Christa Müller

Tango ohne Männer


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nahm einen Spargel an seinem Ende in den Mund und zog ihn schmatzend durch die Lippen. Luise blickte sie missbilligend an. Elsa schmiss einen aufsässigen Blick zurück. Wie gehts deiner Nachbarin, erkundigte sie sich bei Elisabeth mit vollem Munde.

      Nächste Woche soll sie niederkommen. Elisabeth lachte. Sie wird ihr Kind noch in die Furche werfen. Dann muss sie aber ohne mich auskommen. Sie hatte ihr einmal Hebammendienste leisten müssen. Auf der Türschwelle. Bei einer Sturzgeburt. Elisabeth erinnerte sich mit Vergnügen jener Aufregung.

      Und wie weit ist Maria? fragte sie nebenher.

      Elsa hatte die Frage erwartet.

      Noch nicht so weit, sagte sie.

      Es kommt zu meinem Geburtstag! Elisabeths Augen glitzerten. Quietschend rutschte Luises Messer über den Teller als sie sagte: Jaja! Sie legt es dir auf den Geburtstagstisch! Die Rivalität der Frauen um Marias Gunst war alt.

      Maria entzog sich ihnen in jeder Hinsicht. Diese Gewissheit war für Elsa Genugtuung. Aber in ihrer Brust meldete sich ein Gefühl, anders als jenes, das sie gestern beim Eintritt in Großmutters Küche überfallen hatte. Dieses schmerzliche Ziehen, diese Traurigkeit kam aus der Erfahrung, dass Maria auch ihr sich entzog und der Ahnung, dass ihre Hoffnungen auf Anette sich nicht erfüllen würden. Sie war vollauf damit beschäftigt, dieses Gefühl niederzukämpfen, während Luise redete.

      Warum sächst du nix?, fragte Luise und blickte sie eindringlich an. Ich sächte, wiederholte sie, jetzt, wo Maria noch ein Kind bekommt, sollte sie es sich wegen Anette überlegen. Ich könnte sie adoptieren. Oder wenn Maria das nicht will, nähme ich sie auch so zu mir. Dann hätte ich wieder einen Lebensinhalt. Sie wird alles erben, wenn ich Ernst nachfolge. Elsa blickte sie sonderbar an. Unbeirrt sprach Luise weiter: Das Kind hätte doch ein viel schöneres Leben als hier! Bei mir kann es alles bekommen, was es braucht. Ich bin zu Hause und kann mich kümmern. Ich würde es auch was lernen lassen. Und du hättest ein Ziel. Du könntest jedes Jahr im Urlaub nach Dortmund kommen.

      Elsas Pupillen verengten sich. Sie legte Messer und Gabel weg, beugte sich vor und griff mit ihrer kleinen, festen Hand an Luises Stirn. Elsa hatte diese Geste als Kind der Mutter abgesehen. Sie sagte auch den dazugehörenden Satz: Du bist wohl meschugge!

      Elisabeth triumphierte stumm.

      Elsa nahm ihre Hand zurück. Mach dir keine Hoffnung, sagte sie spöttisch. Wir ziehen unsere Kinder selber auf!

      Nach dem Essen zeigte sie die Fotos von Ostern. Der Kuss, den Anette, auf ihrem Schoße kniend, in ihr Gesicht drückte, zeichnete sie aus.

      Sie rissen sich die Bilder gegenseitig aus den Händen. Warum ist denn Maria nirgends drauf, fragte Luise.

      Weil sie uns fotografiert. Elsa las auf den über die Bilder geneigten Stirnen den Verdacht, den sie selbst hegte: Maria wollte nicht, dass ihr schwangerer Leib von diesen Augen gemustert werde. Und in den Mienen ihrer Schwestern erkannte sie den Wunsch, Marias Schande zu sehen. Sich daran zu weiden. Selbstgerecht. Sich daran schadlos zu halten für alle Widerspenstigkeit, die ihr Kind ihnen entgegensetzt hatte, vom ersten bis zu diesem Augenblick.

      Ihr könnt mir glauben: Sie sieht gut aus. Richtig schön ist sie, sagte Elsa in die unheilvolle Stille. Ihr passt zwar nur noch ein einziges Kleid, aber es steht ihr. Und alle dort sind zu ihr gut und rücksichtsvoll. Sie hat im Internat ein Zimmer für sich allein. Mit einem Kinderbett für Anette und einer Wiege für das, was kommt.

      Gehn wir noch zum Friedhof? fragte Luise. Vorigen Sonntag war Muttertag!

      Gehn wir doch morgen, schlug Elisabeth vor. Sie hatte Nachtdienst gehabt und wollte ruhen.

      Die Schwestern verabredeten sich für den anderen Tag am Haupttor des Südfriedhofs.

      5

      Am anderen Morgen lag eine Karte von Maria unter dem Briefschlitz. Zehn Tage gehe ich schon über die Zeit, schrieb sie.

      Das Kind schob sein Kommen hinaus, als sei es mit Elsa im Bunde. Noch hoffte sie, gesund geschrieben zu sein, wenn Maria mit ihm aus der Klinik entlassen würde.

      Sie traute dieser Hoffnung nicht. Sie musste die Tochter darauf vorbereiten, nicht kommen zu können.

      Elsa schob das Geschirr auf dem Küchentisch zusammen und legte einen Briefbogen auf die freigewordene Stelle.

      Sie öffnete das Fenster. Der Apfelbaum aus Noas Garten rieb seine Zweige am Gerüst. Sie trugen flaumige, junge Blätter. Einzelne Blüten hatten sich wie Augen aufgetan. Sie hörte das Lachen der Arbeiter, die in der Sonne frühstückten. Es war Montag.

      Sie setzte sich an den Tisch, das Fenster im Blick. Auf dem Fensterbrett hatte Maria früher Blumen versammelt, die sie von den Trümmern der Stadt pflückte. Unkraut war ihr gewesen, was für das Kind schön war.

      Sie schrieb. Zwei Seiten, randvoll. Und sah, als sie den Brief überlas, dass sie das Wichtigste nicht gesagt hatte. Einen langen Anlauf hatte sie genommen und war nicht gesprungen.

      Sie setzte noch einmal an. Die Feder sträubte sich, kratzte das Papier auf. Nun, wollte sie schreiben, muss ich dir etwas sagen…

      Die Tinte im Füllfederhalter versiegte nach dem Nun. Sie suchte das Tintenfass, bis sie sich erinnerte, es leer in die Asche geworfen zu haben. Sie schrieb mit Kopierstift weiter, den sie mit der Zunge anfeuchtete, um das Nun in Von zu ändern.

      Von Großmutter und deinen Tanten recht herzliche Grüße.

      Und unter Aufbietung allen Mutes brachte sie in einem Wust von Anekdotischem den Satz unter: Ich werde Pfingsten wahrscheinlich nicht bei dir sein können. Und weil sie es nicht fertig brachte, zu schreiben: Kann sein, ich muss in die Klinik, setzte sie Maria an ihre Stelle: Du bist vielleicht in der Klinik.

       Ich fragte mich damals nicht, was sie hätte hindern sollen, mich auf der Entbindungsstation zu besuchen.

      Der Weg zur Einundzwanzig, die zum Südfriedhof fuhr, führte an der Schule vorbei. Die Schuluhr im Giebel zeigte Elsa an, dass sie sich wieder verspäten würde. Es war ihr egal. Sollten die Krähen doch warten.

      In der Grünanlage neben der Schule blühten die Sträucher. Elsa hatte nicht vergessen, dass sie vor zwanzig Jahren hier von Marias erstem Schulgang ein Foto gemacht hatte. Maria stand auf dem Bild in einem hellen Kleid zwischen Frauen in Schwarz. Lass es sie anziehen, hatte die Großmutter gesagt. Unsere Trauerzeit ist nicht ihre.

      Elsa zog dem Kind das Kleidchen über und steckte ihm eine rosa Schleife ins Haar. Als ihr eigener Vater gestorben war, hatte sie seinen Tod für bösen Zauber erklärt und Nacht für Nacht auf ihn gewartet, wie wenn er vom PHÖNIX kommen sollte.

      Auf jenem Foto zauderte Maria mit ihrem Lächeln, eingeschüchtert von der blicklosen Fassungslosigkeit Elisabeths und dem unheilvollen Schwarz, das jene nun ebenso umhüllte wie Mutter und Großmutter. Die Schmerzausbrüche der beiden Frauen hatten das Kind durch Wochen in panischen Schrecken gejagt und es fuhr schreiend aus dem Schlaf, wenn Elsa das Licht löschte. An dem Tag, als das Foto gemacht wurde, fürchtete es, von den Armen Elisabeths umschlungen und an ein Herz gepresst zu werden, dessen Jammer es erdrücken musste.

      Elsa hatte den unnatürlichen Glanz in den Augen des Mädchens gesehen, ehe es, Schaum vor dem Munde, in jenen Krampf fiel, der sich in Marias zweitem Jahr erstmals zeigte, jenem Jahr, als sie mit ihr in die Stadt zur Mutter gezogen war, um die Scheidung von Marias Vater durchzufechten. Dieser Glanz war auf dem Foto nicht zu sehen. Elsa konnte das Bild, wenn es ihr in die Hände fiel, nie ohne ein Gefühl von Schuld betrachten, obwohl sie nicht wusste, was das für Schuld sein sollte. Maria war gleich darauf wieder zu sich gekommen. Die Großmutter hatte die Schultüte geöffnet und eine Birne herausgelangt, in die das Kind gierig biss und deren Saft seinem Taftkleid den Rest gab. Die Schwarze hatte danach tatsächlich versucht, Maria zu umarmen, aber Elsa hatte es nicht zugelassen. Nicht, dass sie Marias Furcht begriffen hätte. Das Kind gehörte ihr. Basta!

      Elisabeth war in jenen Tagen um Jahre gealtert. Max Pinkert, ihr gefallener Mann, hatte vor jedem Einsatz eine