Gerhard Schumacher

Marrascas Erbe


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nach Valldemossa fahren. Da ich ihn immer wieder anzuhalten hieß, damit ich mir in Ruhe die wilde klippenreiche Landschaft ansehen konnte, gelangten wir erst abends am Zielort an, und waren gezwungen, in der Herberge Can Mario Zimmer zu nehmen, um dort die Nacht zu verbringen. Das paßte Álvaro nun rein gar nicht, konnte er doch den Abend nicht in der Nähe seiner großen Liebe Bienvenida verbringen. Nach einer Weile aber sah er ein, daß eine Rückfahrt in der Dunkelheit zu gefährlich war und fügte sich seinem Schicksal.

      Wir verlebten einen angenehmen Abend mit gutem Essen und viel Wein, während wir uns angeregt unterhielten.

      Ich schlief tief und fest in der frischen Luft, die das Meer herüberschickte und erwachte am anderen Morgen ausgeruht und guter Dinge.

      Anderntags besuchten wir noch die Einsiedelei mit der Kartause, in der Frédéric Chopin und George Sand einige Zeit verbracht hatten, schlenderten ein wenig durch die Gassen des malerischen Örtchens Valdemossa und begaben uns mittags auf die Heimfahrt. Ohne Zwischenfälle erreichten wir am frühen Abend Artà und Álvaro eilte zielstrebig in die Bar El Ultim, um seiner Angebeteten Bericht zu erstatten und seine Abwesenheit am Abend zuvor zu erklären.

      Ich selbst aber begab mich in den kühlen Schatten meiner Dachterrasse und ließ den Besuch auf dem Coll de Sóller und in der Einsiedelei von Valldemossa im Geiste nochmals Revue passieren.

      Natürlich hatte sich mein Erbe schnell im Städtchen herumgesprochen, ebenso wie die vierteljährlichen Zuwendungen, über deren Höhe zwar niemand genau Bescheid wußte, über die aber, dessen ungeachtet, abenteuerliche Gerüchte in Umlauf waren. Die Leute tuschelten und überboten sich gegenseitig in Vermutungen und Unterstellungen, wie das in jeder Kleinstadt dieser Größenordnung der Fall gewesen wäre. Man lebte eben nicht anonym und unerkannt als einer unter vielen gleich Unbekannten. Man lebte hier mittendrin in der Gemeinschaft und bekam das auch tagtäglich zu spüren. Aber mich scherte der Klatsch der Leute auf dem Markt wenig, zumal er sofort verstummte, sobald ich in Hörweite vorbeiging.

      Die Leute wußten außerdem um meine Freundschaft zu den beiden pares und den anderen Honoratioren des Ortes und waren daher vorsichtig genug, es sich mit diesen durch allzu gewagte Äußerungen nicht zu verscherzen, zumal an meinem Lebenswandel nun wahrlich nichts auszusetzen war.

      Nach und nach verstummten dann auch die Gerüchte und die Alltagsgespräche der Menschen nahmen ihren Verlauf, auch wenn ich hinzukam, denn sie hatten die ewig gleichen Themen zum Inhalt, das Wetter, die Orangenpreise und die verfehlte Politik der Zentralregierung.

      Mein Erbe, die Umstände, wie ich es erlangt hatte und die Höhe der Zuwendungen gehörten nicht mehr dazu.

      „Bon dia, com va?“ Bald schon war ich als einer der ihren akzeptiert, von den Alten auf der Placa d’ Espanya respektvoll mit Don Diego angesprochen, wenngleich sie mich hinter meinem Rücken unter sich nur el alemany nannten. Aber, erklärte mir Don Remigio, daran sollte ich mich nicht stören, sondern diesen Beinamen vielmehr als Ausdruck höchster Wertschätzung verstehen. Ich verstand in diesem Sinne.

      Zuerst nur vereinzelt, dann vermehrt erhielt ich an den Wochenenden Einladungen zu der einen oder anderen festa auf einer finca in der nahen Umgebung oder einem menjar a l’aire lliure, einer Art Picknick auf einer Wiese vor der Stadt oder an der Küste. Dabei hatte ich stets den Eindruck, man behandelte mich wie einen Ehrengast, was mir zunehmend peinlich war. Nicht nur, daß mir immer irgendeine Tochter des Gastgebers herausgeputzt an die Seite gesetzt wurde, war ich durch deren Mutter und oft auch noch der Großmutter argen verbalen Prüfungen und Befragungen ausgesetzt, bis mich der patro dann unter seine Fittiche nahm und das gleiche Spiel, diesmal aus männlicher Perspektive, von vorne begann.

      Dazwischen wurde ausgiebig getrunken und gegessen, jedoch hatte ich immer häufiger das Gefühl, die anderen Gäste wären nur als schmückende Ergänzung eingeladen. Es bedurfte nicht nur einer geraumen Zeitspanne, sondern auch des dezenten Hinweises Don Remigios, bis ich endlich mitbekam, daß mich die angesehenen Familien der Stadt als eine gute Partie für ihre Töchter auserkoren hatten und diese ganzen Festivitäten nur als Vorwand dienten, festzustellen, ob ich ihren Ansprüchen genügen würde oder nicht.

      Als ich das endlich begriffen hatte, nahm ich die Angelegenheit mit Humor und fügte mich meinem Schicksal. Den Einladungen selbst war kaum zu entgehen. Wenn ich eine annahm, mußte ich auch die anderen annehmen. Eine Ablehnung der Einladungen ohne triftigen Grund aber wäre einer nicht wieder gutzumachenden Beleidigung des Gastgebers gleichgekommen und hätte mich außerhalb der Gemeinschaft des Ortes gestellt.

      Also machte ich eine gute Miene zum nicht böse gemeinten Spiel, zumal die Kandidatinnen in ihrer Mehrzahl durchaus wohltuend anzusehen und die festas fraglos kurzweilig waren. Allerdings fand ich die Richtige, jedenfalls aus meiner Sicht, lange Zeit nicht unter den Aspirantinnen.

      Es war eine angenehme Zeit, die ich verbrachte, mit mehr als ausreichenden finanziellen Mitteln ausgestattet, ohne große Verpflichtungen, genau genommen, in den Tag hinein zu leben. Immer seltener dachte ich an das Schreiben Don Xaviers das eigentlich nicht möglich sein konnte, und die näheren Umstände, die mich zum Erben gemacht hatten. Immerhin besuchte ich regelmäßig die Grabstätte der Familie Marrasca, auf der auch Don Xavier einen Gedenkstein hatte, obwohl seine sterblichen Überreste nicht dort lagen. Er war aus schwarzem Marmor, auf dem im unteren Drittel schlicht „el corb“ und darüber ein stilisierter Rabe eingemeißelt waren. Außerdem hatte ich zwei darauf spezialisierte Senyoras mit der Pflege des Grabes beauftragt.

      Doch die Ruhe und Beschaulichkeit, in der ich mich wähnte, waren trügerisch, wie sich schon bald herausstellen sollte.

      drei / tres

      Wie es mir inzwischen zur angenehmen Gewohnheit geworden war, ging ich eines Tages nach dem Mittagsschlummer in die Bibliothek hinauf, um mir ein Buch auszusuchen, das ich bei einem Glas Wein auf meiner Dachterrasse durchblättern wollte. Als ich die Regale entlangging und die Buchrücken las, bemerkte ich einen kleinen Unterschrank mit zwei Schubladen, der mir bislang noch nicht aufgefallen war. Ich zögerte, die Schubladen zu öffnen und deren Inhalt zu durchsuchen, es kam mir vor wie eine Verletzung der Intimsphäre der verstorbenen Eigentümer, auch wenn sie mir alles ohne Einschränkungen vermacht hatten und ich nun der rechtmäßige Besitzer war. Auch im übrigen Haus hatte ich aus Respekt meinen Gönnern gegenüber so weit es ging alles beim Alten gelassen, nur wenig verändert und den Inhalt der Schränke, viele waren es ohnehin nicht, weitestgehend unberührt gelassen. Schon wollte ich auch den Unterschrank ignorieren, als ein sechster sich den vorhanden fünf Sinnen anschloß und mich dazu bewog, die beiden Schubladen doch zu öffnen.

      In der Unteren befanden sich einige Briefe, die ich ungelesen wieder zurücklegte. Außerdem eine sehr dicke Kladde im Folioformat, die sich als Haushaltsbuch herausstellte. Fein säuberlich waren Tag für Tag die Ausgaben aufgeführt, saldiert und kumuliert, so daß sich eine genaue Aufstellung der Haushalts- und Lebenskosten ergab. Und zwar über Jahrzehnte hinweg.

      Beim flüchtigen Durchblättern erkannte ich zwei unterschiedliche Handschriften, offensichtlich hatte Don Xavier die Auflistung begonnen, die nach seinem Tod dann von Dona Maria fortgeführt worden waren. Sie endeten mit dem 31. Dezember des vergangenen Jahres. Der Januar des neuen Jahres, der Monat, in dem Dona Maria starb, war nicht mehr begonnen worden. Auch fehlte nach meiner ersten Durchsicht jeglicher Hinweis auf irgendwelche Einnahmen, von denen die Ausgaben bestritten worden waren. Letztere aber waren akribisch auch für den kleinsten gekauften Artikel (beispielsweise Wäscheklammern, das Päckchen zu 5 peseta) bis auf die letzte Kommastelle aufgeführt. Ich legte die Kladde wieder zurück und wollte sie später einmal genauer unter die Lupe nehmen.

      Die obere Schublade wurde von einer Holzkiste vollkommen ausgefüllt. Als ich sie herauszog und öffnete, stellte ich fest, daß sie bis an den Rand mit Fotos unterschiedlicher Größen bestückt war. Meinem ersten Impuls folgend, wollte ich auch diese Fotos ungesehen wieder der Verschwiegenheit des Schranks anvertrauen, doch dann obsiegte die Neugierde und ich nahm sie statt eines Buches mit auf die Dachterrasse. Ich kann heute gar nicht mehr genau nachvollziehen, was mich dazu bewog, meiner