Christa Müller

Tango ohne Männer


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und über die Straße nach der Schwiegermutter Ausschau. Nicht fünf Minuten brauchte die zum Grab ihres Alten! Elsas Blick ging zu den Fenstern des dritten Stockes des Hauses Nummer neunundfünfzig der dem Friedhof gegenüberliegenden Straße. Sie erkannte die Spitzenstores und daran, dass diese Fenster in der Sonne anders blitzten als die benachbarten: Die Alte hatte Frühjahrsputz gehalten. Wie von allein gingen Elsas Füße vorbei an Häusern mit Zwiebeltürmen, den mayerschen Häusern, hin zu dem Haus, in dem sie durch fünfundzwanzig Jahre mit wechselnden Gefühlen drei Treppen zur Wohnung ihrer Schwiegermutter hinaufgestiegen war.

      Der Hausflur war sauber und still, die Holztreppen dufteten nach Wachs. Jede Bohle der geräumigen Treppenabsätze, jede Stufe glänzte von der ihr Jahrzehnte zuteilgewordenen Pflege. Die Treppenfenster gaben den Blick auf den mit roten Backsteinen gepflasterten Hof und ebensolchen Nachbarhöfen frei, an die sich grüne Wäschetrockenplätze legten. Und ehe der Blick die nächsten Häuser erreichte, schweifte er über Bleichen und Kinderspielplätze aus den Dreißigerjahren. Für eine Wohnung dort drüben hätte Elsa viel gegeben.

      Sie gelangte auf den dritten Vorsaal und drückte die Klingel über dem in fleckenlos glänzendes Messing geschlagenen Namen: Richard Müller. Erleichtert nahm sie einen Schatten hinter dem grünen Kräuselglas in der Tür wahr. Das dürre Weiblein öffnete, ließ die Schwiegertochter eintreten, während es sich noch seine Hände an der Schürze trocknete.

      Luise ist heute gekommen, sagte Elsa. Hab sie mit Elli vom Bahnhof geholt. Die Alte wartete auf eine andere Nachricht.

      Mit Maria ist noch nichts.

      Die Schwiegermutter seufzte.

      Ich habe das Essen fertig, sagte sie. Iß was mit. Ein wehmütiges Gefühl beschlich Elsa in der vertrauten Küche. Es tauchte hin und wieder auf in letzter Zeit. Wie Trauer. Wie Abschied.

      Die Kartoffeln sind immer noch gut, sagte die Großmutter, während sie aßen. Das werde ich dieses Jahr nicht mehr schaffen mit meinen Füßen. Sie hatte auch letzten Herbst wieder Kartoffeln mit dem Handwagen vom Lande geholt.

      Du wirst uns allen noch was vormachen, sagte Elsa.

      Die Alte fand den Kleiderstoff nicht so schlecht und lachte über die Drastik, mit der Elsa ihrem Ärger über Luise Luft machte. Sie riss dabei den Mund auf und Elsa erblickte den einzigen Zahn, der, bräunlich und fremd wie ein Stalagmit, vor der Gaumenhöhle stand.

      Elsa blickte in das vertraute Gesicht, dessen Falten den Totenschädel schon durchscheinen ließen. Die tiefen Wangenlöcher, das fleischlose Kinn, die Zeichnung der Kiefer hinter schon fast unsichtbaren Lippen und die sich über den wässrigen Augen abzeichnenden Stirnbögen. Das weiße Haar, glatt hinter die Ohren gestrichen, im Nacken zu einem dünnen Zöpfchen geflochten und aufgesteckt, hatte sie dicht gesehen, zu einem Kauz gezwungen, der stärkste Haarnadeln brauchte.

      Sie haben mir gestern die Kur gestrichen, sagte Elsa. Ein Jahr habe ich drum gekämpft. Nun sagen sie in der Menckestraße, erst muss klar sein, was die Schatten auf meiner Lunge bedeuten. Ins Moorbad könnten sie mich damit nicht schicken.

      Wenn du's auf der Lunge hast, brauchst du eine andere Kur. Die Alte bewies es an Beispielen aus ihrem Bekanntenkreis von den Friedhofsbänken. Elsa hörte begierig zu.

      Willst du mal dein Alpenveilchen sehn? fragte die Alte. Es hat dreiundzwanzig Blüten!

      Die Wohnstube duftete nach frisch gewaschenen Gardinen. Der gestrichene Fußboden glänzte. Von diesem Fußboden konnte man essen.

      Die Großmutter raffte den Store zur Seite und Elsa sah "ihr" Alpenveilchen: ein rot-weißer Blütenbusch zwischen schlierenlos blanken Doppelfenstern. Wie du das machst! sagte Elsa. Den Topf hatte sie vor Jahren herübergebracht. Mir geht alles ein.

      Auf dem Schreibtisch neben dem Fenster standen Fotos von Anette. Die gleichen, wie auf Elsas Nachttisch und Elsa schnürte es die Kehle zu.

      Ich bin morgen dort zum Essen, sagte sie und meinte: bei den Schwestern. Wenn eine Nachricht kommt, bringe ich dir Bescheid. Schon in der Tür zerrte sie das eingeschweißte Fleisch aus der Tasche. Nimm du's sagte sie. Die Großmutter wehrte ab.

      Nimms nur, drängte Elsa. Es ist geräuchert und wird nicht gleich schlecht. Sie nötigte es ihr in die Hände. Aber lass vor denen nichts verlauten, falls ihr euch seht.

      Die Alte schickte sich drein.

      Elsa, von der Großmutter kommend, ging, entlang der Mauer des alten Jüdischen Friedhofs, nach Hause. Er grenzte an den Nordfriedhof und war ihr noch vertrauter, denn er lag unter ihren Fenstern. Das Hinterhaus, in dem sie wohnte, stand an der Mauer, die ihn gegen die Höfe der Hamburger Straße abschloss.

      Sie wollte in der Drogerie an der Ecke eine Kerze zu Elisabeths Geburtstag kaufen. Sie vermochte nicht den Laden zu betreten. Ihr fehlte die Energie, um die Klinke zu drücken, die Tür hinter sich zu schließen, die wenigen Schritte zum Ladentisch zurückzulegen, zu lächeln. Man würde sie fragen, ob ihr nicht gut sei, was ihr denn fehle. Sie würde in Tränen ausbrechen. Diese Geburtstage! Gott sei Dank war dieser der Letzte im Jahr, sah man ab von dem Kind, das noch geboren werden sollte. Sie musste Maria an Ellis Geburtstag erinnern. Wenn Maria vergaß zu gratulieren, nähme Elisabeth das übel.

      Elsa schlich an den Häuserwänden und Toreinfahrten der Hamburger Straße entlang zum Haus Nummer sechsunddreißig. Sie drückte den Körper gegen den Türflügel. Der gab nach. Das kastenartige Hofgebäude, dessen Mauern ein Gerüst umstellte, gelangte in ihr Blickfeld. Die Woche über hatten drei Arbeiter Putz von den Mauern gehackt, und es hatte für Elsa keinen Ort gegeben, wo sie dem Krach hätte entkommen können. Ihre Blicke saugten sich an den Knospen der Kirsche in Noas vorderem Garten fest, und, als sie vorüber war, an den Knospen des Apfelbaums, der seine Zweige zu ihrem Küchenfenster reckte und danach an den Knospen der Birne im hinteren Garten. Es kam ihr sehr weit bis zur Haustüre vor. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, falls aus dem Vorderhaus jemand jetzt auf den Hof blickte und sie gehen sah. Die Tür zu Trummers Werkstatt, die unter ihrer Wohnung lag, stand offen, gehalten von einem der zerschlissenen Sessel, die er aufarbeitete. Sie hörte ihn husten. Er vertrug den Staub alten Seegrases so schlecht wie sie.

      Im Winkel zwischen Friedhofsmauer und Grasers Garage - Gott sei Dank, er fummelte heut nicht dort drinnen an seinem alten BMW herum - hatten die Maurer den abgeschlagenen Putz auf einen Haufen geworfen und ihren Mörtelkasten deponiert. Von dorther setzte ein Geruch nach Ruinen, nach Krieg und Zerstörung, Elsa zu. Sechzehn Jahre nach dem letzten Bombenangriff auf Leipzig reagierte ihr Körper darauf mit Übelkeit, und es half nicht, dass sie sich sagte, dieses Mal geschähe dem Hause Gutes.

      Das Futter ihrer Handtasche hatte ein Loch. Das Schlüsselbund war hindurchgeschlüpft und steckte zwischen Stoff und Leder. Geduldlos zerriss sie die Seide.

      Hinter der Tür sank sie erschöpft auf die schmale Treppe, riss sich den Mantel auf. Aus dem Zentrum ihres Leibes steigend, schlug eine Hitzewelle über ihr zusammen. Feuer brannte hinter ihren Augäpfeln. Das sind die Wechseljahre, sagte sie sich.

      Kein Brief, kein Telegramm lag auf dem Granit vor der Stiege. Sie schloss ab und schleppte sich hinauf. Jetzt fror sie. Sie zog den Mantel erst im Schlafzimmer aus. Ließ die Rollos herab und verkroch sich in das seit Tagen ungemachte Bett.

      Ein Engel trat zu ihr. Trug Elisabeths Züge. Rabenschwarz seine Locken. Schweigend blickte er sie an. Sie fühlte, wie ihr Herz zu schlagen nachließ.

      Nein! keuchte sie. Nein! Ich will leben. Muss leben! Ich habe Maria. Sie braucht mich!

      Sie fand sich, erwachend, dem Nachhall ihrer Schreie ausgesetzt. Sie hatte ihn wiedererkannt. Dieser Engel war ihr am Krankenbett der Mutter erschienen. Sie fürchtete ihn. Sie fürchtete die Angst, die er ihr einflößte.

      Sie ging in die Küche. Seit Tagen hatte sie die Dinge, die sie in die Hand genommen, nicht wieder an ihren Ort gestellt. Mit Widerwillen sah sie das Durcheinander und nahm sich vor, Ordnung zu schaffen. Morgen.

      Im Schrank auf dem Korridor, zwischen Marias Büchern, verwahrte sie eine Flasche selbst gemachten Eierlikör. Mit dem Glas, das sie vom Tisch genommen und nicht ausgespült hatte, ging