Ana Marna

Fellträger


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      Nur eines beunruhigte sie. Sie sah Rocky nie fressen.

      Dabei wirkte er alles andere als kränklich oder verhungert. Er schien im Gegenteil die wandelnde Gesundheit zu sein.

      Eines Abends erfuhr sie warum – aber das beruhigte sie keineswegs.

      Sie hatte es sich angewöhnt, ihn abends nach draußen zu lassen, damit er eine Runde ums Haus rennen und dabei dringende Geschäfte erledigen konnte.

      An besagtem Abend folgte sie ihm nach einigen Minuten um noch ein paar Gerätschaften in den Gartenschuppen zu stellen.

      Als sie zufällig einen Blick über die Hecke warf, bot sich ihr ein äußerst ungewöhnliches Bild.

      Auf dem Trampelpfad, der am Waldrand entlangführte, stand ein junger Mann in gebeugter Haltung mit ausgestrecktem Arm. An diesem hing Rocky und umklammerte mit seinem kräftigen Gebiss den nackten Unterarm. Erschrocken gewahrte Sara, dass Blut von dem Arm nach unten tropfte, aber was sie ebenso mit Schaudern registrierte war, dass der Mann völlig regungslos in dieser unbequemen Haltung stand und mit glasigen Augen aber einem Lächeln auf den Hund starrte.

      Plötzlich ließ Rocky den Arm los und leckte mit seiner großen Zunge über die Bisswunde. Danach trat er ein paar Schritte zurück und hockte sich nieder. Der Mann bewegte sich erst einige Augenblicke später und trat auf Rocky zu.

      „Na, du schöner Hund“, meinte er und legte vorsichtig die Hand auf Rockys Kopf. „Braver Kerl, lässt dich wohl gerne kraulen, was?“

      Der Hund ließ ihn kurz gewähren. Aber dann stand er auf und drehte ihm den Rücken zu. Dabei gewahrte er Sara, die ihn immer noch anstarrte, und stutzte. Auch der Mann sah sie jetzt und lächelte ihr zu.

      „Ein schöner Hund, gehört der Ihnen?“

      Sara räusperte sich.

      „Äh … halbwegs, ja. Er ist so eine Art Gast. – Ähm, geht es ihnen gut?“

      „Oh ja, mir ging es nie besser, warum?“

      „Na ja, sie sehen ein bisschen blass aus. Ich hoffe, er hat sie nicht gebissen.“

      Der Mann lachte.

      „Nein nein, hat er nicht. Wissen sie, ich kenne mich mit Hunden aus. So schnell beißt mich keiner.“

      „Na dann …“, murmelte Sara und rief nach Rocky, der sofort mühelos über die Hecke sprang.

      Der Mann grüßte freundlich und ging weiter.

      Sara betrat mit dem Hund auf den Fersen das Haus und ließ sich in einen Sessel fallen. Dann starrte sie wieder auf ihren unheimlichen Hausgast.

      Der erwiderte völlig gelassen ihren Blick.

      Sie holte tief Luft.

      „Also gut, jetzt weiß ich also, dass du doch nicht nur von Luft lebst und tatsächlich kein normales Hündchen bist. Wobei das Letztere wohl schon länger klar war. Ich will nicht behaupten, dass ich alles durchblicke, aber eines kannst du mir glauben: Wenn du so was jemals mit mir machst und ich krieg das raus, dann fliegst du, klar?“

      Rocky entblößte eine Reihe spitzer Zähne und grinste sie an.

      „Mist“, murmelte Sara. „Warum passiert mir so was ständig? Ist das ein Fluch?“

      Ehe sie es sich versah, war Rocky mit einem Satz vor ihr und fuhr mit seiner Zunge durch ihr Gesicht.

      Sara zuckte mit einem überraschten Schrei zurück,

      „Nicht! Hör auf!“

      Zu ihrer Erleichterung ließ er von ihr ab und trollte sich auf seinen Lieblingsteppich.

      In dieser Nacht lag Sara lange wach und versuchte, ihre Gedanken zu sortieren.

      Offensichtlich gab es nicht nur Werwölfe und Vampire, sondern ebenso Vampirhunde oder wie auch immer man solche Geschöpfe auch nannte. Gab es da so was wie Verwandtschaft? Ob die sich verstanden? Miteinander redeten? Ob sie Robert doch fragen sollte? Er war schon länger nicht mehr aufgetaucht, was sie eigentlich freute, aber diese Geschichte mit einem bluttrinkenden Hund war ihr doch ein wenig unheimlich. Ob der Hund sie gebissen hatte, darüber wollte sie nicht unbedingt nachdenken. Im Prinzip konnte es ihr egal sein, geschadet hatte er ihr ja nicht, aber das Gefühl als Futternapf auch noch für einen Hund zu dienen, war nicht wirklich prickelnd. Sie hoffte nur, dass Rocky sich zumindest in Zukunft zurückhielt.

      Nur wenige Tage später kam Robert zu Besuch. Er warf einen kurzen Blick auf den Hund und meinte: „Raus!“

      Rocky gehorchte so prompt, dass sich jede Frage, ob die beiden sich kannten, erübrigte. Und da Robert das Thema nicht ansprach, beschloss Sara, es ebenfalls zu lassen. So wie sie den Vampir inzwischen kannte, würde er ihr sowieso keine gescheite Antwort geben, und Rocky fügte sich inzwischen problemlos in ihr Leben ein. Sogar die Wölfe hatten sich schon an ihn gewöhnt. Max fand es obendrein cool, dass da endlich mal ein Hund war, der nicht den Schwanz einkniff, wenn er den Raum betrat.

      Also richtete sich Sara darauf ein, für eine unbestimmt lange Zeit in der Aufmerksamkeit von einem Vampir, einem Vampirhund und zwei Werwölfen zu stehen.

      12. August 2013

       Portland, Oregon

      Die fünf Jugendlichen schlenderten langsam durch die Bahnhofshalle. Ab und zu blieben sie stehen und pöbelten Passanten an. Vor einer Sitzbank hielten sie länger und rückten einem Obdachlosen auf die Pelle, der ängstlich zwei Plastiktüten an sich drückte und mit gesenktem Blick die Rempeleien und Beleidigungen über sich ergehen ließ. Eine Tüte fiel zu Boden und platzte auf. Flaschen und ein paar Wäschestücke fielen zu Boden und wurden von den Jungen grölend durch die Gegend gekickt.

      Aurora ballte automatisch die Fäuste, bewegte sich aber langsam in einem Bogen um die Gruppe. Sie kannte die Kerle. Sie zogen öfters durch den Bahnhof und belästigten die Leute. Bisher hatte sie ihnen immer ausweichen können, doch dieses Mal schlug das Pech zu.

      Die Flasche schoß knapp an ihr vorbei und zersplitterte klirrend an der Wand. Aurora sprang reflexartig zurück. Wieder brandete Gelächter auf.

      „Hey Süße, das hätte ja beinahe dein hübsches Gesicht erwischt.“

      Ihr blieb nichts anderes übrig, als die Jugendlichen ins Auge zu fassen. Aufmerksamkeit verlangte Aufmerksamkeit. Es war besser zu sehen, was geschah. Die Fünf ließen von dem Obdachlosen ab, der sofort nach seinen Habseligkeiten griff und davon stolperte.

      Aurora sah sie auf sich zukommen und überlegte kurz, ob sie wegrennen sollte. Doch vor ihr bogen in diesem Moment zwei Frauen mit Kinderwagen auf den Gang ein. Sie blieben sofort stehen, als sie die jungen Männer sahen, und blockierten somit den Weg. Hinter ihr lag die Treppe zu den Bahnsteigen. Dort würde sie nicht so einfach entwischen können, die Bahngleise waren zu gefährlich. Mehr Zeit blieb ihr nicht. Die Fünf hatten sie erreicht und scharrten sich um sie.

      „Hey, dich hab ich schon öfters hier gesehen“, grinste der Größte von ihnen. „Bist ne Herumtreiberin, was?“

      Aurora antwortete nicht und versuchte einzuschätzen, wer von den Jungs der Schwächste war. Sie waren alle deutlich größer und älter als sie selbst, zwischen sechzehn bis achtzehn Jahre alt, schätzte sie, und ihre Klamotten wirkten im Gegensatz zu ihren eigenen nicht abgerissen. Es war teure Markenkleidung. Kategorie Mittelstandssöhnchen, die sich langweilten und deshalb nach Ärger suchten, um sich einen Kick zu verschaffen, schätzte sie.

      Sekunden später war sie eingekreist und die Jungen rückten ihr unangenehm nah.

      Hände fingen an, sie zu betatschen.

      „Lasst mich in Ruhe“, fauchte sie und erntete erneutes Gelächter. Eine Hand grapschte nach ihrer Brust.

      Aurora wirbelte herum und ihr Knie schoss hoch. Mit einem Ächzen sackte der Junge in sich zusammen. Sie waren überrascht