Christa Müller

Tango ohne Männer


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war ein Strich. Sie legte ihre, wie eine Leopardenhaut gescheckte, Hand auf die Hände der Schwestern.

      Wir schwören es dir, sagte Elsa zur Mutter. Wir schwören es, wiederholte Luise. Elisabeth sagte kein Wort.

      Schatten füllten das Zimmer. Elisabeth nahm die Kissen aus dem Rücken der Toten.

      2

       Fast ein Jahr war vergangen. Ein Kind wollte geboren werden. Ich, Maria, Elsas Tochter, stand vor meiner zweiten Niederkunft. Elsa kam zu Ostern nach P. Mir war es zu anstrengend, mit Anette, die zwei Jahre alt war, die Reise nach Leipzig zu machen.

       Elsa schien sich wohlzufühlen. Ich war froh, dass sie sich mit Anette beschäftigte und mich in Ruhe ließ.

       Nach Hause zurückgekehrt, fand Elsa eine Postkarte vor, die sie nichts anzugehen schien. Die Lungenfürsorge bestellte sie in die Menckestraße zum Röntgen. Ich war doch erst, schrieb sie mir ärgerlich. Die Schussel! Das muss ein Irrtum sein.

      Elsa sah die Reihenröntgenuntersuchungen für sich als überflüssig an, obwohl Karl Teubler vor ihren Augen an Tuberkulose zugrunde gegangen war. Sie glaubte sich gegen diese Krankheit gefeit. Sie hatte es im Kreuz. Und im Schultergelenk. Nicht auf der Lunge. Aber es schien kein Irrtum zu sein. Zu ihrem Erstaunen schloss sich dem neuerlichen Röntgen eine ganze Reihe von Untersuchungen an.

      In der Abteilung Herrenkonfektion des HO-Warenhauses musste die Frühjahrskollektion an den Mann gebracht werden. Und sie wurde krankgeschrieben. Das vor allem ärgerte sie.

      Sie hoffte, zu Pfingsten gesund geschrieben zu sein, um nach P. kommen zu können. Dann sollte Maria entbunden haben.

      Luise kam eine Woche vor Pfingsten zu ihrem jährlichen Besuch nach Leipzig.

      Am Abend vor ihrer Ankunft machte sich Elisabeth in strömendem Regen auf, um mit Elsa zu bereden, bei wem die Schwester wohnen sollte.

      Hier nicht, sagte Elsa sofort. Ich habe den Kopf voll. Und ich muss zu Maria.

      Elisabeth atmete heimlich auf, war froh, dass Elsa nicht von ihrem Röntgenbefund sprach, und ihre eigenen Befürchtungen nicht zu teilen schien. Elisabeth besaß genügend medizinisches Wissen, um sich über das Ausmaß der Untersuchungen, denen sich Elsa unterziehen musste, zu beunruhigen.

      Komm aber zum Bahnhof, bat sie.

      Elsa verspätete sich. Der Interzonenzug aus Köln über Dortmund war längst eingefahren. Die beiden Frauen standen auf dem Querbahnsteig, unschlüssig, ob sie noch warten sollten. Luises schweren Körper umhüllte ein glänzender, schwarzer Regenmantel. Elisabeth hatte um ihre Fülle einen schwarzblau changierenden Seidenmantel gelegt. Wie aufgeplusterte Krähen sehen sie aus, dachte Elsa.

      Die Vögel steckten mit geschwollenen Füßen in Gesundheitsschuhen. Elsa nahm mit Genugtuung wahr, dass sie keinen Vergleich mit ihren Schwestern zu scheuen brauchte. In der Kindheit hatte sie Luise um ihren Zopf beneidet, Elisabeth um ihre ganze Person. Das war vorbei. Meine Beine können sich neben ihren immer noch sehen lassen!, denkt Elsa.

      Vor einem Jahr noch war ihre sportliche Taille unverkennbar. Ihr rundes Gesicht ist voller geworden aber sie hat kein Doppelkinn. Ihr Fleisch ist fest. Ihr Haar hat seine schwarzbraune Farbe noch immer. Die grauen Haare reißt sie heraus. Sie pflegt sich, denn sie steht als Verkäuferin in der Öffentlichkeit. Sie zupft sich noch immer die Brauen und pudert ihre kleine, zum Glänzen neigende Nase. Das Rot, das sie sich auf die Lippen gelegt hat, ist nur noch auf der oberen vorhanden, da sie die Angewohnheit hat, die untere Lippe hinter die Zähne zu ziehen und zu belecken, wenn sie einem Gedanken nachhängt. Dieser Gedanke ist jetzt in ihren Augen zu lesen, genaue Spiegel ihrer Regungen, Körper von dunklem, lebhaftem Glanz. Die Schwestern wollten das Funkeln in Elsas Augen für Freude halten. Luise hob ihre Flügel, sie um das Jüngste zu schlagen, aber Elsa zeigte ihnen die kalte Schulter, musterte Luise über die Achsel und anstatt sich in ihre Arme zu begeben oder wenigstens guten Tag zu wünschen, sagte sie: Warst du beim Friseur? Du hattest mal ein Blond wie Asche.

      Luise ließ die Arme sinken. Es ist nur dunkler geworden, sagte sie. Nain, ich mach da nix dran! Nur waschen und legen.

      Elisabeth sagte: Wir leisten uns jetzt ein Taxi und fahren zu mir. Sie bestand darauf, dass Elsa mitkam. Wenigstens auf einen Kaffee!

      Elisabeths Wohnung lag im vierten Stock eines Hauses in der Ernst-Thälmann-Straße. Als sie Frau Pinkert geworden war und mit Max, ihrem Mann, in den Dreißigerjahren dort einzog, hieß sie Eisenbahnstraße. Elsa nannte sie heute noch so.

      Die zweiflügelige Wohnungstür ließ Geräumigkeit erwarten. Aber hinter ihr lag ein nur winziger Vorraum. Von ihm führten Türen zu Küche und Schlafzimmer. Sommers wie winters hingen an den Garderobenhaken sämtliche Jacken und Mäntel Elisabeths. Man konnte sich kaum drehen. Die Küchentür ging nach innen auf, gebremst vom Küchenschrank, der, des Sofas wegen, das Elisabeth zwischen Schrank und Fenster gezwängt hatte, der Tür im Wege stand. Die Wand hinterm Sofa bedeckte ein Gobelin mit Elfen. Elsa fand ihn geschmacklos. Dem Sofa gegenüber drückte sich der Tisch an die Wand. Zwischen ihm und dem Sofa und zwischen Tisch und dem Herd klemmten zwei Stühle. Den gemauerten Herd benutzte Elisabeth nie. Er diente einer elektrischen Kochplatte als Fundament und Elisabeth zum Abstellen ihrer Töpfe und Tiegel.

      Zieht euch aus und kommt rein!

      Letzteres war unmöglich, solange sie sich zwischen Kochplatte und Wasserhahn bewegte. Der Ausguss nämlich, über dem er angebracht war, befand sich an dem Wandstück zwischen Herd und Tür.

      Den Kaffee nehmen wir aber von mir, sagte Luise im Vorraum. Dazu habe ich ihn ja mitgebracht. Sie stieß die Tür zum Schlafzimmer auf und setzte ihre Koffer neben das monströse Ehebett, in dem sie zwei Wochen mit Elisabeth um die Wette schnarchen würde. Elsa versuchte, in die Küche zu gelangen, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass es sie interessiere, was Luise in ihren Koffern habe. Und noch ehe Luise die Küche betrat, spürte Elsa die wohlbekannte Wut, die von Kindesbeinen an in ihr aufstieg, wenn die Schwester sie in die Lage brachte, Dankbarkeit zeigen zu sollen. Stumm nahm sie ein Pfund in Folie geschweißtes Bauchfleisch, zwei Eckchen Käse und einen blau-weißen Kleiderstoff, der ihr sofort missfiel, und für Maria ein Seidentuch mit lila Tupfen entgegen. Elsa war überzeugt, dass ihre Tochter diese Tupfen verabscheuen würde.

      Na? Freust du dich auch? fragte Luise, und entblößte ihre dritten Zähne.

      Danke, murmelte Elsa. Ich wollte nichts.

      Na freu dich man! Ich gebs gern, sagte Luise unbeirrt. Ich habe nun mal eine offene Hand.

      Fröstelnd eilte Elsa von der Schönefelder Endstelle der Siebzehn die Vollbedingstraße entlang zur Unterführung der Gleise, über die Luises Zug vor drei Stunden in die Stadt gedonnert war. Sie fühlte sich in dieser Gegend unbehaust. In sehr ferner Zeit, im letzten Sommer vor dem Krieg, war sie hier mit Mann und Kind zum Freibad gelaufen. Sie hatten Maria zwischen sich getragen, in einem behenkelten Sitz aus derbem Leinen. Elsa wusste nicht mehr, wie peinlich ihr das lodernde Rot des Kinderschopfes war, das alle Blicke auf sich zog. Andere Leute hatten reizende Kinder mit blonden oder braunen Korkenzieherlöckchen, mit Äuglein wie Engel, die fielen nie hin und machten sich nicht schmutzig. Maria war ein hässliches Entlein. Ihre sommersprossenübersäte Haut fand nicht ihresgleichen, und ihre grünen Katzenaugen unter farblosen Wimpern vertrugen Sonne so schlecht wie diese Haut, sodass das Kind auf schattenlosen Straßen vor Unbehagen brüllte. Knie und Arme waren immer aufgeschlagen, und hatte Elsa ihre „Kröte" schick gemacht, passierte bestimmt ein Malheur, das Gamaschenhose oder Organdykleid zu „Gelumpe" machte. Im Wasser war das Kind in seinem Element. Es wollte niemals heraus, auch nicht, wenn die Lippen längst blau waren und sich seine Sommersprossen in eine Gänsehaut zurückgezogen hatten. Herbert sagte dann: Ganz wie du. Denn im Wasser wurde Elsa zum Fisch und auf dem Sprungbrett zum Vogel, der sich in dessen Tiefe schnellt. Herbert mochte Bodenlosigkeiten nicht und kein Getümmel. Maria im Planschbecken verlor er keinen Moment aus den Augen.

      Elsa tauchte aus der feuchtglitschigen Eisenbahnunterführung erleichtert ans Licht. In der Theresienstraße,