Christa Müller

Tango ohne Männer


Скачать книгу

die Frau, das Schneegestöber war so dicht. War auch dunkel. Wie weiß ich, dass du von Aplerbeck bis Schüren gehst. In dein Zustand!

      Zu Tante Änne, dachte Ida. Meine Tante Änne!

      Die hagere, feste Gestalt gesellte sich zu Idas Mutter.

      Sie hat mich beigestanden, Mutta! Deine Schwester hat mich nicht von ihre Schwelle gewiesen hinaus in die Februarnacht.

      Ittl, wiederholte Tante Änne wie vor langer Zeit am Sarg der Mutter, es drückt dir das Herz ab, ihr nicht verzeihen zu wollen. Sie ist tot. Sie ist mit deinem Hass gestorben. Du brauchst nicht über den eigenen Tod hinaus Recht haben müssen. Verzeih ihr. Dann wird dir leichter sein.

      Dämmerung nistete in den Winkeln des Zimmers. Die Töchter rückten die Stühle zur Wand, traten ans Bett und Elsa berührte die Hände der Mutter, die unruhig über die Bettdecke fuhren und rief sie. Über den fleckigen Wangen hoben sich die geschwollenen Lider um ein winziges.

      Sag was! flüsterte Elisabeth.

      Mutter! Wir sind bei dir! Elsken und Elli!

      Die Lider schlossen sich. Nichts deutete darauf hin, dass die Mutter die Worte gehört hatte.

      Elisabeth führte Elsa hinaus aus dem Zimmer, dem Haus, durchs Tor, durch den Gesang der Amseln, das Schlagen der Finken, hin durch den Maienabend, der sich auf die Felder neben der Landstraße legte, unter letzte Lerchentriller und verglühende Farben. Sie waren erschöpft. Zu ihrer Rechten zog die Nacht herauf. Hinter ihrer linken Schulter gewahrte Elsa den massigen, schwarz in einen grünlichen Himmel ragenden Wasserturm des Krankenhauses. Auf seiner obersten Zinne lag ein Abglanz der untergegangenen Sonne. Sie sah ihn schwinden. In diesem Augenblick.

      Elisabeth sagte: Mutter wird die Nacht überstehen. Sie wartet auf Luise.

      Elsa war zu elend, um das Angebot ihrer Schwester auszuschlagen, bei ihr zu übernachten. Deren Schlafzimmer bebte bis nach Mitternacht vom Straßenverkehr. Elisabeth, über zwanzig Jahre an diesen Lärm gewöhnt, schlief.

      Elsa machte die Umrisse des gewaltigen Wäscheschranks im Dunkel aus. In ihm hortete die Schwester Bettwäsche und Tischdecken, Frotteetücher und Nachthemden, als sammle sie eine Aussteuer oder als brächen demnächst neue Notzeiten an. Auf dem Schrank stapelten sich bis zur Zimmerdecke Kisten und Kartons.

      Elsa dachte, dass sie an Maria schreiben müsse. Sie scheute die Nüchternheit der Tochter in Lebenslagen, die sie, Elsa, trostlos machten. Maria steckte in Prüfungen und würde nicht kommen können.

      Am Morgen fuhren sie zum Hauptbahnhof, hoffend, dass Luise eine Einreisegenehmigung erhalten habe.

      Der Querbahnsteig war beflaggt. Elsa las mechanisch das Transparent über dem Ausgang zur Westhalle: FEST VERBUNDEN MIT DEN MASSEN - VORWÄRTS ZUM SIEG DES SOZIALISMUS. Der Interzonenzug aus Köln über Dortmund lief ein.

      Luise trug schon Trauer. Strümpfe, Kleid, Tasche. Schwarz! Sie kam mit kleinen, hastigen Schritten. Blass, übernächtig, die Frisur zerdrückt, Angst in den Augen. Fehlt nur der Kranz, dachte Elsa. Musst du wie ein Totenvogel aussehen! Mutter lebt noch.

      Sie umarmten einander.

      Wir fahren gleich raus!, ordnete Elisabeth an.

      Ida Teubler hatte die Nacht hindurch mit ihren Gesichten gerungen, sich in die Tiefe der Zeit sinken lassen, zu den Generationen, die ihre Vorfahren waren. Sie wollte zu ihnen.

      Sie hörte ihre Töchter ins Zimmer treten. Elisabeth kam an ihr Bett, berührte mit kühler Hand ihre Stirn und rief sie: Mutter! Luise ist gekommen.

      Ja, antwortete sie stumm. Sie spürte, wie Hände die ihren fassten, erst die eine, dann die andere. Sie vernahm Luises Stimme, die sagte: Sie ist ganz heiß! Wird sie denn zu Bewusstsein kommen?

      Bewusstsein, dachte Ida. So bei Bewusstsein war ich mein Leben nicht. Sie fühlte, dass Elsa neben ihr stand, hörte sie schniefen und redete lautlos: Hör schon auf! Wir sehen uns bald. Dann ist auch kein Herzeleid mehr für dich. So ist das. Genau so. Und du Elisabeth bist eine Braut. Hast dein Meister gefunden in den Kerl, den du heiratest, wenn das Elsken dann gestorben ist.

      Luise! Dein Herz ist bitter. Aus das wächst nix als der Panzer, der jeden Tag dicker wird und abtötet, was lebendig in dich war. Ich kann dich nun nicht mehr helfen. Meine Mutta war eine ordentliche Frau. Bin auf den Küchenfußboden in die Welt gekommen, als sie ihn geschrubbt hatte. Danach hat sie noch mal geschrubbt. Acht Kinder hatte sie. Ich war das Letzte. Mein Vatta haben sie nach ein schlagendes Wetter aus den Schacht geholt. Ist nie wieder eingefahren. Saß in die Küche und sagte kein Ton. Mutta wusch für die Schlafburschen. Brachte uns fast alle durch. Als ich mit dich ging, war er tot, und sie schrie: Ein Glück, dass er das nicht mit ansehen muss. Ich sann auf Mord. Aber du kamst davon. War keine Liebe zwischen mich und dich. Mit deine Schwestern ist's nicht besser. Die nehmens sich nicht so zu Herzen.

      Der helle Tag lag im Zimmer. Auf dem feucht gewischtem Linoleum. Auf dem Laken. Auf den Gesichtern der Frauen, die um das Bett saßen.

      Seit sie eintraten und Elisabeth die Mutter angesprochen hatte, Stunden war das her, war kein Wort gefallen.

      Luise hatte eines der großen Fenster geöffnet. Eine Hummel verirrte sich herein. Ihr Brummen ließ die Ruhe heiter erscheinen. Im Krankenhauspark rief ein Kuckuck.

      Elsa versuchte die Arme im Nacken zu verschränken und den Kopf hineinzudrücken. Trotz der Stunde genoss sie die Sonne auf ihrem Gesicht, geschlossenen Auges die Rufe des Vogels zählend. Er rief und rief. Er rief schlecht. Selten gelang ihm die reine Terz, meist rutschte er einen viertel Ton hinauf.

      Oh meine Schulter!, stöhnte Elsa. Ich habe gestern den Termin verpasst. Sie ist so rabiat, die Frau. Ich muss schreien, wenn sie mich anfasst. Aber ein bisschen krieg ich den Arm schon höher. Sie sprach mehr zu sich selbst als zu den andern. Sie musste eine Stimme hören und sei es die eigene. Wenns kommt, kommt alles auf einmal, setzte sie hinzu.

      Auf Luises Gliedern lastete die Müdigkeit der durchfahrenen Nacht. An den Wandschirm gelehnt, schnarchte sie leise.

      Elisabeth wachte. Die Sonne hatte das Ende des Bettes erfasst, wanderte hin zu den Händen der Mutter, die das fahrige Suchen mit einem Mal ließen. In breiter Bahn floss das Licht verschwenderisch über die Kissen, über das Antlitz, das nicht mehr gedunsen war. Straff lag die Haut den Jochbeinen an. Nase und Kinn wurden spitz. Wie Seidenpapier deckten die Lider die Augäpfel, die sich zuckend bewegten.

      Elisabeth erhob sich, um den Vorhang vor die Sonne zu ziehen. Als sie zurückkam, standen die Augen der Mutter offen und blickten auf ihre um sie versammelten Töchter. Der Blick war von solcher Kraft, dass er die Schläfrigkeit Luises durchdrang und Elsas schweifende Gedanken zügelte.

      Die Mutter begann zu singen. Hell und kunstlos: In der Welt ist's dunkel./ Leuchten müssen wir./ Du in deiner Ecke, du in deiner Ecke / ich in meiner hier, ich in meiner hier.

      Es dauerte Stunden. Immer wieder sang die Mutter. Schien in Verschnaufpausen Kräfte zu sammeln um vier Verse zu wiederholen, als wären die ihr Vermächtnis.

      Als Elisabeth und eine Krankenschwester noch einmal das Laken der Mutter wechselten, drückte sich Elsa aus dem Zimmer, lief durch den nach Karbol riechenden Flur hinaus in den Nachmittag. Durchbrach Gesträuch und fand sich auf dem rasenbewachsenen Grund eines Teiches. Löwenzahn blühte. Ihre Füße taumelten durch die winzigen Sonnen. Im Haus sang die Mutter noch immer. Elsa riss eine Blüte ab. Milchiger Saft floss klebrig über ihre Finger. Die Blütenblätter fühlten sich an wie seidiges Fell. Verzweifelte Sehnsucht nach Zärtlichkeit weckte diese Berührung. Wie in keinem Augenblick zuvor begriff sie, dass sie endgültig verlassen wurde. Dass sie allein zurückblieb. Mehr allein als je zuvor.

      Sie ging zurück. Sagte zu ihren Schwestern: Wir wollen uns nie im Stich lassen. Versprecht es!

      Elsken, versicherte Luise, das kannst du mir glauben. Hier, vor unserer Mutter, wollen wir es uns geloben. Was auch kommt, wir stehen einander bei! Sie streckte ihre große, weiche Hand übers Bett. Elsa ergriff sie. Ihre Hände waren noch immer kindlich klein, aber fest und im