Christa Müller

Tango ohne Männer


Скачать книгу

in Tinte trug, in die Kiste, die für Briefe und Papiere bestimmt war, die ich behalten wollte. Nach Jahrzehnten ist mir das Heft in die Hände gefallen. Ich vertiefe mich in Elsas Schrift, einem Gemisch aus Sütterlin und Latein, das meine Kinder schon nicht mehr entziffern können.

       Sie hat sich an jenem Silvestertag, an dem ich sie allein ließ, weil ich wegen eines Missverständnisses über ein Schaukelpferd mit Anette nach P. zurückfuhr, hingesetzt und eine Art Protokoll über ihre Arbeitssituation geschrieben. Sie hat es noch bis zum Mai fortgeführt, um sich gegen etwas zu wehren, das sie in ihrer Daseinsberechtigung infrage zu stellen schien und dessen zermürbende Wirkung sie an Leib und Seele spürte.

      Silvester 59

      Sechs Tage vor Heiligabend, im Hochbetrieb, gab es Krach. Sienitzki, der Fatzke, bildet sich ein, nur er darf drei Kunden gleichzeitig bedienen, ich aber nur einen! Jedenfalls, mein Kunde wurde vom Schneider abgekleidet, mit dem die Änderungen besprochen waren, danach zog er noch einen Anzug an. Inzwischen ging ich auf den nächsten Kunden zu. Sienitzki schrie mich an: Bleib bei deinem Kunden, bis du fertig bist! (Er bediente Zwei gleichzeitig und noch Zwei hatte er in den Kabinen. Also v i e r Kunden!) Ich ging zum Packtisch, beklagte mich bei Kollegin Neidhard, unserem Vertrauensmann, über diese Bevormundung. Sienitzki aber bläkte über die Anzugständer hinweg durch die ganze Abteilung: Und nebenbei! Sie bedient die Kunden ordinär! Er sagte: o r d i n ä r. Ich weiß nicht, was er damit meint. Er denkt wahrscheinlich, eine Frau gehört nicht in die Herrenkonfektion. Es kommt schon mal vor, dass man einen Kunden in Unterhosen antrifft, wenn man in die Kabine sieht, ob er zurechtkommt. Als ginge deshalb die Welt unter. Was sollte daran ordinär sein. Ich habe diesen Schimpf vor allen Kollegen und Kunden über mich ergehen lassen müssen. Weinend lief ich zu Herrn Weichsel, unserem Abteilungsleiter. Beruhige dich, sagte er. Das werden wir bereinigen.

      Sonntag hatten wir geöffnet. War ja vor Weihnachten. Ich wartete früh auf eine Aussprache. Ich sah dem Kollegen Weichsel von Weitem zu. Er sprach mit Kollegen Sienitzki. Schließlich hörte ich ihn sagen: Ich wünsche, dass nicht vor der Kundschaft diskutiert wird. Sienitzki sagte deutlich: Ich lehne sie ab! Ich will nicht mit ihr arbeiten. Und dann nannte er mich wieder ordinär!

       Sienitzki, der Fatzke! Ich hatte ihn wieder vor Augen. Typ eines Eintänzers. Nach Rasierwasser duftend, verbindlich unter der Schmalztolle lächelnd wenn er auf Kundenfang ging. Er hatte interessiert meine Beine gemustert, was Elsa veranlasste, ihn in Abwesenheit „Fatzke" zu nennen.

      10.Januar

      Es gab keine Aussprache. Ich hatte Urlaub ab Weihnachten bis zum dritten Januar. Als ich zurückkam, war ein neuer Kollege dazugekommen, Kollege Hertha. Er kam aus der Mantelabteilung und war schon ins Bild gesetzt vom Kollegen Sienitzki. Sie wollen, wie ich hörte, fünf Jahre zusammen gearbeitet haben. In Industriewaren, gegenüber in der Peterstraße.

      Am Samstag nach Neujahr war viel zu tun. Kollege Sienitzki bediente frech einen Kunden, dem ich Platz angeboten hatte. Ich hatte eine Anzahlung abzuwickeln. Als ich damit fertig war, schrieb Sienitzki meinem Kunden schon den Kassenzettel aus. Ich sagte ihm, wirklich ruhig, dass es m e i n e Kundschaft gewesen sei. Er lachte und sagte: Das hättest du mir sagen müssen.

      Heute war der Umtauschsonntag für die Weihnachtsgeschenke. Gewöhnlich läuft das Geschäft da flau. Aber wir hatten schon früh jeder Handgeld. Ich hatte zwei Sakkos verkauft für zusammen zweihundert Mark und einen Anzug. Wir standen alle vorne am Packtisch. Kollegin Neidhard sagte: Dreht euch mal um! Ein Kunde lief an mir vorbei. Ich sprach ihn an. Er wollte einen Anzug geändert haben. Ich ging mit ihm in die Schneiderei. Sienitzki rief mir hinterher: Das ist m e i n Kunde. Die soll sich was schämen! Diese Hetzerei ging bis zum Abend so fort. Sienitzki und Hertha spielten sich die Kunden gegenseitig zu. Am Montag fragte mich Kollege Weichsel: Na, war gestern gut zu tun? Ich sagte: Einigermaßen. Hat aber wieder Krach gegeben. Ich schilderte es ihm. Da meinte er: Die beiden wollen dich kalt stellen. Na, sagte er, das soll ihnen nicht gelingen. Ich kenne dich lange genug und weiß, dass du eine gute Verkäuferin bist. Mittwoch früh wird die Sache bereinigt. Er sagte noch: Zeige doch deine Tränen nicht so! Ich sagte: Ich will es ja nicht. Es passiert einfach. Er sagte zum vierten Mal: Wir machen eine Aussprache.

       Kollege Hertha, ich erinnere mich. Er hatte ein verwaschenes Gesicht. Keine Kontur war mir darin wirklich fassbar. Seine Haut war so sommersprossig wie meine, schon deshalb mochte ich ihn nicht. Er hielt sich im Hintergrund, wenn ich Elsa in der Abteilung besuchte und seine Äuglein unter rötlichen Brauen huschten unstet über uns hin. Wenn ich ihn im Rücken hatte, spürte ich seinen Blick in meinem Nacken.

      17.Januar

      Die Aussprache fand nicht statt. Herr Weichsel kam erst gegen zehn. Hatte Geschäftliches. Die Aussprache fand aber auch abends nicht statt.

      30.Januar

      Vorgestern hat sich Kollege Weichsel offiziell zur Kur verabschiedete. Gestern war er noch mal in unserer Abteilung. Hat sich von allen Kollegen verabschiedet. Nur nicht von mir! Vielleicht fühlte er, dass ich ihn gefragt hätte, wann er nun meine Sache bereinigen wolle. Heute, nur einen Tag später, ist Hertha voll in Sienitzkis Fußstapfen getreten. Sagt er am Nachmittag während des Hochbetriebs: Kollegin Müller! Hier ist eine falsche Hose im Anzug! Da habe ich gesagt: Es sind die Ausverkaufsanzüge die auch Sie angehn. Er trumpfte auf als wäre er der Chef. Ich sagte nur: Wolln sie was von mir? Etwas später bediente ich eine Kundin mit Jugendweiheanzügen (eigentlich Konfirmationsanzüge). Aber sie trug das Abzeichen der SED, deshalb denke ich, sie wollte den Anzug zur Jugendweihe ihres Jungen. Ich gab der Kundin nacheinander drei Anzüge. Als ich fragte: Na, welcher gefällt denn?, steht Kollege Hertha da und sagt: Das ist meine Kundschaft! Nein, sage ich, die Kundin bediene ich. Ich frage die Kundin: Wer bedient Sie? Na, sagt sie, Sie! Fräulein. Wir fragten zwar zuerst ihren Kollegen. Er sagte, er habe augenblicklich drei Kunden, wir möchten hierher gehen. Als ich der Kundin den Kassenzettel ausschreibe, schleicht Hertha um uns herum und sagt plötzlich: Kollegin! Ich habe nachher mit Ihnen zu reden. Von wegen hier Provokation zu treiben! Die letzten Worte wiederholte er, laut und herausfordernd. Machen Sie, dass Sie fortkommen, sagte ich zu ihm. Meine Nerven waren am Zerreißen. Ich bat die Kundin mit mir zur Kollegin Bückeburg, sie ist meine Zeugin, in die Sakko-Abteilung zu kommen. Dort hat die Kundin den Hergang des Verkaufs bestätigt. Kollegin Bückeburg sagte: Geh gleich zum Kollegen Beier, unseren Hauptabteilungsleiter. Ich bat sie, mit mir zu kommen. Herr Beier sagte: Ich weiß schon alles. Kollege Hertha hat sich über dich beschwert. Wir machen morgen früh eine Besprechung. Ich sagte: Was? Der sich beschwert? Ich gehe mich beschweren! Kollege Weichsel hat zwei schwere Vorfälle zwischen mir und Sienitzki nicht bereinigt. Jetzt streckt auch noch der andere seinen Giftstachel nach mir aus.

      Morgen gehe ich zur Parteileitung, um mich zu beschweren. Kollege Bär, mit dem ich jahrelang im Verkauf gearbeitet habe, wird mir helfen, auch wenn ich nicht in der Partei bin.

       Weichsel! Der hatte mich zu Elsas Polterabend angegrapscht und mir ins Ohr geflüstert: bist gut beisammen, Mädchen. Ich war schwanger mit Anette. Das hatte mich voller werden lassen. Nehmen Sie ihre Pfoten weg, sagte ich. Er tat es ohne Widerspruch.

      5.Februar

      Ich war beim Arzt. Er sagte nur: Sie sind ja total fertig. Setzen Sie ein viertel Jahr aus. Ich werde Sie krankschreiben. Ich sagte: Soweit bin ich noch nicht. Geben Sie mir das schärfste Zeug zum Einreiben für den Nacken und ein starkes Schlafmittel. Ich will arbeiten. Ich habe ein Recht darauf, dass ich nicht beleidigt werde. Der Schlussverkauf hat mir immer große Freude gemacht. Darauf will ich nicht verzichten. Ich brauche ja auch das Geld.

      Ein paar Wochen später brach jener Hocker unter ihr zusammen.

       Von ihrer letzten Prämie für die Planerfüllung kaufte sich Elsa eine Bettumrandung, rosenholzfarben, gemustert mit grauen Würfeln. Als ich zwei Jahre später ihren Haushalt auflöste, fand ich die Läufer, kümmerlicher Ersatz für Liebe, zusammengeschnürt und ladenneu unter dem Ehebett.

       Am sechsten Mai, am Abend ihrer neuerlichen Krankschreibung, am Abend des Tages, an dem sie auf dem Weg zum Arzt beinahe unter ein Auto kam, legte sie das blaue Vokabelheft vor sich auf den Küchentisch und setzte