Gerhard Schumacher

Marrascas Erbe


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Zufalls nun doch zuviel. Aber eine Bekanntschaft zwischen ihnen konnte auch nach den Aufnahmen entstanden sein. Aber diese Dinge mußten herauszubekommen sein, ein Telefonat mit meiner Mutter, einige Briefe müßten Klarheit schaffen.

      Auch Don Remigio lächelte mir zu, offensichtlich sehr zufrieden mit seinem detektivischen Gespür.

      „Das bringt meine professió so mit sich“, meinte er, machte dann aber ein nachdenkliches Gesicht und fuhr fort, „es gibt nur ein klitzekleines Problem dabei, das Forn des Teatre wurde erst 1927 eröffnet, vor fünf Jahren. Da war der Rabe schon lange tot.“

      „Und mein Großvater auch, er ist kurz nach der Jahrhundertwende gestorben. Ich sagte Ihnen ja bereits, daß ich ihn selbst gar nicht mehr kennengelernt habe.“

      „Es gibt, wie immer, zwei Möglichkeiten. Entweder ich irre bei der Beschriftung der Kaffeekännchen oder die ganze Angelegenheit nimmt einen äußerst komplizierten Verlauf“, sagte Don Remigio und hatte damit, wie so oft, wieder einmal recht.

      Wir verabredeten uns für den kommenden Nachmittag auf meiner Dachterrasse, wollten beide nochmals gründlich über alles nachdenken. Vielleicht gelang es mir bis dahin, ein Telefongespräch mit meiner Mutter zustande zu bringen, das ein wenig Klarheit bringen würde.

      Nach Don Remigios Buchstabenkombination hielt ich das Rätsel schon gelöst, war erleichtert, ich selbst zu sein und nicht schon eine dubiose Existenz vor mehr als dreißig Jahren hinter mir zu haben, von der ich zu allem Unglück auch nichts mehr wußte. Ich hatte nicht das geringste Verlangen, ein neuer Dorian Gray zu werden. So kann man sich irren.

      Álvaro saß verträumt vor der Tür zur Küche der Bar El Ultim und wartete geduldig auf den Feierabend seiner Angebeteten. Er war, wenn wohl auch noch nicht erhört, doch wenigstens bester Hoffnung, auf dem richtigen Weg zu sein.

      Es war mir an diesem Abend leider nicht vergönnt, Gleiches sagen zu können. Aber immerhin hatte ich ein vorzügliches Essen genossen. Nicht wenig in diesen unklaren Zeiten und überhaupt, man soll ja bekanntlich seine Befindlichkeiten und Wünsche zügeln.

      Leicht schwankend begab ich mich zu meiner Heimstatt.

      vier / quatre

      Das Erste, was mir nach dem Erwachen in den Kopf kam, waren die Schwierigkeiten, eine telefonische Verbindung zu meiner Mutter in Deutschland herzustellen. Das gestaltete sich nicht einfach, ich hatte es mehrfach ausprobiert. Sie selbst hatte keinen Telefonanschluß, ich mußte also zunächst den Kolonialwarenladen gegenüber ihrer Wohnung anrufen, darum bitten, daß man meiner Mutter Bescheid gab, ich würde in einer halben Stunde nochmals anrufen. Das klappte natürlich nur, wenn sie auch gerade zu Hause war. Ich selbst hatte hier in Artà auch kein Telefon, so daß ich im oficina de correus ein Ferngespräch anmelden mußte, das erfahrungsgemäß von einer lausigen Qualität war. Man brauchte nicht wenig Glück, den gewünschten Teilnehmer nicht nur zu erreichen, sondern ihn dann auch noch zu verstehen.

      Natürlich war die Fügung des Schicksals auch diesmal keine günstige. Meine Mutter war nicht zu Hause und der Mann im Kolonialwarenladen erwies sich keineswegs als sonderlich hilfsbereit. Ich hinterließ die Telefonnummer der Bar El Ultim und versuchte ihm die Dringlichkeit eines Rückrufs klarzumachen, war mir aber nicht sicher, ob er die Notwendigkeit genauso einschätzte, wie ich es tat.

      Deshalb schickte ich noch ein Telegramm an meine Mutter, in dem ich in aller gebotenen Kürze den Sachverhalt und meine Fragen darzulegen versuchte. Aber auch der Weg eines Telegramms war ein langwieriger und konnte ewig dauern. Dafür hatte es einen Preis, dem man durchaus das Prädikat unverschämt anhängen konnte.

      Schließlich gab ich Pablo, dem Wirt der Bar El Ultim Bescheid und bat ihn, umgehend Álvaro, der die Bar ja nur in äußersten Notfällen verlies, zu mir zu schicken, wenn ein Anruf aus Deutschland an seinem Apparat auflaufen sollte.

      Ich schrieb ihm die deutschen Worte >Bitte warten< und >kommt gleich< auf einen Zettel, die er sagen sollte, wenn am anderen Ende der Leitung eine Frauenstimme für ihn Unverständliches auf deutsch in die Sprechmuschel schrie. Aber schon nach einer kurzen Probe brach ich den Versuch wieder ab, da ich befürchtete, noch mehr Verwirrung anzurichten, als ohnehin schon im weiten Raum zwischen Mallorca und Deutschland stand. Pablo war ein guter Wirt, aber seine Begabung für andere Sprachen als català hielt sich in sehr eng gefaßten Grenzen. Obwohl er selbst ganz anderer Meinung war und mir versicherte, meine Mutter respektvoll, wie es ihr zukam, zu behandeln. Davon war ich reinen Herzens überzeugt, allerdings bezweifelte ich, daß meine Mutter die Ehrerbietung Pablos auch nur in Ansätzen heraushörte, geschweige denn, überhaupt etwas mitbekam von dem, was da verbal temperamentvoll aus ihm herausquoll.

      Sodann begab ich mich nach Hause in die scheinbare Sicherheit meines Ohrensessels und hoffte, daß der unwillige Mensch vom Kolonialwarenladen in absehbarer Zeit meine Mutter erreichte, diese sich bei Pablo auch richtig verbunden wähnte und nicht gleich wieder auflegte, weil sie nichts von seinem Redeschwall verstand. Doch auch im Sessel fand ich keine Ruhe, die Unrast trieb mich um und wurde durch die Erkenntnis, nichts tun zu können, außer zu warten, noch verstärkt.

      Nach wenigen Minuten begab ich mich ein Stockwerk höher in die Bibliothek und holte die Kladde mit den Haushaltsausgaben aus der oberen Schublade des Unterschränkchens. Der Rabe mußte ein sehr penibler Mensch gewesen sein, denn seine Aufzeichnungen der Ausgaben waren gründlich und akkurat, fast schon pedantisch zu nennen. Jeder einzelne, noch so kleine Posten, war ordentlich aufgeführt und erfaßt, ging in den Tagessaldo ein und der wiederum in die wöchentliche und monatlich Kumulation, man konnte jedes Samenkorn, das einmal gekauft worden war, fast bis auf seinen Ursprung zurückverfolgen. Nach dem Tod des gewissenhaften Buchhalters hatte seine esposa die Kladde nach seinem Vorbild weitergeführt.

      Doch es waren ausschließlich die Ausgaben festgehalten, mit keinem noch so kleinen Tintenklecks war ein Bezug zu den Einnahmen hergestellt. Doch um etwas ausgeben zu können, waren Einnahmen zwingend notwendig. Es fiel mir in diesem Zusammenhang auf, daß ich nichts davon wußte, welchen Beruf Don Xavier ausgeübt, womit er seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Ich nahm mir vor, Don Remigio heute Nachmittag danach zu fragen.

      Seite um Seite durchblätterte ich das großformatige Buch, überflog Tage, Wochen, Monate und Jahre bis zum Ende der Aufzeichnungen am 31. Dezember 1931. Obwohl mir keinerlei Besonderheiten auffielen, hatte ich das Gefühl, irgend etwas übersehen zu haben. Doch als ich die Seiten erneut, rückwärts diesmal, wälzte, verstärkte sich zwar die Gewißheit, etwas Wichtiges sei meiner Beachtung entgangen, dem konkreten Ergebnis, um was es sich handelte aber kam ich dadurch auch nicht näher.

      Nach einiger Überlegung kam ich auf die Idee, die Kladde sorgfältig Position für Position durchzuarbeiten, in der Hoffnung, dadurch eine Struktur der Ausgaben und eventuelle Auffälligkeiten erkennen zu können. Wenn ich zum Beispiel die Ausgaben einzelnen Sparten zuordnete, ließ sich schon recht einfach Gewöhnliches von Ungewöhnlichem trennen.

      Es war mir durchaus bewußt, welchen Arbeitsaufwand ich betreiben mußte, ohne die Garantie für ein verwertbares Ergebnis zu haben. Dem gegenüber standen die wenigen Möglichkeiten, die ich überhaupt hatte, den Dingen auf die Spur zu kommen. Die Kladde war eine davon, wenn auch eine vage, die lediglich auf einem Gefühl in meinem Inneren beruhte, aber immerhin, es war eine. Außerdem hatte ich jede Menge Zeit, konnte meine botanischen Ausflüge einstellen oder zumindest reduzieren, hatte eine komfortable Dachterrasse, auf der ich in angenehmer Umgebung arbeiten konnte und, ganz wichtig, ich war in der privilegierten Situation, von finanziellen Zwängen völlig unabhängig zu sein. Alles in allem, schien es mir, waren die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Entschlüsselung der mallorquinischen Geheimnisse, von denen ich mich umgeben sah, sehr günstig, ich mußte sie nur richtig einsetzen. Und Arbeit hatte mich noch zu keiner Zeit geschreckt.

      Voller Eifer verließ ich das Haus und bat in der Bar El Ultim den dort ständig sitzenden Álvaro, mir in der botiga der Senyora Luengo, die an der Placa d’ Espanya Zeitungen und Schreibwaren zum Kauf anbot, ausreichend Papier und Stifte zu besorgen, damit ich meinen Vorsatz noch heute in die