Christa Müller

Tango ohne Männer


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Von der Bettkante aus betrachtete sie das Foto von Ostern. Darauf wurde Elsa von Anette umhalst. Beide hielten die Augen geschlossen. Das Kind küsste sie fest auf die Wange.

      Mein Herzelein! Ich hole dich zu mir! Ich werde deine Mutter bewegen, dich mir zu geben. Nun, da Maria mit ihrem zweiten Kind niederkam, hoffte Elsa, dass sie ihr Anette anvertrauen würde.

      3

       Wenn ich hinter meinem noch immer runden Gesicht manchmal den hohlwangigen Schädel meiner Großmutter in den letzten Jahren ihres langen Lebens erahne, schaue ich nicht weg. Auf ihr fleischloses Antlitz lebe ich zu.

       In manchen Augenblicken zeigt mir der Spiegel andere Ähnlichkeiten. Sie beunruhigen mich. Unvermutet gewahrte ich während einer Drehung des Kopfes, die runde Stirn Elisabeths. Zum Beispiel.

       Als ich Kind war, versicherten mir die Erwachsenen, ich sei meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Der ganze Herbert, sagte Großmutter. Sie wollte mich so sehen. Mir war es recht. Meiner Mutter wollte ich nicht ähnlich sein. Ich fühlte ihr Unglück.

       Manchmal spüre ich bei einem Schritt, einer Geste, einem Atemzug: jetzt gleiche ich ihr.

       Ich will es nicht. Ich habe ihre Hände und Füße, die blauen Äderchen auf den Oberschenkeln und in den Kniekehlen. Ich habe ihr breites Becken, ihre Hüften, ihren gewölbten Bauch. Meine Schultern schmerzen wie die ihren geschmerzt haben müssen. In meinem Nacken der Wirbel ist, wie es zuletzt bei ihr war, fast ein Höcker. Auch mir bereitet er Pein.

       Ich will dein Gesicht nicht in meinem finden, deinen Körper nicht in meinem entdecken. In nichts will ich sein müssen, wie du warst, Elsa.

      Als Anette zur Welt kam, erfuhr Elsa von dieser ihrer ersten Großmutterschaft durch einen Brief.

      Maria hatte ihn an sie adressiert, doch Euchler, Elsas dritter Ehemann, riss ihn auf.

      Du! Wir kriegen Zuwachs, bläkte er aus der Küche, als sie im Korridor ihre Schuhe auszog. Er hatte an diesem Tag Frühschicht gehabt, und sie kam nach Geschäftsschluss heim. Deine Kleene! Ist was unterwegs! Weihnachten kommt sie nicht. Dann ist es nämlich so weit.

      Elsa schloss sich mit dem Brief im Bad ein.

      Du wirst es ja schon vermutet haben, las sie, und in Elsas Gedächtnis stürzten Eindrücke ihrer letzten Begegnungen durcheinander.

      Der Zopf, der noch im Sommer über einer mädchenhaften Taille baumelte. Ihr Stolz, dass die Zweiundzwanzigjährige wie siebzehn aussah. Das machte sie selbst jünger. Sie war sieben Jahre älter als der neue Bräutigam.

      Ein paar Wochen später. Maria in P.! Das Gesicht war aufgequollen und ihr Haar ohne Glanz.

      Bist du krank?, hatte Elsa gefragt und keine Antwort erhalten.

      Kurz nach der Hochzeit war sie mit Euchler nach P. gefahren, wo Maria ein Studium aufnahm. Sie war stolz auf die Tochter. Die schlug einen Weg ein, von dem Elsa als Mädchen geträumt hatte: Maria ging zum Film.

      Es war ihr Fest. Ihre Immatrikulation. Euchler konnte das Wort nicht mal aussprechen! Er wollte unbedingt eine Dampferpartie mit mir machen, dachte Elsa. Sie warf sich vor, das nicht abgelehnt zu haben. Du kannst mitkommen, hatte er zu Maria gesagt. Ich habe nichts dagegen, wenn du deine Mutter begleitest.

      Maria sah ihn nicht einmal an.

      Vielleicht hatte Maria sich aussprechen wollen. Weinte sie nicht neben ihrer Schulter in der Dunkelheit des Saals?

      Wäre ich allein gefahren, sagte sie sich im vor Euchler verschlossenen Badezimmer, hätte sie sich mir anvertraut. Oder ich wäre selbst draufgekommen.

      Mein Gott! Ihr Studium! Was sollte nun werden.

      Nur ein Wort! Am Hochzeitsmorgen noch! Noch in der Tür zum Standesamt! Ein Wort, das mich ins Bild gesetzt hätte, dass du ein Kind kriegst, und ich hätte ihn nicht geheiratet.

      Euchler schlug an die Badezimmertür.

      Elsie! Was ist los? Komm raus! Mach kein Quatsch. Was ist denn dabei, wenn sie was Kleines kriegt?

      Elsa drehte den Wasserhahn auf, kühlte ihr verschwollenes Gesicht.

      Am Abend jenes für Elsa so unglücklichen Tages brachte die Großmutter ein Tischtuch zurück, aus dem sie zwei Rostflecke mit Kleesalz entfernt hatte. Sie fragte, ob Maria geschrieben habe. Sie fragte es immer. Elsa schüttelte den Kopf. Sags ihr nur! Euchler grinste. Ist doch ihre Enkelin. Sie muss doch wissen, dass sie Urgroßmutter wird.

      Elsa kam es vor, als fühle sie den Schreck, der der Alten durch die Glieder fuhr. Sie spürte ihren Blick vorsichtig zu ihr kommen und konnte sie nicht ansehen, weil ihr die Tränen in der Kehle saßen und sie vor diesem Mann nicht weinen wollte.

      Was seid ihr denn so stumm? sagte Euchler. Das ist doch ein Grund zum Feiern. Hast du nicht eine heimliche Flasche versteckt? Er schubste Elsa vertraulich.

      Die Großmutter sagte: Elsa, sei gut zu deinem Kinde. Maria braucht jetzt alle Liebe.

      Liebe.

      Die Umarmung Anettes, wie das Foto von Ostern sie festhielt, war ein Augenblick, in dem Elsa über ein Glück staunte, das sie mit Maria nie erlebt hatte. Sie sehnte sich nach der Enkelin, deren ungebrochenem Vertrauen, den Augen, die noch jede Regung offen spiegelten. In den Ostertagen hatte Elsa Anette ganz für sich gehabt, als Maria, mit durchgedrücktem Kreuz und schnaufend schon, ihren schwangeren Leib trug.

      4

      Elisabeth hatte Spargel aufgetrieben. Sein Duft hing im Treppenhaus. Elsa fand ihre Schwestern geschäftig zwischen Zimmer und Küche durchs Schlafzimmer eilen. Elisabeth drückte ihr eine Kristallschale mit Schokoladenpudding in die Hände. Ein geheiligtes Stück vom Buffet der Mutter. Die Schälchen stehen in der Vitrine! Oben! rief sie ihr zu.

      Elsa trug den Pudding, vorbei an den Ehebetten, nach hinten. Wohnzimmer nannte Elisabeth dieses Hinten, das der Tisch so gut wie ausfüllte. Sie hatte ihn mit dem geerbten Damast gedeckt. Und dem Porzellan beladen, das die Mutter nur an Feiertagen auflegte.

      In der Ecke am Fenster der Nähtisch, den Elisabeth niemals benutzte, war vollgestellt mit nickenden Chinesen, künstlichen Blumen, porzellanenen Katzen und anderen Nippes. Überm Sofa schien der Hirsch im bronzevergoldeten Rahmen, der in der Weite des mütterlichen Wohnzimmers ein wenig auffälliges Dasein geführt hatte, über Enge zu klagen. Elsa wandte sich zur Vitrine, die das Zimmer mit schwarzem Holz verdüsterte. Hinter den Glasscheiben stand eine Armee wurmstichiger Weihnachtsmänner und Osterhasen aus bunt eingewickelter Schokolade. Einige waren darunter, die hatte Elsa noch vor dem Kriege der Schwester geschenkt. Sie hatte diese Sammlung, die über alle Notzeiten hin unangetastet geblieben war, nie ohne Befremden gesehen. Seit sie im vergangenen Jahr im Schlafzimmer der Mutter das Vertiko aufbrechen mussten, weil sein Schlüssel unauffindbar blieb, und sie es vollgestopft mit wurmigem Mehl, steinhartem Fondant, ranzigem Speck und anderen verdorbenen Lebensmitteln fanden, seit jenem Tage schauderte es sie, in dieser Vitrine einen Charakterzug Elisabeths Gestalt annehmen zu sehen, den sie von der Mutter geerbt haben musste.

      Weiß und zart, mit grünen Spitzen, lagen Spargelstangen auf noch weißeren Tellern, übergossen mit hellgelber Butter, daneben Schnitzel, goldgelb paniert und so weich, dass auch falsche Zähne damit fertig wurden.

      Die Kartoffeln sind wässrig! Du musst sie nach dem Abgießen dämpfen! Das war der Elsa verhasste Ton an Luise. Elsa sah Röte die pigmentlosen Stellen an Elisabeths Hals färben. Dein Spargel ist wunderbar, sagte sie. Er zergeht auf der Zunge wie Sahne. Das war Elsas Angebot an die Schwester, sich wie in Kinderzeit mit ihr gegen Luise zu verbünden. Elisabeth nahm den Ton auf.

      Meine Nachbarin war Spargel stechen. Heute Morgen. Er ist ganz frisch.

      Ich könnte ihn auf dem Markt kriegen, sagte Luise. Aber nicht billig. Denkt nicht, ich leiste mir welchen.

      Ich