wenn Ihr Eure Stadt gegen Magae verteidigen wollt, da Zola Euch nicht bis in alle Ewigkeit zur Verfügung stehen kann. Auch werdet Ihr ein Mitglied des Bundes der Erfahrenen, wenn Ihr die Ausbildung abgeschlossen habt und dies wird Euch dabei helfen, dass Napoda weiterhin eine blühende Handelsmetropole bleibt! Aber nun möchte ich Euch nicht weiter mit Ermahnungen von Eurer Trauer abhalten. Ich mache mich auf den Weg zur Bibliothek.“ Gandaros wandte sich um und ließ den jungen König, dem er viel zutraute, mit seinem toten Vater alleine.

      Erstes Erwachen

      Das Frühjahr des Jahres 3217 n.d.A. war angebrochen und bereits einige Monate waren seit Fanirs Gespräch mit Gandaros vergangen. Es war früher Morgen und Fanir saß zusammen mit Maurah auf der Holzbank vor dem Haus von Maurahs Eltern. Sie waren wegen der Kälte in dicke Decken eingewickelt und beobachteten, wie eine dunkle Gestalt die Hauptstraße von Hornstadt hinaufkam und sich ihnen näherte. Karameen sah genau so aus, wie er sie in Erinnerung hatte: Rote Augenklappe und rote Lippen, alles andere an Ihr war ein tiefes Schwarz. Und sie schien keinen Tag gealtert zu sein. Sie bewegte sich geschmeidig und wirkte trotz ihrer eher zierlichen Statur auf eine verblüffende Weise stark. Karameen kam die leicht ansteigende, wegen der langen Trockenheit staubige Straße hinauf und ging mit zielsicherem Schritt direkt auf Maurah und Fanir zu. Je näher sie kam, desto deutlicher konnten Maurah und Fanir die dicken Staubschichten auf ihrer Kleidung und ihrem Haar erkennen, die auf eine lange Reise hindeuteten.

      „Guten Morgen Kinder! Habt Ihr etwas Heißes zu trinken für eine alte Frau? Es war doch recht kalt die letzten Stunden vor dem Morgengrauen und ein Tee würde mir mit Sicherheit gut tun!“ Maurah sprang von der Bank auf und umarmte Karameen wie eine alte Freundin. Beide lächelten sich an und Fanir konnte die Vertrautheit zwischen ihnen förmlich in der Luft spüren. Nach der Umarmung wandte Sie sich mit einem freundlichen Stirnrunzeln an Fanir: „Nun ist es also auch bei Dir so weit.“ Ihr prüfender Blick schien durch seine Augen hindurch in seinen Kopf zu wandern und plötzlich explodierte ein freundliches und warmes Gefühl des Willkommenseins in seinem Kopf. Er bekam kaum noch Luft, so überrascht war er über dieses ihm bis dahin vollkommen unbekannte und überwältigende Gefühl. Die Worte, die Karameen parallel zu dieser besonderen Begrüßung sprach, nahm Fanir kaum wahr. „Herzlich Willkommen bei uns! Ich freue mich auf eine gute gemeinsame Zeit, mein Kleiner!“ Umso deutlicher nahm jedoch Maurah diese Worte wahr, über die sie mindestens genauso verblüfft war wie Fanir über die besondere Art der Begrüßung. Fast versagte ihr die Stimme, als sie sich mit weit aufgerissenen Augen an Karameen wandte: „Was meinst Du mit willkommen bei uns? Was hat das zu bedeuten?“. Karameen ließ Ihre Blicke zwischen den beiden Freunden mit einem Lächeln hin und her schweifen. Dann senkte sie ihre Stimme verschwörerisch und sagte: „Lasst uns ins Haus gehen und den Tee trinken. Ich denke, ich bin Euch eine Erklärung schuldig.“

      Im Haus war es warm und hell. Der Küchentisch aus schwerem, dunklem Holz glänzte in der noch tief stehenden Sonne, die durch das kleine Fenster hereinströmte. Man konnte die Staubkörner in der Luft im Sonnenlicht erkennen. Der ganze Raum strahlte Geborgenheit und Gemütlichkeit aus. Dies wurde durch den dampfenden Tee, den Maurah für alle drei auf den Tisch stellte, noch gesteigert. Alle drei setzten sich schweigsam an den Tisch. Während Karameen angestrengt überlegte, was sie sagen sollte – und durfte, sahen Maurah und Fanir sie aufmerksam und gespannt an. Karameen schlürfte geräuschvoll an dem dunklen Tee. Die Farbe von Ihren Lippen hinterließ einen roten Abdruck auf dem Gefäß. „Ihr wisst beide, welche Gefahren Tarris drohen. Gandaros hat es Dir ausführlich erklärt, Fanir!“ Sie sah ihm prüfend in die Augen, als ob sie feststellen wollte, dass er auch tatsächlich den Ernst der Situation erkannt hatte. Er bekundete durch ein kurzes Nicken, dass es so sei und hing weiter aufmerksam an ihren Lippen. Karameen ließ den Blick hinüber zu Maurah wandern. „Wir beide, Maurah, haben uns schon oft über die drohenden Gefahren unterhalten und auch schon über viele der Hintergründe diskutiert. Im Wesentlichen geht es darum, dass einige sehr