Christa Müller

Tango ohne Männer


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schrieb sie, "wenn ich Fehler gemacht haben sollte, warum sagt man mir das nicht ins Gesicht? Warum so hintenherum?"

       Sie nannte ihren Zustand den eines gehetzten Tieres.

      II 1

      Elsas Schwestern warteten nicht mehr am Tor des Südfriedhofs, waren längst beschäftigt, mit Muttertagsgebinden den Hügel zu beschweren, der übers Jahr hin eingesunken war. So nahm Elsa den Weg dorthin allein, und es war ihr Recht, und wo sie ging, glich der Friedhof einem alten, verwildertem Park. Die Grabsteine schienen sich verwurzelt zu haben. Aus immergrünem Dunkel blickten Engel sie an, als seien es sie, die Eintritt in die Ewigkeit gewährten.

      Sie lächelten friedvoll. Eidechsen huschten von ihren Zehen. Einer erstickte die Fackel neben seinen Füßen als sei eine ermüdende Arbeit getan. Käme er doch so, dachte Elsa. Wieder sah sie im Geiste das Ringen der Mutter, ihren schwitzenden Leib, die geschwollenen Lider, den nach Luft schnappenden Mund. Zu ihr waren andere Gestalten gekommen.

      Wo bist du, Mutter?

      Sie hatte sie im Sarg gesehen. Das Gesicht klein und flach, das Haar nach dem Tode ergraut, die gekreuzten Hände wächsern, lag sie hinter Glas wie in einem erleuchtetem Schaufenster.

      Der Sarg stand auf einer Maschinerie, heraufgefahren wie im Theater aus der Versenkung, von einem Ort, zu dem Hinterbliebene keinen Zutritt haben. Dorthin fuhr er zurück, als die Zeit der Besichtigung um war.

      Karl war in der anspruchslosen, nun ausgedienten Leichenhalle aufgebahrt worden und Elsa hatte ihn anfassen können. Vor ihren Augen wurde der Deckel auf seinen Sarg geschraubt. Elsa sah, wie sie den Wagen hereinfuhren, sah die Routine der Handgriffe, die schäbigen schwarzen Fräcke, die zerschlissenen Zylinder der Männer, die diese Arbeit taten. Es war gut für Elsa. Ihm musste sie nicht nachfragen. Er war durch all dieses bei ihr.

      Die Mutter aber hatte wie ein altes Schneewittchen, hinter einer Mauer aus Glas gelegen, von der sich Elsa, gedrängt von Elisabeth, fortbewegte, als ein Geräusch sie sich umblicken ließ: Eine Samtportiere schob sich von innen vor die Scheibe. Elsa erhaschte, wie der offene Sarg im selben Moment zu sinken begann. Es war wie ein Gaukelspiel. Zur Feierhalle waren es wenige Schritte und als sie die zurückgelegt hatte, stand er dort schon fremd und verschlossen zwischen brennenden Kerzen und war mit Blumen beladen. Wie ging das so schnell? Ihre Seele suchte die Mutter in dem Verließ, das vor ihr stand und fand sie nicht, weil sie nicht wusste, was zwischen jenem Moment, da sie sich abgewandt hatte und diesem, da sie auf das lichtlose Schwarz der samtenen Sargdecke starrte, sich zugetragen hatte.

      Elsa streifte durch das grüne, von Engeln bevölkerte Labyrinth und sprach mit der Toten. Mutter! Steh mir bei! Maria bringt vielleicht jetzt ihr Kind zur Welt. Ach hilf mir, tröste mich doch! Was wird aus uns werden? Ein marmorner Engel balancierte auf seinem Landeplatz, die Flügel noch nicht zusammengelegt. Mohnkapseln in den Händen kam er zu einem Weibe, das trostlos die eigenen Knie umschlang. So jung war ich auch, als ich Herbert verlor. Sie sagte es zu dem Marmorbild, das im Licht lebendig erschien. Es ist nicht wahr. Das Leben geht nicht weiter. Irgendwie lebt man. Aber das Wichtigste fehlt. Als hätten sie dir das Herz aus der Brust gerissen.

      Ein Amselhahn flog auf den Scheitel des Weibes, drehte den Kopf und blickte und nickte, als wolle er Elsa bedeuten sie solle ihm folgen. Er lockte sie zu einer Lichtung. Rhododendron stand schwarz, und ein Engel aus blassem Stein umfasste dort eine Frau. Die wollte nicht mit ihm. Ihr Kleid war zerrissen, die Brust entblößt. Sie strebte aus seiner Umarmung heraus. Der Engel hielt sie, als führe er sie zum Tanz. Unnachgiebig.

      Elsa floh aus dem Dickicht.

      Als sie anlangte, wo die Mutter lag, erhoben sich wie schwarze Vögel die Schwestern vom Grab.

      Natürlich war alles getan. Man konnte gehen. Sie nahmen zusammen nun den kürzesten Weg und hatten sich nichts zu sagen.

      In der ratternden Straßenbahn schrie Luise in Elsas Ohr: Ich besuche dich morgen. Elisabeth schrie von der anderen Seite: Ich hole sie nach dem Dienst bei dir ab!

      Die Bahn hielt. Elsas Schwestern stiegen aus.

      Das haben sie prima gedeichselt! Deshalb haben sie auf mich gewartet.

      Als Elsa über feuchte Mörtelfladen und abgestelltes Gerät zu ihrer Haustür vordrang, stellte sie fest: Der Wilde Wein war von der Friedhofsmauer gerissen und die Stufe vor der Tür lag unter Schutt.

      Aber das Fenster hatten sie zugemauert. Dieses Fenster! Als Herbert das Obergeschoss der Firma "Noa - Lacke und Farben en gros" zur Wohnung ausbaute, setzte er von innen nur Sauerkrautplatten vor die Scheiben dieses Fensters. Es lag über der Haustür, hatte seinerzeit der Stiege trübes Licht gespendet. Besser, er hätte es gleich vermauert. Wegen der Kälte. Überhaupt hätte er auf die Nische verzichten sollen, die er im Wohnzimmer gewann, als er bei jenem, nun zugemauertem Fenster den Fußboden ins Stiegenhaus hinauszog und so die "Leseecke" entstand, in der es zum Lesen zu dunkel und winters dazu noch eisig war.

      Es war ein Lagerraum, den er mit Wänden aus Sauerkrautplatten zu Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad umbaute.

      Als sie die Tür aufschloss, erblickte Elsa Bananen. Die Großmutter hatte sich angestellt. Drei Bananen pro Person. Die legte sie ihr auf die Treppe.

      Noch immer kein Telegramm von Maria!

      Im tiefsten Herzen hielt Elsa das kommende Kind für ein Unglück. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Maria es gewollt haben könnte, und sie hielt, was sie dachte im Grunde ihres Herzens für Sünde. Ein Kind durfte niemals ein Unglück sein. Doch die Sorge, dass es das war, bereitete ihr Schlaflosigkeit. Vor allem die Frage: Wer ist sein Vater? Vielleicht ein Russe? Im August letzten Jahres war Maria nach Moskau gefahren. Hatte dafür das Geld rausgeschmissen, das der Verkauf des Teublerschen Schlafzimmers abwarf, das der Enkelin zugestandene Erbteil. Elsa verteidigte die Tochter vor Elisabeth und Luise, die meinten, Maria solle lieber an ihre Ausbildung denken und an ihr armes Kind, Elsas Herzelein. Reisen könne sie, wenn sie selbst Geld verdiene.

      Mein Gott, ein Russe! Maria hatte zu Ostern auf die Frage nach dem Vater des zu erwartenden Kindes geantwortet: Er ist in Moskau. Sie hatte es in jenem abweisenden Ton gesagt, den Elsa fürchtete, und sie fragte nicht weiter.

      Nein, sagte sich Elsa. Kein Russe! Der Gedanke wäre nicht auszuhalten gewesen. Ein Student! Man sieht sich jeden Tag, verliebt sich. Vielleicht heiraten sie. Hoffentlich.

      Ein neuer Gedanke beunruhigte sie. Letzten November war Maria in Leipzig. Von früh bis Mitternacht saß sie im Kino. Obwohl sie zu Hause schlief, sah Elsa sie nur, wenn Maria in der Mittagspause ins HO-Warenhaus kam, um in der Kantine ein billiges Essen in sich hineinzuschlingen, das Elsa ihr besorgte. Maria hatte sie gebeten, ein paar Studenten mitbringen zu dürfen, und war anderntags mit einem buntscheckigen Häuflein Ausländer erschienen.

      Als Elsa jetzt schlaflos lag, war sie sich plötzlich sicher: Unter diesen musste der sein, von dem das Kind war. Der Neger?

      Um Gottes Willen nicht! Das war ein Stoßgebet. Etwas in ihr dachte: Vielleicht stirbt das Kind. Vielleicht verträgt sich Marias Blut nicht mit seinem. Dieses Denken tarnte sich als Sorge. Es irrlichterte durch ihr Fühlen, ohne dass sie es abweisen konnte. Sie hatte Furcht, sich das Kind vorzustellen, noch größere Furcht, es eines Tages ihren Schwestern zeigen zu müssen.

      Es war längst hell. Seit einer Stunde klopften die Arbeiter dem Haus an seiner dem Friedhof zugewandten Seite den Putz ab. Elsa wälzte sich im Bett herum. Maria ging heute den vierzehnten Tag über die Zeit. Oder das Kind war nun da. Erhebe dich, du schwache Frau ..., ermunterte sich Elsa nach eingeschliffener Gewohnheit. Sie kam nicht, ohne zu weinen, durch diesen Morgen. Anette würde über Pfingsten im Heim bleiben müssen. Wer hätte sie versorgen sollen, wenn Maria in der Klinik war. Elsa hatte sich gewünscht, dann zur Stelle zu sein.

      Die Großmutter brachte Wäsche. Elsa atmete den Duft, der von dem Bündel ausging, sah die Akkuratesse, mit der Zipfel auf Zipfel lag. Auch ausgebessert hatte die Alte die Stücke. Verlor kein Wort darüber. Geld ließ sie sich nur für die Milch aufdrängen. Wenn du zu viel hast, sie lachte,