Gerhard Schumacher

Marrascas Erbe


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mir im Moment sowieso gleichgültig, meine Gedanken waren verständlicherweise mit anderen Dingen beschäftigt.

      Von der Placa d’ Espanya bog ich nach links in die Carrer Rafael Blanes in deren Verlängerung ich die Marxando durchschritt, um dann nach rechts in die Carrer Major einzuschwenken und nach wenigen Metern mein neues Heim zu erreichen.

      Natürlich war es reine Einbildung, aber als ich das Haus betrat, hatte ich das Gefühl es roch ungewohnt und strahlte überhaupt eine andere Atmosphäre aus als noch am heutigen Morgen.

      Ich ging sofort auf mein Zimmer, schloß die Fensterläden, zog die Vorhänge bis auf einen kleinen Spalt zu, so daß nur noch dämmriges Zwielicht den Raum in Verschwommenheit tauchte und entzündete auf dem kleinen Tischchen neben meinem Sessel eine Kerze. Warum auch immer hielt ich Kerzenlicht für die angemessene Beleuchtung des Bevorstehenden, obwohl es mittlerweile Mittag war und die Sonne kraftvoll das Städtchen bestrahlte. Um diese Zeit war es still auf den Straßen, wer sich nicht aus irgendwelchen Gründen im Freien aufhalten mußte, blieb in seinem Haus, in dem es angenehm kühl war.

      Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, holte ich den Umschlag hervor, den mir Don Remigio übergeben hatte. Er enthielt mehrere Bögen Papier, einige davon neueren Datums mit dem Kopf eines Notariats in Palma, das die korrekte Übersetzung des Schreibens in die deutsche Sprache bestätigte. Dann folgte ein längerer Text, mit einer Schreibmaschine geschrieben, deren einzelne Typen keine gleichmäßige Ausrichtung mehr hatten und munter auf den Zeilen tanzten. Unter der letzten Zeile befand sich eine schwungvoll ausladende Unterschrift mit vielen Kreisen und Kringeln versehen und unter dieser ein Stempel des Übersetzungsbüros in Palma, der Auskunft darüber gab, wer das Dokument transkribiert hatte.

      Es folgten einige Blätter eines deutlich erkennbaren älteren Papiers, die am linken Rand mittels einer dünnen Kordel zusammengefaßt waren. Die Ränder der Seiten wiesen Spuren der Vergilbung auf und waren leicht gewellt. Der Text selbst war in einer gleichmäßig kräftigen Handschrift mit stahlblauer, fast schwarzer Tinte in katalanischer Sprache geschrieben.

      Ich wollte versuchen, ihn im Original zu lesen und nur für den Fall auf die beglaubigte Übersetzung zurückgreifen, wenn meine eigenen Sprachkenntnisse sich als nicht ausreichend erweisen sollten.

      Die Atmosphäre war ein wenig unheimlich. Im Haus herrschte absolute Stille und die flackernde Kerze warf Schatten und Schemen auf Möbel und Wände. Als ich das alte Papier zur Hand nahm, meinte ich, das Haus seufzen zu hören, aber auch das war natürlich meiner Einbildung geschuldet.

      Dann ließ es sich nicht weiter hinauszögern und ich las den Brief eines vor mehr als dreißig Jahren verstorbenen Mallorquiners an mich, obwohl der Briefeschreiber nach allen Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die die Natur uns vorgibt, mich überhaupt nicht kennen konnte.

       Hochverehrter und geschätzter Don Diego,

       wahrscheinlich werden Sie in nicht geringes Erstaunen fallen, wenn Sie diese Zeilen lesen. Ich kann Ihnen jedoch bei meiner Ehre versichern, daß nichts Übersinnliches oder gar Okkultes daran Schuld trägt, sondern andere, höchst profane Umstände. Die Dinge verlaufen oft nicht geradlinig, sie drehen Kreise und schießen Purzelbäume, wie man es sich vorzustellen nicht immer in der Lage ist. Dennoch findet sich in den meisten Fällen eine natürliche Erklärung für vermeintlich übernatürliche Erscheinungen. In den meisten Fällen, wohl gemerkt, wenn auch nicht in allen.

       Unsere Sinne und die Erklärungswut der Wissenschaft stoßen hin und wieder noch an Grenzen, die sie nicht überwinden können. Dafür sei dem Schöpfer aller Dinge, wie immer Sie diese Kraft auch benennen wollen, gedankt, halten sie die Menschheit doch davon ab, dem Größenwahn der Allmächtigkeit zu verfallen. Auch der Wurm vergißt nur allzu schnell, daß er ein Wurm ist, sobald er von einem Baum auf die Erde schaut.

       Sowohl meine esposa, Dona Maria, als auch ich selbst dürfen uns bei Ihnen bedanken, denn Sie haben unser Angebot, das Haus meiner Väter nach unserem Ableben weiterzuführen, großzügig angenommen. Die wenigen Auflagen, die damit verbunden sind, werden Sie ohne Einschränkung Ihrer persönlichen Lebensumstände erfüllen können. Näheres teilt Ihnen der notari mit, bei dem Dona Maria alle notwendigen Dokumente hinterlegt hat.

       Eine der Bedingungen besagt allerdings, daß das Haus mindestens sechs Monate im Jahr, und zwar während der Winterzeit, von Ihnen selbst bewohnt sein muß. Es wäre in meinem Sinne und dem meiner esposa, Sie entschlössen sich, Ihren Lebensmittelpunkt fest und für immer nach Artà zu verlegen, also das zu werden, was Ihnen durch Ihre Geburt bislang verwehrt blieb: Mallorquiner.

       Damit Sie mich an dieser Stelle nicht falsch verstehen, darf ich Ihnen versichern, daß ich weder abträglich über Ihr Geburtsland denke, noch der Meinung bin, wir Mallorquiner wären über andere Völker oder Volksgruppen erhaben. Allerdings erfordern die künftigen Aufgaben, die Sie erwarten, nicht nur eine gewisse Kenntnis der mallorquinischen Tradition, sondern auch das Verstehen der Mentalität, aus der heraus sie entstanden ist. Und beides ist von außen nur schwer oder gar nicht möglich. Hinzu kommen Umstände, die Sie zum jetzigen Zeitpunkt nicht kennen können. Vertrauen Sie mir, einem Menschen, dessen Bekanntschaft Sie nie machen konnten, der aber dennoch immer für Sie da war und bis an Ihr Lebensende für Sie da sein wird. Uns beide, Sie und mich, verbindet mehr, als Sie sich im Moment noch vorstellen können. Die Zeit wird Ihnen Erkenntnis bringen.

       Um Ihnen die Entscheidung leichter zu machen, habe ich bei der Caixa de Balears, eine ausreichend bemessene Summe hinterlegt, die in vierteljährlichen Tranchen an Sie zu Auszahlung kommt. Mit den in den vergangenen Jahrzehnten angefallenen Zinsen dürfte sich in der Zwischenzeit eine nicht unbedeutende Summe angehäuft haben, die es Ihnen ermöglicht, bis an Ihr Lebensende auch mit überdurchschnittlichen Ansprüchen frei jeglicher finanzieller Sorgen auszukommen.

       Was die von mir im vorherigen Absatz angesprochenen Aufgaben betrifft, brauchen Sie keine Sorgen zu haben. Auch wenn ich diese hier nicht benennen werde (aus gutem Grund, denn sie sind nicht für die Augen Dritter bestimmt), werden Sie nach und nach selbst darauf kommen und eine Notwendigkeit, vielmehr noch, ein Bedürfnis verspüren, ihnen Abhilfe zu tun, denn alles baut aufeinander auf.

       Die Dachsparren können erst gesetzt werden, wenn die Mauern hochgezogen sind und diese sind erst möglich, sowie der Keller gemauert, das Fundament gelegt ist.

       Diese Herausforderungen sind nicht ohne Schwierigkeiten, Sie werden es schnell herausfinden. Sollten Sie Beistand zur Überwindung etwaiger Widerstände benötigen, anempfehle ich Ihnen Don Remigio, gemeinsam mit ihm werden Sie einen, nein, nicht einen, Sie werden ganz sicher den richtigen Weg finden.

       Leben Sie einfach in und mit unserem nunmehr gemeinsamen (Sie gestatten mir diese Formulierung) Haus, betrachten Sie es als Grundlage und Ausgangspunkt, als Schutz und Refugium, nicht als Notwendigkeit, dann werden Sie nach und nach seine Geheimnisse entdecken und mehr über das erfahren, was ich aus Gründen, die Sie bald verstehen werden, hier nur andeuten kann.

       Damit ist alles gesagt, was ich zu diesem Zeitpunkt und von dieser Stelle aus zu sagen in der Lage bin. Vieles werden Sie unverständlich, vielleicht sogar absurd finden. Geben Sie sich Zeit, denn mit ihr, der Zeit, werden Sie lernen, zu verstehen.

       Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet, da Sie mein Werk und das meiner Väter weiterführen werden. Seien Sie versichert, daß Sie zu keiner Zeit ohne Schutz und Hilfe dastehen. Etwas wird immer in Ihrer Nähe sein.

       Es grüßt Sie aus anderen Gegebenheiten und Zusammenhängen

       Ihr ergebener Xavier Marrasca,

       den man El Corb, den Raben, nennt.

       Zu Papier gebracht in Artà auf der Insel Mallorca

       im Jahre des Herrn 1899 zur Mitte des Monats April,

       670 Jahre nachdem König Jaume die Insel