Christa Müller

Tango ohne Männer


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eine Wellblechkiste mit Flügeln, auf ihrem Rumpf ein Kreuz aus doppelten Balken. Am Rand stand: „Heinkel-Kampfflugzeug H 111". Und: „So sieht der rechte Kettenhund seine Führermaschine." Elisabeth trug die Karte in der Handtasche mit sich herum. Ich bin der linke Kettenhund, schrieb Max. Hoffentlich seid ihr alle gesund. Und ganz unten, noch unter den Grüßen und seiner Feldpostadresse, stand wie hingewischt: Bald ist`s vorbei!

      Schwarze! Neckname aus Kinderzeit. Augen und Haares wegen. Elisabeths kindlicher Lockenschopf war mit nichts in seiner Fülle vergleichbar gewesen. Jede Haarschleife verlor sich in ihm wie ein Falter im Dunkel.

      Die Mutter im Zorn schrie: Zigeuner du! Das Unheimliche, Heftige, Jähe benennend, das Elsa schreckte und gleichzeitig anzog. Sie ließ sich in Elisabeths Streiche hineinziehen, von ihrer Unbändigkeit anstecken. Fühlte die Verletzungen durch das Schmähwort, das der Schwester Tränen über die Wangen trieb. Sah Elisabeths Trotz in deren geballten Fäusten, in ihren aufstampfenden Füßen, geschnürt in knöchelhohe Stiefel. Hemmungslosigkeiten, die Luise entrüsteten, die der Mutter Wut zum Kochen brachten, die Kleinste, Elsa, aber furchtsam entzückten. Die stellte sich auf Zehenspitzen mit erhobenen Armen vor Elisabeth, sie vor Schlägen zu bewahren. Elsas aufgerissene, sirupfarbene Augen brachten die Mutter manchmal zur Besinnung. Ich schlag sie noch tot. Sie bringt mich dahin, murmelte sie und ließ die Hand sinken.

      Die Beteiligten wussten auf geheimnisvolle Weise, dass nicht die Schwarze, der "Zigeuner", die Mutter "dahin" brachte. Dass etwas anderes es war. Etwas, das außer ihnen wirkte, in sie hinein, ohne dass sie es aufzuhalten vermochten.

      Es kam darauf an, solche Augenblicke zu überstehen.

      Nun war es schon fast ein Jahr her, dass die Mutter gestorben war.

      In dem Schlafzimmer, vor dessen Fenstern die Platane ihre Krone ausbreitete, in deren Geäst Ida Teubler zwei ineinander verkrallte Spechte gesehen haben wollte, hatte Elisabeth sie, bewusstlos und nach Aceton riechend, vorgefunden. Wo Elisabeth ins Fleisch griff, blieben die Abdrücke ihrer Finger zurück.

      Als Elsa sie zum ersten Mal im Krankenhaus besuchte, saß die Mutter schon wieder auf und schälte sich einen Apfel.

      Das kleine, spitzige Messer in der geschwollenen Hand war eines der Hümmelchen, mit denen in der Gottschedstraße Kartoffeln geschält wurden, sein Holzgriff vom Gebrauch geglättet, die Klinge vom Schleifen eingebuchtet wie eine Sichel. Die Mutter schnitt die Apfelschale als Spirale vom Fleisch. Auf dem Geschirrtuch, (auch aus der Gottschedstraße!) Elisabeth hatte für die vertrauten Dinge gesorgt, lagen Schalen und herausgeschnittenes Kerngehäuse. Die Mutter war ganz in Anspruch genommen. Heißhunger auf die Stücken, die sie mit dem Hümmelchen aufspießte und sich in den Mund schob, stand in ihren Augen. Nichts sonst.

      Nach dem fünften Apfel legte sie das Messer weg, lehnte sich gegen die Kissen und schloss die Augen. Sie atmete angestrengt und ihre blutleeren Lippen endeten gramvoll in abwärtsweisenden Winkeln, wie hineinwachsend in die Furchen beiderseits des Kinnes. Die Tränensäcke drückten auf das Wangenfleisch. Jede Zelle schien hinab zu wollen zum Staub.

      Elsa griff nach den Händen, die das Hümmelchen fallen gelassen hatten. Sie blieben teilnahmslos.

      Die Mutter öffnete die Augen. Elsken, sagte sie, pass gut auf dich auf.

      Am nächsten Morgen setzte sich Elsa in der Abteilung Herrenkonfektion des HO-Warenhauses in der Petersstraße auf einen Hocker. Er brach unter ihr zusammen. Sie stürzte aufs Parkett. Schneidender Schmerz durchfuhr ihre linke Körperhälfte. Elsa! schrie jemand. Um Gottes Willen! Es erschien ein braungeflecktes Gesicht über ihr und ein riesiges Auge blickte sie durch dickes Glas erschrocken an. Nicht anfassen, flüsterte Elsa.

      Das Auge gehörte Herrn Winter, den Elsa bei sich Opa Winter nannte. Er war der einzige Kollege, mit dem sie auskam.

      Wie ein Kind klagte sie der Mutter an deren Krankenbett ihr Unglück: Ausgezahlt habe ich mich. Blitzeblau die ganze Seite. Kann nicht liegen, schleiche rum, winselnd wie ein Hund. Als ich Anzüge auf die Stangen sortieren wollte, ist mir schlecht geworden vor Schmerzen. Muss ja die Arme überkopf heben. Sie sind nicht mehr zwanzig, hat mir der Arzt gesagt. Mit der Prellung werden Sie diesmal nicht Aktivistin. Der ist noch schadenfroh. Hab ihm Bescheid gegeben: Mit siebenundvierzig ist man noch kein altes Eisen! Geben Sie mir eine Kur!, sag ich. Wir haben keine Antragsformulare, sagt der. Glaubst du nicht? Keine Antragsformulare! Vor zwei Jahren, als der Alte, als Richard Müller - hörst du? - als der Großvater starb, konnte der Doktor keinen Totenschein ausstellen. Gab keine.

      Keine Totenscheine, Mutter! Wir müssen leben! Wir müssen gesund werden. Und sowieso: zum Sterben ist das Leben zu schade. Hörst du!

      Ida Teubler regte sich, wies der Tochter ihre zerstochenen Ellenbeugen vor und flüsterte: Heute früh standen Männer um mein Bett, standen mit Kränzen da und sagten: Komm mit!

      Das bildest du dir ein!

      Die Mutter fuhr unbeirrt fort: Ich wollte ja mit sie gehn, aber ich war festgebunden. Kummervoll blickte sie auf ihre Arme. Ich wäre mit sie gegangen.

      Mit wem? Mit wem, Mutter?, fragte Elsa.

      Die Mutter beachtete sie nicht, redete mit jenem Teil ihres Selbst, das zu sterben sich sehnte, zu DEN ANDEREN wollte, wer die auch waren. Elsa aber trachtete, sich der Mutter zu verbünden, letzter, aussichtsloser Versuch, Liebe zu erlangen.

      Zu Hause schrie Elsa gegen die Wände: Davonmachen willst du dich! Mich allein lassen! Alle verlassen mich. Alle. Maria auch. Elsa konnte das letzte Weihnachtsfest nicht vergessen. Glücklich, die Scheidung von Euchler hinter sich zu haben, hatte sie sich Mühe gegeben, nachzuholen, was sie versäumt zu haben glaubte.

       Es war Anettes erstes Weihnachtsfest.

       Es gibt ein Foto von mir, darauf stehe ich an meinem ersten Weihnachtsfest im Laufställchen unter einem lamettabehangenen Baum und lache.

       Deshalb fuhren wir nach Leipzig.

       Ich schmückte den Baum, den Elsa besorgt hatte, mit dem Lametta meiner Kindheit. Deckte damit die Enttäuschungen zu. Die Peinlichkeiten. Die Pein. Ein Funke Hoffnung reicht, um zu vergessen.

       Elsa hatte mein Kinderbett vom Boden geholt. Es stand im Schlafzimmer. Wie am Anfang meines Lebens. Himmelblau und mit geblümter Wäsche. Unterm Christbaum prangte ein Schaukelpferd, ein Gitterstühlchen auf wippenden Kufen, ein Pferdekopf vorn, zwei Holme an seiner gemalten Mähne, den Kinderhänden zum Halt. Sie hatte es gebraucht gekauft und neu gestrichen.

       Dieses Schaukelpferd!

       Es war ein schönes Geschenk. Ich hätte es sagen sollen. Großmutter klatschte in die Hände vor Freude, als sie die Urenkelin in diesem Stuhlpferd wiegte. War das nicht genug?

       Am ersten Weihnachtstag beim Frühstück fragte mich Elsa mit gespielter Beiläufigkeit: Ist dir wohl nicht gut genug, das alte Schaukelpferd?

       Sie hatte den Brief gelesen, den ich unverschlossen liegen ließ, den ich, als Anette endlich schlief, geschrieben hatte.

       Liest man fremde Briefe?

       Ich reiste daraufhin anderntags ab.

       Nach Neujahr erreichte mich ein Brief meiner Großmutter. Der war wie alle ihre Briefe in wie gestochener Sütterlinschrift auf die vergilbte Seite eines Diariums aus ihrer Mädchenzeit geschrieben und lautete: Liebe Maria! Ich habe am Sonnabend die Bilder von der Drogerie geholt, die wir Weihnachten machten. Das Foto von Anette auf dem Schoß Deiner Mutter gefällt mir am besten, weil aus ihren Augen die ganze Liebe für die Kleine strahlt. Ihr sind die Tränen über das Gesicht gerollt, als sie vor dem leeren Bettchen stand. ...

       Von der eigenen Enttäuschung sprach sie nicht.

       Ihr hatte ich nicht wehtun wollen.

      Maria stahl sich davon, als Elsa in der Gottschedstraße war, um der Mutter, die nicht mehr die Wohnung verließ, und den Schwestern, die über die