Samina Haye

Der Weg nach Roseworthy


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morgen geht, dass Sie sich wieder wohl fühlen. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen.“ Zoe sah ihm in die Augen.

      „Vielen Dank. Ich finde es sehr nett von Ihnen, dass Sie mich so unterstützen, aber dieser Schritt zurück ins Leben, in den Beruf, ist längst überfällig. Schließlich muss es irgendwie weitergehen, auch wenn das Leben nicht mehr so viel wert ist, als es mal war.“

      Der Direktor blickte Zoe mitfühlend an und berührte ihre Hand.

      „Oh, bitte sagen Sie so etwas nicht. Das Leben ist noch genau so viel wert. Ich weiß, es ist schwierig, geliebte Menschen zu verlieren, die einem Kraft und Liebe im Leben gaben. Ohne sie zu sein scheint anfangs unmöglich, doch Sie werden es schaffen.“

      Draußen läutete die Schulglocke. Nun war es an der Zeit, wieder ihren Schülern gegenüberzutreten.

      Die Schüler freuten sich, ihre geliebte Lehrerin wieder zu sehen, doch sie waren sehr still und befangen weil sie nicht wussten, wie sie darauf reagieren sollten.

      Als zum Mittag die Glocke erklang war sie sichtlich froh darüber, dass sie den ersten Tag überstanden hatte.

      Sie ging noch kurz zum Direktor und teilte ihm mit, dass sie ganz gerne kürzer treten wolle. Er gab ihr sein Okay.

      Vor Freude, so einen Chef zu haben, fiel sie ihm um den Hals und bedankte sich. Danach machte sie sich auf den Heimweg.

      Beim Abendessen und einem Glas Wein berichtete sie ihrer Schwester von ihrem ersten Arbeitstag.

      Lina freute sich sehr, dass Zoe diesen ersten Schritt geschafft hatte. Endlich schien sie wieder an etwas Freude zu haben.

      Am nächsten Tag stand Zoe gut gelaunt auf und machte sich nach dem Frühstück auf den Weg zur Schule.

      Beim Gehen genoss sie die winterliche Natur, in Gedanken schon ganz bei ihren Schülern und Kollegen.

      Im Lehrerzimmer unterhielt sie sich wie früher mit ihren Kollegen über Schularbeiten, Tests und natürlich über die Schüler.

      Die Grundschule in Luxemburg ist in verschiedene Gruppen aufgebaut. Zoe hatte die erste Gruppe zu betreuen, das sind die jüngsten Kinder, vom fünften bis zum siebten Lebensjahr.

      In dem letzten Jahr hatte sie auch ihren Sohn Nick unterrichtet.

      Am Montag war sie mit so vielen Sachen beschäftigt gewesen, dass ihr gar nicht aufgefallen war, dass ihr Sohn nicht in der Klasse war.

      Doch heute, vorm Unterricht, die Schüler waren noch nicht da und sie saß alleine in der Klasse und bereitete ihre Unterlagen vor, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen:

      Ihr Sohn fehlte.

      Früher war er mit ihr in die Schule gekommen, hatte sich auf seinen Platz gesetzt, gemalt oder Fleißaufgaben gemacht.

      Dies alles ging ihr nun durch den Kopf, vor ihrem inneren Auge lief ab, was sie alles mit ihren kleinen Sohnemann hier in der Schule erlebt hatte.

      Sie sah ihn weinend, fröhlich und inmitten seiner Freunde.

      Zoe überkam Panik. Wo ist er? Hab ich ihn zuhause vergessen? Doch dann kam es ihr zu Bewusstsein und sie fühlte wieder diesen grausamen Schmerz. Er wurde ihr genommen. Er war weg, und das für immer.

      Sie wollte davon laufen, doch dann klingelte die Glocke und die Schüler stürmten lustig und fröhlich in die Klasse.

      Sie atmete tief durch, sagte sich, dass sie jetzt stark sein müsste.

      Die Schüler begrüßten sie und jeder setzte sich brav auf seinen Platz. Sie wartete, bis alle da waren und es still war.

      Dann begrüßte sie die Kinder und fing mit dem Unterricht an.

      Die paar Stunden bis zum Schlussklang der Glocke schienen heute ewig zu dauern, doch als sie es geschafft hatte, die Kinder zu verabschieden, ging sie schnell nach Hause, denn sie wollte endlich für sich alleine sein.

      Ihre Schwester war gerade dabei, das Essen zuzubereiten als Zoe hereinstürmte, alles auf den Boden warf, hinauf ins Schlafzimmer rannte und die Tür zuknallte.

      Lina fragte sich, was denn passiert sein könnte, lief hinterher und klopfte an die Tür.

      „Süße, was ist denn los? Darf ich reinkommen?“ Es kam keine Antwort. Aber Lina machte sich solche Sorgen, dass sie einfach die Tür still und leise öffnete.

      Zoe lag zusammengerollt auf dem Bett, hatte die zerknüllten Polster über den Kopf gelegt und weinte.

      Lina ging zu ihr, setzte sich auf das Bett, streichelte sie am Rücken und sprach zu ihr. Doch es dauerte lange, bis sich Zoe beruhigen konnte, und nach langer Zeit, drehte sie sich um und setzte sich auf.

      „Zoe, was ist denn passiert? Warum bist du denn so aufgelöst?“ Sie sah Lina an und begann zu erzählen.

      „Heute in der Schule kam mir wieder alles zu Bewusstsein. Gleich am Morgen saß ich alleine im Klassenzimmer und wollte meine Unterlagen sortieren, als mir auffiel, dass Nick nicht da war. Ich bekam Panik, dass ich ihn zu Hause vergessen hätte, bis mir wieder einfiel, dass er ja weg ist, mein Sohn ist für immer weg und kommt nie wieder zu mir zurück.“

      Lina nahm Zoe in die Arme, auch sie musste heftig weinen, weil auch sie die Trauer wieder übermannte.

      Erst jetzt kam ihr der Gedanke, wie schwer es für ihre Schwester sein musste, wieder an dieser Schule zu unterrichten.

      Festzustellen, man hat einen Schüler weniger und genau dieser eine ist der eigene Sohn. Unfassbar.

      „Ich werde noch ein bisschen kürzer treten müssen und darum werde ich jetzt den Direktor anrufen und ihm Bescheid geben.

      Lina nickte und ging mit ihrer Schwester nach unten ins Esszimmer, wo sich das Telefon befand.

      Zoe sprach lange mit ihrem Chef, er zeigte sich einfühlsam und gab ihr noch etwas Zeit.

      Sie bedankte sich für alles und wünschte ihm einen schönen Tag.

      Zoe probierte diese Woche nochmal zu unterrichten, doch sie fand nicht mehr hinein, es machte ihr in dieser Schule keinen Spaß mehr und so kam sie beim Frühstücken plötzlich zu einem überraschenden Entschluss.

      Da Direktor de Mol mit Auslandsschulen zusammen arbeitete und Lehrer auf der ganzen Welt vermittelte, entschied sie sich dafür, sich anzumelden, um mal für eine gewisse Zeit auszuwandern. Denn vielleicht fiel es ihr einfacher in einem neuen Land wieder glücklich zu werden.

      Irgendwie hatte Zoe Angst vor der Meinung ihrer Familie, was sie wohl von ihrem Plan halten würden, aber daran durfte sie jetzt nicht denken, sondern musste nach vorne blicken.

      Als sie gerade in ihren Gedanken vertieft war trat Lina noch etwas verschlafen in die Küche.

      „Guten Morgen, na, so früh wach heute?“

      „Ähm, ja, es gibt was, das mich seit Tagen beschäftigt und das muss ich dir jetzt mitteilen. Ich finde es besser, es jetzt zu tun, ehe es unsere Eltern später erfahren“, sagte sie und Lina wurde ungeduldig.

      „Zoe, jetzt sprich doch mal Klartext und halte mich nicht immer hin“, wurde sie etwas schroff.

      „O.k., o.k. Ich will dir das in Ruhe sagen und nichts Wichtiges dabei vergessen. Also, der Direktor an meiner Schule setzt sich für neue Schulen in anderen Ländern ein und hilft dabei, gute und qualifizierte Lehrer dorthin zu vermitteln. Deshalb bin ich zu dem Entschluss gekommen, für eine gewisse Zeit die Schule und das Land zu wechseln“, informierte sie Lina und fuhr fort.

      „Ich habe gemerkt, dass ich mich an dieser Schule nicht mehr wohl fühle, ich werde an jeder Ecke an Nick erinnert, darum will ich mit Direktor de Mol sprechen, dass er für mich eine Schule im Ausland sucht“, schloss sie und merkte, dass Lina sie fragend ansah.

      „Das heißt, ich möchte mein Leben in einem fremden Land neu beginnen und probieren, wieder glücklich zu werden!“ Lina starrte sie an, verschluckte sich am Kaffee und fing so sehr zu lachen an, dass sie