Annette Riemer

Das Problem mit Afrika


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Fenster im Obergeschoss werden Morgen geputzt“, klang wieder diese körperlose Stimme.

      „Schon gut, Q3“, wehrte Martin ab und besah sich sein Gesicht im Spiegel. Blass kam es ihm heute Morgen vor, abgespannt und müde. „Ich möchte nur mal wissen, warum ich mich so kaputt fühle“, sagte er verdrossen. Langsam kämmte er sich das Haar zurück, da kam ihm plötzlich eine Idee. „Q3, hast du etwa schon wieder …“

      „Es geschah zum Besten der Firma!“, rief die Stimme sofort und fast schon ein wenig zu aufgebracht für einen Computer. „Die Energie, die Ihnen entnommen wurde, während Sie von dem Gartenhaus mit der Frühlingswiese träumten, reichte, um sechs Stunden Arbeitszeit auszufüllen. Nur so konnte ich Sie getrost bis elf Uhr schlafen lassen.“

      „Es ist Wochenende!“, warf Martin ein, doch Q3 gab genauso empört zurück: „Aber doch nicht für Sie! Sie wollten ausschlafen, hieß es. Aber dass Sie dabei nicht gestört werden sollten, haben Sie nicht befohlen.“

      „Ach, Q3 …“, murmelte Martin und rieb sich nachdenklich das Kinn, „du hast ja Recht.“

      „Sie sind neuerdings so abwesend“, stellte die Stimme fest.

      „Wirklich?“ Martin horchte auf. „Ist dir das aufgefallen?“

      „Seit exakt dreizehn Tagen nun schon geben Sie ungenaue Anweisungen. Um Sie zu verbessern, werden die Erfahrungswerte meiner Datenbank permanent überstrapaziert. Zudem muss ich gelegentlich bewusst fehlerhafte Entscheidungen treffen, damit nicht offenkundig wird, dass ein Computer ihr Leben steuert. Und Sie wissen genau, wie ungern ich gegen jede Logik agiere.“

      „Das tut mir leid“, meinte Martin ehrlich zerknirscht. „Ich weiß auch nicht, was mit mir ist … Aber ich werde versuchen, mich wieder stärker an dem täglichen Geschäft zu beteiligen. Auch wenn … hach ja.“

      Seufzend griff Martin zu seiner Zahnbürste, doch kaum war er mit ihr an die hinteren Backenzähne gelangt, schrie er vor Schmerzen auf. „Was ist das?“, fragte er fassungslos, als er die kleine, ausgespuckte Blutlache im Waschbecken erblickte.

      „Das ist Ihr Blut, AB negativ“, konstatierte Q3.

      „Ja, aber warum blute ich?“

      „Weil Sie heute Nacht operiert worden sind.“

      „Ich … war ich krank?“, fragte Martin verunsichert. „Und damit kommst du mir erst jetzt, nach der Börse und dem Kongo?“

      „Es wurden einige Bewegungen in Ihrem rechten Oberkiefer festgestellt, woraufhin Ihr Weisheitszahn prophylaktisch entfernt wurde. Um Ihren Schlaf während des Eingriffs nicht zu stören, wurde Ihr Traumbild intensiviert. Bis zum Eintritt in den Halbschlaf bekamen Sie zudem intravenös ein schmerzstillendes Mittel verabreicht. Ich hoffe, die Operation verlief zu Ihrer Zufriedenheit?“

      Martin betrachtete seinen Arm. Tatsächlich fand sich dort ein winziger roter Punkt, der von dem Einstich zeugte. Er seufzte schwer. Die Technik war ja noch so rückständig! Dann aber schaute er wieder in den Spiegel. „Und?“, fragte Q3 automatisch. Von einer Schwellung seines Gesichts war nichts zu sehen. „Danke, gut“, murmelte Martin und fuhr sich über die Wange. „Ich träumte, eine Biene hätte mich gestochen, als ich über meine Wiese spazierte“, meinte er, während er sich den Morgenmantel umlegte.

      „So werde ich also veranlassen, bei dem nächsten Eingriff Ihr Traumbild entsprechend zu verstärken“, bot sich Q3 an, doch Martin schüttelte heftig den Kopf. „Wie viele fehlen uns denn noch?“

      „Sollten die Weisheitszähne im Unterkiefer ebenso schräg liegen wie die bereits entfernten, worauf die vorliegenden Röntgenaufnahmen hindeuten, stehen Ihnen noch zwei Operationen bevor.“

      „Gut“, seufzte Martin wieder, „dann aber kein Traum vom Gartenhaus. Lass mich beim nächsten Mal von meiner Mutter träumen, dann spüre ich die Nadel bestimmt nicht.“

      „Von Ihrer verstorbenen Mutter?“, fragte Q3 nach. „Einen Traum, basierend auf kindlich-unkritischen Erinnerungen, eine sentimentale Sehnsuchtsvariation derselben oder eine Rekapitulation der bösartigen Greisin, die Ihre Mutter zuletzt war?“

      Martin dachte kurz nach. „Die alte Hexe“, beschied er dann. „Das dürfte jeden Einstich überdecken.“

      Er streifte das Handtuch ab und verließ das Bad. Wie jeden Tag ging er in die weitläufige Küche, stellte wie immer fest, dass Q3 den Tisch bereits gedeckt hatte – aber heute beruhigte ihn dieser Anblick nicht wie sonst. Im Gegenteil, aus unerfindlichen Gründen konnte er die melancholische Stimmung, in der er seit dem Aufwachen feststeckte, nicht abschütteln. Vielleicht lag es an dem Weisheitszahn, dachte Martin und streichelte sich vorsichtig die Wange. Jetzt, wo er nicht mehr sein Spiegelbild vor sich hatte, fühlte er doch eine leichte Schwellung. Wahrscheinlich hatte Q3 ihm die Haare schneiden lassen, um eine optische Täuschung zu erzielen. Ja, Martin war sich ganz sicher, dass der Computer ihn manchmal betrog. Wohl aus Angst, aufgrund seiner vielen, kleinen Macken eines Tages durch ein neueres und zuverlässigeres Modell ersetzt zu werden. Dabei lag Martin nichts ferner als das, denn dann müsste er ja wieder das langwierige Prozedere des Programmierens über sich ergehen lassen.

      Er konnte noch immer nicht den Blick von dem Frühstückstisch abwenden. Alles stimmte dort, stand an seinem üblichen Platz, war auf Gramm und Kalorie genauestens von Q3 ausgewogen worden – und doch verspürte Martin nicht die geringste Lust, etwas zu essen. „Ich glaube, ich habe … eine Art …“

      Er hörte ein verhaltenes Räuspern. „Bitten wählen Sie präzisere Ausdrücke“, forderte die Stimme verhalten. Als müsste er Martin bei seiner Wortfindung unterstützen, ließ Q3 einzelne Küchengeräte aufleuchten. „Möchten Sie zum Mittagessen übergehen, empfehle ich Beef.“ Der Herd strahlte in mattem Blau. „Die Spülmaschine wurde Anfang der Woche entkalkt.“ Ein kurzes Aufblinken der Maschine folgte. „Haben Sie Fragen zur Herkunft Ihrer Bananen?“ Die Obstschale vibrierte in dunklem Grün.

      „Das ist es nicht, Q3“, meinte Martin niedergeschlagen. „Ich habe irgendwie …“

      „Bitte wiederholen Sie den letzten Ausdruck, er wurde nicht verstanden.“

      „… so was wie … einen seelischen Platten.“

      „Die Seele existiert nur in Ihrer Vorstellung“, warf Q3 ein. Martin musste lächeln. Das hatte er ihm ja fein beigebracht! Und doch zweifelte er heute an seiner eigenen Weisheit. Vielleicht lag es wirklich an dem Zahn …

      „Wann war ich eigentlich das letzte Mal unter Menschen?“, fragte er.

      „Das ereignete sich vor fünf Jahren, drei Monaten und elf Tagen, als Sie nach dem Tod Ihrer Mutter dieses Haus bezogen und technisch auf den neuesten Stand bringen ließen. Sie bedankten sich bei dem Installateur und verabschiedeten ihn an der Tür“, antwortete Q3 sofort und setzte, wenn auch etwas mechanisch, nach: „Ist Ihnen einsam?“

      „Ja, ich weiß nicht …“, wusste Martin nicht.

      „Wenn Sie mögen, könnte ich Ihnen Dopamin verabreichen“, schlug die Stimme vor.

      „Zum besseren Einschlafen?“

      „Zur Imitation des Gefühls eines Orgasmus. Nach meinen Daten half das Ihnen über vergangene Missstimmungen recht verlässlich hinweg.“

      „Nein, danke!“, knurrte Martin. Q3 verstand ihn heute einfach nicht. Was in ihm vorging, ließ sich nicht so ohne Weiteres weginjizieren. Martin wusste ja selbst nicht, woran er mit sich war. In Gedanken versunken ging er auf den Kühlschrank zu, öffnete die Tür und …

      „Wo ist das Bier?“

      „Sie haben es ausgetrunken.“

      „Warum hast du nichts nachbestellt? Seit wann fehlt hier etwas?“

      „Bier belastet Ihre Organe und Ihr Wohlbefinden. Ohne Ihre ausdrückliche Aufforderung beschaffe ich Ihnen dieses Gift nicht. Das wäre entgegen meiner Grundfunktion, Ihnen Unterstützung zu sein. Und, wie bereits gesagt, geben Sie in letzter Zeit äußerst ungenaue Anweisungen.“