Christa Müller

Tango ohne Männer


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auf ihren Enkelsohn.

      Auf Annas Drängen hatte Kurt Briefe geschrieben. An Gott und die Welt und den Staatspräsidenten. Unterwürfige Briefe. Mit Raison. Er war ein kleiner, entnazifizierter Pegeh gewesen. Ohne Hoffnung fragte er nach dem Verbleib seines einzigen Kindes.

      Elsa rührte den Kuchenteig und hatte vor Augen, wie Horstl auf der Hochzeit Herbert und ihr Blumen gestreut hatte. Kurt schor ihm zu Feier des Tages den Schädel bis auf ein paar Stirnfransen. Sie erinnerte sich, wie sie Willi, der fünfzehn war und seit einem Jahr lange Hosen trug, damit neckte, dass er genauso ausgesehen habe wie Horst in seinem Matrosenanzug mit kurzen Hosen, mit Strümpfen, die Wasser zogen, mit seiner Ponyfrisur.

      Willi, der Bruder, war tot. Und Horst?

      Wir haben eines Tages aufgehört von ihm zu sprechen, dachte Elsa.

      Nein, Großmutter nicht. Sie hat mit Anna im Garten gesessen, in den Korbstühlen, die Horst lackiert hatte, und deren Farbe im Laufe der Jahre abblätterte.

      Wenn Großmutter sagte: Einen einzigen Wunsch habe ich. Ehe ich sterbe, möchte ich nach Russland zu Herberts Grab, antwortete Anna, ihr Kopf zitterte dabei heftig: Und ich zu Horstl. So redeten sie, obwohl sie nicht wussten, wo sie hätten suchen sollen.

      Am Nachmittag fuhr Elsa durch die beflaggte Stadt ins Krankenhaus.

      Elisabeth füllte massig den Raum zwischen Wand und Bett.

      Elsa setzte sich ans Fußende und betrachtete das seltsam faltenlos gewordene Gesicht der Mutter.

      In jenem Moment, als Elsa ihre Tränen unterdrückte und ihr Blick verschwamm, sah sie wo Elisabeth saß, einen Engel.

      Er war Elisabeth! Und war sie nicht. Er schien sich in ihrer Gestalt zu bergen und zu zeigen, glänzend und sich verdunkelnd.

      Elsa schloss die Augen und grub die Fingernägel in ihr Fleisch. Auf ihrer Netzhaut brannte das Geschaute: Der Engel, gehüllt in sein rabenschwarzes Haar, wandte ihr sein Angesicht zu. Vor seinem Ernst stammelte sie: Nein! Nicht mich! Bitte nicht ich .... Die Vision löste sich auf in zwei Tränen.

      Nur Elisabeth saß dort.

      Jener Mai neunzehnhundertsechzig hatte es in sich. Am fünften Tag nach der Maidemonstration pirschte Kollege Winter, Opa Winter, zwischen den Anzügen zu Elsa, sich vergewissernd, dass niemand sie zusammen sah, dass niemand sie hörte. Es ist was im Busch, raunte er. Sienitzki will, ich soll gegen dich reden. In der nächsten Produktionsbesprechung.

      Elsas Lider begannen zu flattern. Es ging also weiter. Vielleicht war der Verdacht des Alten nicht unbegründet gewesen, dass ein Bein des Hockers, der unter ihr zusammenbrach, beschädigt gewesen sei. Mutwillig. Wenn das ein Zufall ist!, hatte er damals gesagt. Und: Den Hocker sehe ich mir noch genau an, Elschen! Elsa hatte nichts davon hören wollen. Sie traute ihrem Kollegen Sienitzki alle Gemeinheiten zu, aber sie hatte in den Auseinandersetzungen mit ihm zu viele Federn gelassen und sich noch nicht erholt davon. Sie wollte Ruhe haben, nur Ruhe.

      Was ist los?

      Du hättest einen Kunden nicht gut bedient.

      Wer hat das gesagt?

      Der Alte hob beschwichtigend die Hände. Ich kann nichts gegen dich vorbringen.

      Da soll ein Mensch freudig seine Arbeit tun, murmelte Elsa.

      Hitze, die aus den Tiefen ihres Leibes zu den Wurzeln ihres Haupthaares aufwallte, nahm Elsa die Luft. Sie riss sich die Jacke herunter.

      Das Gefühl von Hinrichtung, Vernichtung, albtraumhaft, grauenhaft, ließ sich nicht herunterreißen. Sie war so mit Überleben beschäftigt, dass sie nicht hörte, wie der Alte zu ihr redete. Mein Gott, Elschen, reg dich bloß nicht so auf! Es wird doch nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

      Als die Glut sich milderte, war ihr, als sei ihr Nacken von Zangen gepackt. Wie kochende Lava floss es ihr von dort in die Arme, die sie nicht mehr rühren konnte, ohne zu schreien.

      An jenem Tag ging Elsa vorsichtig, jede Erschütterung scheuend, jede hastige Bewegung meidend, vom Neumarkt über die Schillerstraße zur Universitätsklinik in die Härtelstraße. Keinen Blick verwandte sie auf die Schaufenster der dem Kaufhaus benachbarten Läden. Sie sah nicht die aufgegangene Rasensaat im Schillerpark und vernahm nicht das Kreischen der Spatzen, die sich in ihr balgten noch den Amselschlag vom marmornen Haupte des Dichters. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen, die Lider soweit geschlossen, dass sie gerade noch die Silhouetten ihr entgegenkommender Passanten wahrnahm, drang nichts mehr in ihre Sinne. Sie wimmerte, ohne sich zu hören. Neben ihr quietschten Bremsen. Der Fahrer schrie: Wohl lebensmüde! Elsa ging weiter, ohne die Lider nur einen Millimeter zu heben. Du kannst mich mal, dachte sie, kreuzweise! Im letzten Rest ihres von körperlicher Qual strangulierten Verstandes, wusste sie, dass sie die Straße überquert hatte, ohne nach der Ampel zu blicken. Sie musste noch über den Roßplatz. Der war ihr leer und weit wie nie, und der blaue, leuchtende Himmel über ihm machte, dass sie die Lider zusammenkniff.

      Ich habe nichts, woran ich sterben müsste, also lohnt es sich nicht, unters Auto zu kommen, sagte sie sich, als sie nach einer Stunde denselben Weg zurückging. Die Schmerzen waren geschwunden. Benommenheit, verursacht von den Spritzen, die der Arzt ihr in die Schultern gejagt hatte, verunsicherte ihre Schritte. Für Sie ist uns nichts zu teuer, hatte er gescherzt. Das ist ein Schweizer Präparat! Sie hatte aufgeschrien, als er sie anfasste.

      Seht ihr! dachte Elsa. So krank bin ich. Und niemand glaubt es mir!

      Aber neuerlich krankgeschrieben, empfand sich Elsa wie ausgespien aus einem Organismus, der ihren Alltag, ihr Leben organisiert hatte, in dem sie selbst mitwirkte zu diesem und vielleicht noch einem anderen Zweck. Jenem Zweck, der sich in Losungen und Wettbewerben kundgab, aber weniger fasslich war, als der Kundenstrom, der an- und abschwellend, durch das Kaufhaus pulste, der sie trug und ihr das Gefühl gab, Teil eines Ganzen zu sein. Denn mit Neugier schaute sie in die Gesichter der Kunden. Sie ging auf die Schüchternen zu, besänftigte die Ungeduldigen, hatte Geduld mit den Unentschlossenen. Sie fand sich gespiegelt in fremden Augen, ins Vertrauen gezogen von den Naturen, die sich selbst nicht trauten. Sie kannte die Lust am Verkleidungsspiel und war fähig, es mit jenen zu genießen, die nach zehn anprobierten Anzügen, den zuerst anprobierten kauften. Nur selten wurde aus solchem Spiel kein Handel. Manchmal bekam sie anderntags Freikarten für die Oper. Dann versuchte sie ihre Kundschaft im Orchestergraben, im Chor, im Ballett auszumachen.

      Es hatte Zeiten gegeben, in der Ehe mit Euchler und während der Scheidung von ihm, da fühlte sie sich nur unter ihren Kollegen aufgehoben. Fast alle waren zum Polterabend da gewesen und wurden in jener Nacht Augen- und Ohrenzeugen dessen, was als Menetekel anzusehen, sie sich nicht erlaubt hatte.

      Man nahm teil an ihr. Und sie verbrachte die Mittagspausen mit den Kollegen auf dem Dachgarten über der Stadt. Daran änderten auch Rivalitäten nichts.

      Elsa hatte Tänzerin werden, die glitzernden Kleider tragen wollen, die die Mutter jenen Frauen und Männern vom Varieté auf den Leib schneiderte, die in die Küche zur Anprobe kamen, als sie ein kleines Mädchen war. Elsa hatte vor der verspiegelten Schlafzimmerschranktür heimlich probiert und wo immer sie Musik hörte, begeisterte sie ihre Füße zu Schritten, ihren Körper zum Ausdruck dessen, was sie dabei empfand. Einziger Ort, wo sie ihn hatte bilden können, war der Arbeiterturnverein. Und tanzen durfte sie zum kölschen Karneval. Ihre Bühne aber wurde der Verkaufssaal der Firma Lion in Dortmund, wo sie in Güte und Strenge für den Umgang mit Kunden erzogen worden war.

      Elsa kam sich, krankgeschrieben, wie eingeschlossen in einen riesigen Würfel aus Zeit, wie ein Insekt im Bernstein vor.

       Als ich den Haushalt Elsas auflöste, fand ich in ihrem Nachtschränkchen ein altes Vokabelheft von mir, in dem die freien Seiten von ihrer Hand beschrieben waren. Sie hatte versucht, mit mir über das zu sprechen, was sie "die Schweinerei" nannte. Es hatte mich nicht interessiert. Zu jener Zeit interessierte mich nichts an ihrem Leben, von dem ich nicht ahnte, wie bald es vorbei sein würde.

       Ich warf das Heft auf den Haufen, der für den Altstoffhandel bestimmt war. Großmutter las es von dort auf und legte es mit Elsas