Christa Müller

Tango ohne Männer


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teilnahmslos blieb? Warum, dachte Elsa, hast du mich nicht beschützt? Tatenlos zugesehen hast du. Nein, du hast nicht einmal hingesehen!

      Die Unterwassermassagen hatten Elsa nicht wieder hergestellt. Trotzdem schrillte für sie wieder morgens der Wecker. Sie rührte keinen Finger, ihn zum Schweigen zu bringen. Die Strickmütze, mit der sie schlief, in die Stirn gezogen, duckte sie sich tiefer in die Wärme ihres Federbettes. Die Nächte im April Sechzig waren wie Winternächte.

      Eine Minute noch liegen. Noch eine. Sie spürte, wie diese Augenblicke das Zögern nährten, aufzustehen. Wie Minute und Minute zum Netz wurden, das sich über sie legte. Laut sagte sie zu sich: Erhebe dich du schwache Frau, in der Röhre steht Kakao!

      Was ist Kau-Kau?, hatte sie als Kind die Mutter gefragt.

      Schokolade.

      Was ist Schollo-Kade?

      Scho-ko-la-de! Was Gutes, Elsken.

      Aber die Ofenröhre in Hörde ist immer leer gewesen.

      Elsa schummelte sich unter der Bettdecke hervor, darauf bedacht, keine Wärme zu verlieren. Fest in den Bademantel gewickelt, stellte sie in der Küche den Wasserkessel aufs Gas und kroch ins Nest zurück.

      Ich will nicht, sagte etwas in ihr. Will nicht!

      Der Pfeifkessel signalisierte, dass das Waschwasser heiß war. Elsa schloss die Augen und befahl sich: Aufstehen! Sie schob das Deckbett fort, fühlte den Anprall der Kälte.

      Der Dampf hatte die Pfeife vom Kessel geschleudert und hing in Schwaden. Die beiden Spiralen der Heizsonne glühten hinter rostfleckigem Gitter. Ein singender Ton drohte ihr Versagen an.

      Das Badezimmer war hundekalt. Elsa wusch sich in einer der Schüsseln des Abwaschtischs in der Küche. Die Emaille war von der Eierfarbe noch grün verfleckt. Dann wühlte sie frische Wäsche aus dem Korb, der stand seit Wochen unterm Tisch. Sie hatte es aufgegeben, bügeln und die Sachen in den Schrank sortieren zu wollen.

      Das Kaffeewasser kochte. Sie rückte den Kessel vom Gas, ließ die Flamme brennen, damit es in der Küche überschlagen war.

      Sie zählte die Kaffeebohnen in ihre Hand, ehe sie sie in die Holzmühle kippte, die sie zwischen die Knie klemmte. Das Drehen der Kurbel, eine im Nacken schmerzende Bewegung. Flüchtig tauchte der Gedanke an eine elektrische Kaffeemühle auf, und wie immer ließ sie ihn fallen. Der Preis war unerschwinglich.

      Sie trank den Kaffee vor der Heizsonne und schrieb für die Großmutter auf den Rand der Sonnabendzeitung: Feure bitte im Schlafzimmer. Wenn ich komme, will ich gleich ins Bett. Die Seite zeigte vier Jungen und ein Mädchen, die mit Bauklötzen spielten. Das Mädchen hatte helles Haar. "Unbekümmert wachsen sie auf. Perspektive ihres Lebens: Der Kommunismus", stand unter dem Foto.

      Unbekümmert. Das war ein Wort, das Maria im Munde führte: Hier kann ich unbekümmert studieren!

      So sehr Elsa glauben wollte, dass es so sei, ihr Gefühl strafte dieses "Unbekümmert" Lügen. In hellsichtigen Augenblicken, sah sie wie Maria auch war: Besessen von einer Idee, die sich mit Blut, Verfolgung und Tod verband, imstande, dieser Idee alles zu opfern.

      Prüfend hob Elsa die Arme. Sie würde nicht zupacken können. Sie war gesundgeschrieben aber nicht gesund.

      Mit verfrorenen Schritten lief sie zur Haltestelle. Zwängte sich mit denen, die wie sie zur Arbeit fuhren, in die Straßenbahn, verließ sie am Hauptbahnhof, strebte, den Brühl querend, durch die Reichsstraße über die Grimmaische Straße zum Neumarkt. Dort befand sich der Personaleingang. Die seit dem vierten Dezember Dreiundvierzig klaffenden Lücken im Zentrum hatten Elsas Erinnerungen an die Stadt fast erblinden lassen. Diese Gegend, in die sie sich als Mädchen verliebte, weil sie in manchem Dortmund glich, war eine trostlose Öde. Als sie des großen, am Anfang des Jahrhunderts erbauten, Kaufhauses ansichtig wurde, das sie als "Althoff" gekannt hatte und noch manchmal so nannte, wurde ihr beklommen zu Mute. Ihr Mund wurde trocken, als sie mit dem Fahrstuhl hinauffuhr. In dem schwach erleuchteten Verkaufssaal schienen die Ständer mit Anzügen und Mänteln unter schwarzen Tüchern um die Stunden, Tage, Wochen, Jahre zu trauern, die Elsa zwischen ihnen verbracht hatte, getrieben vom Ehrgeiz, am Ende des Monats "Beste Verkäuferin" zu sein, ihr Foto am Roten Brett zu sehen und fünfzehn Mark Prämie entgegenzunehmen. Jemand rollte einen Wagen mit Anzügen übers Parkett. Die mussten, bevor der Verkauf begann, auf die Stangen sortiert werden.

      Sie fuhr in die fünfte Etage, wo das Personal seine Spinde hatte. Transparente lehnten an der Flurwand. Losungen sprangen ihr in die Augen.

      WIR FORDERN: FRIEDENSVERTRAG MIT BEIDEN DEUTSCHEN STAATEN. FÜR ALLGEMEINE UND VOLLSTÄNDIGE ABRÜSTUNG. DEM VOLKE MEHR LEBENSMITTEL - DER INDUSTRIE MEHR ROHSTOFFE - DEN BAUERN EIN SCHÖNERES UND KULTURVOLLERES LEBEN.

      An die Tür der Garderobe war ein Druck gezweckt. Elsa wandte sich unwillkürlich nach ihm um. Wie das junge Mädchen auf der Zeichnung die Fahnenstange mit beiden Händen vor ihrem Körper trug, selbstbewusst und mit jener leichten Neigung des Kopfes, die für Maria charakteristisch war. Elsa spürte wieder jenen unbegreiflichen Schmerz im Gemüt. Und wie jedes Mal, suchte sie ihn zu beschwichtigen. Diesmal, indem sie den Vorsatz fasste, noch am Abend einen Kuchen zu backen, den sie Maria und dem Herzelein schicken wollte.

      Für diesen Kuchen war Elsa an jedem Abend der Woche zu erschöpft.

      Am Sonntag, nach der Maidemonstration, raffte sie sich endlich auf, stellte die Rührschüssel auf den Tisch, schlug zwei Eier hinein, tat Zucker und Margarine dazu, suchte im Radio nach einem Konzert, fand nur Märsche, Hochrufe und Berichte von Demonstrationen auf einem Roten Platz, einem Wenzelsplatz, einem Marx Engels Platz und weiteren Plätzen. Und wären nicht die Sprachen, in denen geredet wurde, voneinander verschieden gewesen, hätte man alle Kundgebungen für eine halten können.

      Auf dem Wenzelsplatz marschierten die Friedensfahrer mit. Morgen sollten sie starten. Leipzig war in vierzehn Tagen Etappenziel, einem Sonntag, wie der Radiosprecher sagte.

      Elsa würde, was sie nicht vorhersehen konnte, an jenem Tag mit der letzten Straßenbahn aus Dösen, von der Mutter kommend, nach Hause gelangen, während die Friedensfahrer die Stadtgrenze passierten. In der Nacht würden zwei Züge aufeinanderprallen und das Orakel der Mutter erfüllen.

      Elsa rückte die Heizsonne an die Schüssel, die Margarine zu erweichen. Elsa versuchte linkshändig zu rühren. Der Nacken schmerzte, egal ob sie rechts- oder linkshändig rührte.

      Nimm dir Zeit, hörte sie im Geiste Großmutters Rede. Sie hatte das Gefühl, die Alte sei in der Küche, blicke ihr über die Schulter und würde jetzt sagen: Lass mal, ich mache das schon.

      Die Großmutter war heute nach Riesa gefahren. Zu Annas, ihrer ältesten Schwester, Beerdigung. Zu Fuß hatte sie sich in der Frühe auf den Weg zum Bahnhof gemacht, obwohl die Straßenbahnen noch fuhren.

      Anna Spranger hatte neunzig Jahre gelebt. Und die Großmutter klagte: Nun hat sie mich verlassen, meine Schwester. Könnte ich doch mit ihr begraben sein.

      Elsa gab eine Beileidskarte mit. An Kurt, Annas Sohn, und Gertrud, seine Frau. Heute waren es zehn Jahre her, dass Horst, einziger Sohn der beiden, Annas vergötterter Enkel, Jungaktivist im Stahlwerk wurde. Morgen würden es zehn Jahre her sein, dass ein sowjetischer Mannschaftswagen ins Werk fuhr. Fast bis an die Ofenbühne, sagten die, die es gesehen hatten. In diesem Wagen fuhren Horst und andere in ihrer Arbeitskluft davon.

      Wurden davon gefahren.

      Aus Kurts Munde, in Halb- nein, Viertelsätzen, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, mit huschenden Äuglein unter in jenen Nächten ergrautem Haar, aber exakt gescheitelt wie immer, nahm sich das aus wie Spuk. Doch hatte er es erfahren von denen, die hingeschaut hatten, am gleichen Tag, im Werk noch, als er mit scharf gebügelten Hosen, in gestärktem Hemd und mit Krawatte die Buchhaltung in dem Gefühl verdienten Feierabends verließ. Vielleicht eine Auszeichnung auf der Kommandantur, hatte er gedacht. Er blickte Gertrud, seiner Frau, nicht in die Augen, als er es vorbrachte.

      Horst kam nicht nach Hause und nicht ins Werk zurück.

      Anna, deren Kraft und Rüstigkeit, sie war damals