Christa Müller

Tango ohne Männer


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die Schwarze, die Elli, der Zigeuner, die ältere Schwester. Die Älteste, Luise, lebte in Dortmund und war nur halb ihre Schwester, was Elsa niemals vergaß.

      Wir müssen uns aussprechen, dachte Elsa, fand aber die Mutter so wenig wie sonst geneigt dazu, mehr noch: Die Mutter schien ihre Anwesenheit nicht zu bemerken. Und ließ sie mit dem Satz allein: Am Ende so ein Unglück.

      Elsa erwischte an diesem Tag die letzte Straßenbahn vom Krankenhaus Dösen zur Leipziger Innenstadt ehe die Strecke wegen der Ankunft der Friedensfahrer gesperrt wurde. Je näher die Bahn dem Platz kam, der seit fünfzehn Jahren Karl-Marx-Platz hieß, den Elsa noch immer Augustusplatz nannte, um so mehr Menschen säumten die Straßenränder. Der Stadtfunk unterbrach seine Marschmusiken mit Streckenmeldungen, denen sie hätte entnehmen können, dass die ersten Fahrer die Stadtgrenze erreicht hatten, wenn sie es hätte wissen wollen.

      Zu Hause heizte sie den Badeofen und bereitete sich ein Kalmusbad. Ihre Schwiegermutter wusste die Wurzel auf Gängen über Land zu finden und schwor auf deren heilende Kraft.

      Elsa gönnte sich an diesem Abend ein frisch bezogenes Bett.

      Sie sparte mit Wäsche seit das Hantieren im Waschhaus Tortur für sie war. Ein frisch bezogenes Bett gehörte für sie zu den Genüssen des Lebens. So suchte sie sich über den hinter ihr liegenden Tag zu trösten.

      Sie öffnete das Schlafzimmerfenster einen Spalt breit. Zum ersten Mal nach dem Winter. Die Birnbäume in Noas Garten, in jahrzehntelangem Streben, die müden Stämme auf den Beeten zur Ruhe zu legen, mühsam von Schuppen und Laube daran gehindert, standen, der Frühling verlachte ihr Alter, wieder in Blüte.

      Die Dämmerung wurde dicht. Elsa spürte es glücken, dass der Schlaf sich ihrer erbarmte. Zucken durchlief ihre Glieder, Spannungen lösend.

      Sie begann, zu sinken.

      Ein Knall zerriss die Stille. Das Haus erbebte wie an jenem vierten Dezember, als Bomben die Stadt zerstörten.

      Elsa saß aufrecht im Bett, getroffen vom Luftzug. Die Druckwelle hatte das Fenster aufgestoßen, die Scheiben zitterten. Volltreffer, dachte sie. Beim Viadukt!

      Sie wartete, dass die Sirenen aufjaulten! Ihr Körper wartete, während sie sich aus dem Bett tastete, (Kein Licht machen! Die Fenster sind ohne Verdunklung!) auf jenes Heulen, das eine fallende Bombe begleitet, um sich zu Boden zu werfen, damit der Luftdruck bei der Detonation die Lungen nicht zerreiße. Reaktivierte Überlebensreflexe. Als jenes Heulen ausblieb, setzte ihr Denken ein: Der Himmel ist nicht gerötet, die Luft nicht brandig. Ich kann im Dunkeln die Baumblüten sehen.

      Aber die Luft füllte sich mit an- und abschwellenden Sirenentönen, in die sich gellende Rufe von Martinshörnern mischten. In den erleuchteten Fenstern der Vorderhäuser lauschten Menschen gleich ihr in die Nacht.

      Elsa ging in die Küche und stellte das Radio an, drehte den Sucher auf der Skala vorwärts und rückwärts. Nirgendwo rief der Kuckuck des Luftwarndienstes. Kein Programm wurde unterbrochen von der Meldung: Es ist Krieg.

      Sie kroch ins Bett zurück. Später wurde sie von einem Weinkrampf geschüttelt. Sich vorzustellen dass wieder Krieg sein könnte, sie hier, Maria mit Anette aber in P. war, oder Maria getrennt von dem Kind, irgendwo! Alle voneinander gerissen. In Not. Im Tod. Sie wusste, während ihre Kehle schluchzte, dass es Vorstellungen waren, die ihr zusetzten. Aber etwas an diesem Irrwitz war wahr. O Gott, klagte es aus ihr. Schütze mir Kind und Kindeskind. Vergib uns unsere Schuld!

      Was für Schuld?

      Diese Frage in der Dunkelheit. Wie ein Riesenvogel, der auf sie niederstieß, dessen Fänge sie packten, dessen Schwingen sich gewaltig auffalteten, sie forttrugen aus ihrer schützenden Höhle in eine eisige Nacht, zu Weiten in Russland, in den Wald bei Sawina, wo Herbert mit offenen Augen im Schnee lag.

      Marias Gesicht tauchte auf, und es starrte sie feindselig an, fragte: Was hatte er dort zu suchen? Warum hast du ihn gehen lassen? Dorthin!

      Elsas Zungenspitze glitt an den Zähnen entlang, die fielen von ihren Wurzeln, glatte Perlen, die schlüpften über ihre Lippen in die Schwärze vor ihrem Munde. Als sie erwachte, wusste sie eine Zeit lang nicht, dass sie mit offen Augen in die Finsternis starrte. Dann erschrak sie. Jemand würde sterben. Immer, wenn sie im Traum die Zähne verlor, kündigte das einen Tod an.

      Morgennachrichten: Am gestrigen Abend gegen zwanzig Uhr fünfundzwanzig, stieß kurz vor dem Leipziger Hauptbahnhof der ausfahrende Personenzug nach Halle mit dem einfahrenden Eilzug von Halberstadt zusammen.

      Nachmittags meldete der Rundfunk: Neunundfünfzig Tote und hundertfünfzig Schwerverletzte.

      Menschen waren tot, die zur Ankunft der Friedensfahrer in die Stadt gekommen waren und vom Jubel im überfüllten Stadion statt nach Hause in Leichenhallen gelangten.

      Am Ende so ein Unglück, hatte Ida Teubler gesagt. Elsa hätte die Worte der Mutter nun deuten können.

       Karl Teubler, auf seinem Sterbebett, hatte von Elsas Männern gesprochen. Hatte gesagt: Verlassen wirst du sein von deinen Kerlen und von deinem Kinde.

       Sie hatte es nicht glauben wollen. Ich, zehnjährig, stand dabei und sah es ihr an und fürchtete mich vor seinen Augen, die mich von weither anblickten, als er zu mir sagte: Dir, Füchsken, wird es genauso gehen. Das ist dein Erbteil. Und sei nicht so stolz, Maria!

      Im Mai Neunzehnhundertsechzig, am zehnten Morgen nach dem Eisenbahnunglück, erlöste anhaltendes Klingeln an der Tür Elsa aus dem ohnmächtigen Staunen vor der Leichtigkeit, mit der sich ihre Zähne wiederum aus Ober- und Unterkiefer lösten, als die Zunge am Gaumen entlangglitt.

      Die Türklingel schrillte wie besessen.

      Elsa fuhr aus dem Bett, stürzte zum Fenster. Niemand stand vor der Haustür. Das Geschrill brach ab. Die Stille, die ihm folgte, war ihr fürchterlich. Als Schritte hörbar wurden, die schweren Schritte Elisabeths, im Durchgang des Vorderhauses dumpf, im Hof hell, hob das die eisige Lähmung in Elsas Brust nicht auf. Sie konnte ihre Schwester erst sehen, als die an die Ecke des Gebäudes gelangte, das quer zum Vorderhaus stand und in dem Elsa wohnte. Elisabeth hob ihr verschwollenes Gesicht und rief: Mach schnell! Das Taxi wartet. Bei dem Wort Taxi spürte Elsa einen Stich zwischen Herz und Magen, danach schien eine Nervenbahn durchschnitten zu sein. Sie sah ihre Hände nach Strümpfen und Schuhen fassen. Ihr Blick mied den Spiegel.

      Elsas Pupillen waren weit. Über ihrer Oberlippe stand Schweiß auf aschgrauer Haut.

      Elsa schloss die Tür ab. Elisabeth sagte: Vor zwei Stunden war Mutter noch bei Bewusstsein. Sie gingen zwischen Noas Apfelgarten und dem Hinterhaus, dann zwischen Noas Kirschgarten und dem Trockenplatz zum Vorderhaus und ihre Absätze klopften auf die Steine, mit denen der Hof gepflastert war und dröhnten auf dem Zement im Durchgang zur Straße.

      Sie waren durch Morgensonne gegangen. Elsa begriff es im Schatten der Häuserzeile. Dort stand das Taxi. Sie zitterte, denn sie fror.

      Was tust du mir an? Elsa dachte es nicht eigentlich. Sie dachte gar nichts. Etwas in ihr dachte. Eine Stimme, die sich Gehör zu verschaffen trachtete. Unablässig. Bis sie sie wahrnahm. Ihre eigene Stimme. Fern, hell, kindlich: Was tust du mir an?

      Was tue ich dich an? Na was? Das war die spöttische Zunge der Mutter, die nach dreißig sächsischen Jahren zwar das breitste hörder Westfälisch abgelegt, aber nach wie vor so gut wie nie einen Dativ benutzt hatte, die Elsas Klage nachzuäffen schien.

      Elisabeth legte den Arm um die kleine Schwester. Die ergab sich diesem Arm nicht. Ihre Schultern waren wie aus Holz.

      Ida Teubler lag hinter einem Wandschirm. Ihr Mund stand offen. Sie atmete schwer. Die Augenlider waren zugeschwollen. Die Haut über den Wangenknochen hatte sich lila gefärbt. Auf Stirn und Wangen lag tiefe Röte, reichte hinab in den Ausschnitt des Hemdes, aber das Kinn war weiß. Dort stirbt sie zuerst, dachte Elsa.

      Eine Krankenschwester maß der Mutter den Puls. Elsa blickte auf den Sand, der durch die Einschnürung des zierlichen Glases rann, als sähe sie das zum ersten Mal und dachte erstaunt: So ist