Christa Müller

Tango ohne Männer


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lieferte sie ihr reflexhaft zu. Die Mutter lag in den Kissen und nichts deutete darauf hin, dass sie wahrnahm: zwei ihrer Töchter wachten bei ihr.

      Schüttel die Federn auf, sagte Elisabeth. Sie schob ihren Arm unter den Nacken der Mutter und hob deren Oberkörper an und Elsa tat wie ihr geheißen. Kissen und Hemd waren vom Fieberschweiß nass. Elsa drehte das Kissen um.

      Elisabeth verlangte ein frisches Hemd für die Mutter, ein im Rücken offenes Hemd, und ging der Krankenschwester zur Hand.

      Niemals hatte Elsa die Mutter so nackt gesehen. Sie blickte verzagt auf den Leib, den die Frauen entblößten, dessen großer Nabel Mittelpunkt glänzender, zu Hüften und Schenkeln verlaufender Schwangerschaftsstreifen war. Die riesenhaften, schwärzlich geäderten Brüste, herabgesunken zu diesem Narbenkranz, hoben und senkten sich im unregelmäßigen Rhythmus mühevollen Atmens. Die Brustwarzen glichen in der Färbung den Hämatomen in ihren Ellenbeugen.

      Elisabeth und die Krankenschwester legten der Mutter das frische Hemd an und wechselten das Stecklaken unter dem breiten Gesäß.

      Die Frauen gingen energisch um mit dem massigen Fleisch. Wälzten es vom Rücken auf die Seite und wieder auf den Rücken, zogen das Leinen straff und schichteten Zellstoff zwischen die gedunsenen Schenkel. Sie schienen so etwas wie Zufriedenheit zu erreichen, als sie die Decke über dem Leib glatt zogen. Die Stationsschwester kam und fragte, ob sie Frühstück wollten.

      Ja, sagte Elsa.

      Sie verspürte rasenden Hunger, tauchte den Zwieback in Milchkaffee und stopfte ihn sich in den Mund, aß auf, was eine Stationshilfe für sie und Elisabeth gebracht hatte. Für Momente irritierte sie die Weichheit in Elisabeths auf sie gerichteten Blick. Ihre Augen suchten die Augen der Mutter. Die lag unverändert und schlürfte die Luft, als dürste sie nach ihr. Elsa schien es, als blitze zwischen den geschwollenen Lidern über den Tränensäcken ein Spalt, durch den die Seele hinauslugte aus dem gepeinigten Fleisch.

      Jetzt brauchte Elisabeth nicht mehr zu bestreiten, dass zu der Mutter Gestalten kamen, die sagten: Komm mit! Sie waren Nacht für Nacht gekommen. Nun war heller Tag, und Ida Teubler sah sie hinter zugeschwollenen Lidern und redete, den Töchtern unhörbar, mit ihnen:

      Kommt ran! Meine Mädchen sind bei mich. Zwei von die Drei. Luise hats weit. Die Elli, ehe sie beim Elsken schellte, hat nach sie telegrafiert. Für die Polizei. Von Dortmund nach Leipzig gehts nicht ohne Stempel. Wie nicht von Hörde nach Aplerbeck, als wir den Franzosen hatten. Geduldigt euch!

      Willi, dachte sie wie so oft, auf dich brauch ich nicht warten. Du bist schon dort. Nun komm ich zu dich. Aber diesmal vernahm sie seine Stimme, wie sie fragte: Mutter?

      Willi!, rief sie. Williken!

      Von den Gestalten, die sie umgaben, starrte eine aus seinen Augen sie an. Es waren seine Augen. Er kannte sie nicht mehr. Sie sah es. Sie sah sich hinein in diese Augen, die sie den Rest ihres Lebens auf jenem Foto über dem Küchensofa in ihren Zwiegesprächen, die sie allein bestritt, angeblickt hatte und die beständig an ihr vorbei gesehen hatten.

      Williken!

      Mutter? Du?

      Ja Kind. Sie seufzte. Wie du mich nich anguckst! Erinnerst du dich an die Platane im Hof? Wir konnten sie vom Fenster in die Krone sehn.

      Sie hielt seinen Blick fest, um ihm zu sagen, was sie Jahre hindurch beschäftigt hatte: Wo du gefallen bist, träumte mich: Ich lag im Schlafzimmer tot, und in die Platane vorm Fenster hackten zwei Spechte auf sich los. Eins mit den Schnabel in die Brust vom andern. Die Federn ganz blutich. Die Platane war hoch wie das Haus vis-à-vis. Ist in Schutt und Asche gefallen. Vierter Dezember dreiundvierzig. Der Baum steht noch. Willi, was sächst du nix? Auch in dein Urlaub warst du stumm wie ein Fisch.

      Im Fieber stattete sie ihn mit Worten aus, tausendmal gedacht, hin und her gewendet in ihren stummen und lauten Gesprächen mit dem Toten.

      Was denn, Mutter? Was soll ich sagen?

      Der Krieg war alle und du kamst nicht zu mich nach Hause, schalt sie.

      Ich habe Gott gedankt, dass ich Schwestern hatte, die mussten nicht Soldaten werden und dass du mir nicht zusehen musstest bei dem, was ich tat.

      Lass, Willi, lass! Weißt du noch, wie du Semmeln ausgetragen hast? In weißem Zeug. Hab ich dich genäht. Hose. Hemd. Schürze, die reichte dich bis zu die Knöchel. Und das Käppi auf dein Scheitel. Alles hatte ich dich genäht. Und gestärkt mit Kloßwasser. Westfälische Klöße. Dein Leibgericht.

      Ja, sagte er und schien zu grinsen, ich war stolz, als mir der Bäcker den Korb anvertraute, aus dem ich Beutel an den Messingklinken fremder Wohnungen füllen durfte. Wenn ich in Lappland an Leipzig dachte, waren es die nach Bohnerwachs duftenden Treppen, die bunten Glasfenster auf den Etagen, die gewaschenen Fliesen der Hausflure, die schweren Türen der Häuser, die Gänge über die Dachböden von einem ins andere Haus, an was ich dachte.

      Und an die Platane, Willi? Erinnerst du dich an die Platane?

      An die Platane und den Fliederbusch. Ja.

      Er blüht, sagte die Mutter, auch wenn ich nicht mehr bin.

      Die Platane! Finnlands Wälder, Mutter, was waren die gegen die Platane im Hof. Ich konnte das nicht aushalten, ohne verrückt zu werden, so habe ich mich gesehnt.

      Lass, Willi! Denk nicht mehr dran. Weißt du noch? Du bist ein Lieferwagen gefahren, gerade mal sechzehn.

      Ein elendes Dreirad bei einer elenden Lampenschirmfirma, Mutter! Als Junge sah ich einen silbernen Vogel in einem Hangar, der extra für ihn gebaut war, wie das Rollfeld, über das unser Lehrer uns führte. Das ist die Ju! Wie er das sagte! Ein Mann kam übers Rollfeld, ganz in Leder. Mir war klar, dass er sie fliegen konnte. Ich erkannte es daran, wie er ging, wie er uns anlachte. Seitdem wollte ich fliegen. Deshalb kam der Krieg. Für mich! Damit ich Flieger wurde.

      Deinetwegen! Du bist meschugge. Denk nicht mehr dran! Fünfzehn Jahre ist der Krieg alle. Willi, du wärst jetzt vierzig. Ein Mann in die besten Jahre. Eine Stütze für deine Schwestern.

      Ich bin fünfundzwanzig. Immer fünfundzwanzig. Immer.

      Da ist eine Narbe auf deiner Brust!?

      Er lachte sein ihre Fürsorge zurückweisendes Lachen. Das war ein Messer, sagte er. Die Finnen wollten nicht, dass wir ihre Mädchen ansahen.

      Mädchen?!

      Mädchen?!, äffte er sie nach. In Sümpfen, Frösten, Schneewüsten. Mädchen!

      Wie haben wir auf dich gewartete, murmelte sie, deine Schwestern und ich.

      Du hast gedroht dem Kompaniechef zu schreiben, weil ich dir nicht schrieb. Meine Schwestern! Jede hat mir deine Angst geschildert. Ihre Sorge um dein Herz. Was hätte ich dir denn schreiben sollen? In meinem Leben habe ich keine anderen Frauen gekannt als euch. Mädchen! Vier Jahre war ich nur unter Männern. Viertausend Kilometer von zu Hause. In einem Land, wo es im Sommer nicht dunkel und im Winter nicht hell wird. Wo der Himmel dich erdrückt oder die Fressen deiner Vorgesetzten bei der Befehlsausgabe dich zur Salzsäule machen. Was hätte ich gegeben für eine, die auf mich wartet. Der Messerstich galt einem andern. Man hat uns verwechselt.

      Willis Gesicht erinnerte sie quälend an ein anderes.

      Als ich dich kriegte, dachte sie, ist mein Willem gestorben. Vom Phönix, von die Kokillen weg ins Hospital. Am Tag vom Putsch. Hörde war voll roter Fahnen. Und es knallte schon wieder. Der Krieg war alle, zu Hause gings weiter. Mir schwante, er sei bei. War aber Spanische Grippe. Als ich ihn gefunden hatte, hat er mich nicht mehr erkannt. Und als ich ihm die Augen zudrückte, war ich in Wehen. Natürlich!, dachte sie. Willem ist er ähnlich. Sein Vatta! Schon tauchte der auf. Hätte sein Bruder sein können, entblößte im Lachen die gesprenkelten Zähne. Aber sie redete zum Sohn: Die haben mich ins Hospital über Nacht behalten. Am Morgen bin ich mit dich nach Hause. Der Nabel war nicht ordentlich abgebunden. Luise ist draufgekommen. Hat deine Windel offen gemacht. Wärst mich gestorben ohne Luise. Was habe ich angestellt mit dich! Wollte dich nicht auch noch hergeben. Warst doch das Letzte, was mich von Willem blieb.

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