Gerhard Schumacher

Marrascas Erbe


Скачать книгу

hier ist eine dieser Merkwürdigkeiten. Der Umschlag ist für Sie. Er enthält ein Schreiben von Don Xavier an Sie und die deutsche Übersetzung, ich habe sie in Palma ausfertigen und von einem notari beglaubigen lassen.“

      Ich fuhr aus dem Sessel hoch und hätte dadurch beinahe das Weinglas umgestoßen.

      „Ein Schreiben von Senyor Marrasca an mich? Unmöglich, als ich Artà zum ersten Mal betrat, war er schon weit mehr als zwanzig Jahre tot, er kann mich weder gekannt, noch überhaupt von meiner Existenz gewußt haben.“

      Der pare schaute nun etwas verlegen auf seinen Schreibtisch. Er war von einem auf den anderen Augenblick stocknüchtern.

      „Ich sagte ja bereits, es gibt da einige Merkwürdigkeiten, die ich nicht kommentieren kann. Das Beste wird es wohl sein, Sie nehmen es einfach so hin, wie es ist, und denken nicht weiter über unlösbare Lösungen nach.“

      „Entschuldigen Sie, Don Remigio, das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Mir schreibt ein Mann einen Brief, den ich über dreißig Jahre nach seinem Tod von Ihnen erhalte, ein Mann, der mich selbstverständlich nicht gekannt haben kann, zum Zeitpunkt seines Todes war ich noch ein kleiner Säugling im fernen Deutschland, ich wußte damals noch nicht einmal, daß es ein Land namens Spanien gibt, von Mallorca einmal ganz zu schweigen. Und ich soll das einfach so hinnehmen und nicht weiter darüber nachdenken? Das meinen Sie nicht so, wie Sie es gesagt haben. Wie ist er überhaupt gestorben, der gute Senyor Marrasca?“

      Don Remigio räusperte sich und schob die Papiere auf dem Schreibtisch von der einen zur anderen Seite. Er schaute mir nicht in die Augen.

      „Er ist ertrunken. Eines Nachmittags ist er bei Canyamel mit dem Boot aufs Meer hinaus gefahren, plötzlich kam Sturm auf, am nächsten Morgen haben Fischer die Reste seines Bootes zerschlagen vom Strand aufgesammelt. Seine Leiche hat man nie gefunden, das Meer hat Xavier Marrasca behalten. Ein Rabe kann eben nicht schwimmen.“

      „Wenn ich Sie recht verstehe, Don Remigio, hat niemand den Leichnam von Senyor Marrasca gesehen, man vermutet lediglich aufgrund der Umstände, daß er tot ist. Genau wissen tut das aber keiner. Liege ich richtig?“

      „So gesehen haben Sie natürlich recht, aber man kann zu 99% davon ausgehen, daß Don Xavier im Meer ertrunken ist. Er fuhr öfter mit seinem Boot hinaus, um zu fischen, das war nichts Besonderes. Nur der Sturm, der an diesem Nachmittag so plötzlich aufkam, war völlig ungewöhnlich, er hat sich durch nichts angekündigt, es konnte keiner ahnen. So ist es, unser mediterrani, es macht, was es will und vor allen Dingen, wann es will.

      Außerdem, was sollte es für einen Sinn machen, den eigenen Tod vorzutäuschen? El corb war beliebt im Ort, er hatte keine Feinde, im Gegenteil, er war eine Autorität, dessen Rat man suchte und beachtete. Es hat ihn danach auch niemand mehr gesehen auf der Insel. Nein, nein, glauben Sie mir Senyor, Don Xavier ist ganz sicher ertrunken an diesem schrecklichen Nachmittag.

      Allerdings, wenn ich es recht bedenke, seine Witwe, Dona Maria, verhielt sich nicht gerade so, wie sich eine Frau verhält, deren Mann im Meer geblieben ist. Nicht, daß sie nicht getrauert hätte, das war es nicht. Wie soll ich mich ausdrücken, es war eben nicht die Trauer, die man von einer plötzlich zur Witwe gewordenen Frau erwartet. Eine Frau, die zwar mittlerweile schon am Rande ihrer sogenannten besten Jahre angekommen war, aber immer noch in Saft und Kraft stand, wenn ich das einmal so sagen darf. Vielleicht ist es auch nur ein Gefühl von mir, nicht mehr. Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen anderes erzählen soll…“

      Ich ignorierte seine Hilflosigkeit und bohrte weiter.

      „Wie sind Sie zu dem Schreiben gekommen, Don Remigio? Als ich die Insel vor einigen Jahren zum ersten Mal besuchte und wir uns kennenlernten, haben Sie nichts in dieser Richtung verlauten lassen.“

      „Damals wußte ich auch noch nichts von der Existenz des Schreibens. Und Sie können mir glauben, es wäre mir heute sehr viel wohler zumute, wenn ich nie von dem Brief erfahren hätte. Aber es kam leider anders.

      Der Sachverhalt selbst stellt sich ganz einfach dar. Als Dona Maria ihr Ende kommen spürte, ließ sie mich rufen, damit ich ihr die Sterbesakramente erteile. Sie war bei völlig klarem Verstand und setzte mich davon in Kenntnis, daß bei advocat Jaramago ein beglaubigtes Testament hinterlegt ist, das Sie, Senyor, zum Erben ihres ganzen weltlichen Besitzes machte.

      Nebenbei nuschelte sie noch, ihr verstorbener Gatte Don Xavier, hätte dies so festgelegt. Ich glaubte zuerst, mich verhört zu haben und fragte nochmals nach. Dona Maria aber bestätigte das Gesagte. Zwar habe ich mich gewundert, das Ganze aber als Schrulligkeit einer sterbenden Frau abgetan und nicht weiter beachtet, bis sie mich bat, der Nachttischlade einen Umschlag zu entnehmen und an Sie weiterzuleiten. Dieser Umschlag enthalte ein Schreiben ihres Gatten für Sie. Dona Maria händigte mir des weiteren eine großzügig bemessene Summe aus, für die ich in Palma eine beglaubigte Übersetzung des Briefes in Auftrag geben sollte, der Rest des Geldes sei für den Opferstock der Kirche bestimmt. Dann verstarb sie, wie mir schien, glücklich und zufrieden, als sei sie von einer drückenden Last befreit worden.

      Ich tat, wie die Verstorbene mich geheißen, fuhr nach Palma und leitete die notwendigen Schritte in die Wege. Deshalb kenne ich auch den Inhalt des Schreibens von Don Xavier an Sie, Senyor, es ließ sich unter diesen Umständen nicht vermeiden. Aber Sie können unbesorgt sein, ich behandle das Wissen darum wie ein Beichtgeheimnis, es ist gut bei mir aufgehoben.“

      Don Remigio nahm nun einen reichlichen Schluck aus seinem Weinglas, wischte sich erneut mit dem Ärmel den Mund ab und schaute mich endlich mit Augen an, von denen ich mir nicht sicher war, ob sie Traurigkeit oder Mitgefühl ausdrückten. Dann deutete er auf den Umschlag in meinen Händen und sagte:

      „Als ich wegen der Übersetzung in Palma war, habe ich gleichzeitig das Papier und die Tinte untersuchen lassen. Ich ging davon aus, und tue dies noch immer, es wäre in Ihrem ureigensten Interesse. Beides, Papier wie Tinte, wurde ohne Zweifel vor dreißig bis vierzig Jahren hergestellt und vertrieben. Allerdings sagt diese Feststellung noch nicht allzuviel aus, denn zumindest theoretisch ist es möglich, daß sowohl vom Papier als auch von der Tinte auf irgendeinem verstaubten Dachboden Restkontingente schlummerten, die zu neuen Aktivitäten erweckt wurden.

      Wie auch immer, ich denke, ich lasse Sie jetzt eine Weile alleine und höre in einer der vierzehn Kapellen meiner Kirche, die ich zur Auswahl habe, ein wenig in mich hinein, vielleicht nutzt es der Wahrheitsfindung, man soll ja die Hoffnung nie aufgeben.

      Gießen Sie sich das Glas voll und lesen Sie in aller Ruhe das Schreiben von Don Xavier. Einmal, zweimal, so oft Sie wollen, ich werde Sie nicht stören, meu amic. Wenn Sie es wünschen, stehe ich Ihnen anschließend gerne zur Verfügung. Gemeinsam werden wir versuchen, das Problem in den Griff zu bekommen.“

      Ich bedankte mich bei Don Remigio, versicherte ihm, wenn nötig, auf sein Angebot der Hilfestellung zurückzukommen, bedeutete ihm aber gleichzeitig, das Schreiben lieber in meinem neuen Heim, dem vormaligen des Absenders, zu lesen.

      Er akzeptierte meine Entscheidung ohne die Spur eines Widerspruchs und wir verabredeten uns für den Abend zum Nachtmahl in der Bar El Ultim. Ich verabschiedete mich und war schon an der Tür, als mich der pare nochmals ansprach:

      „Verzeihen Sie mir meine Bemerkung von vorhin, Don Diego, Sie mögen nicht über unlösbare Lösungen nachdenken. Das war natürlich Quatsch, im Überschwang dahergeplappert. Bitte entschuldigen Sie meine dumme Schwatzhaftigkeit. Und noch etwas, vergessen Sie nicht, Gut und Böse, Gott oder Teufel, der eine ist nicht ohne den anderen zu haben.“

      Es war das erste Mal heute Morgen, daß mich Don Remigio mit der spanischen Version meines Namens Jakob anredete.

      Dann verabschiedete ich mich und ging in Gedanken verzögerten Schrittes nach Hause. Als ich bergab aus der Carrer Sant Salvador hinter dem ayuntament auf die Placa d’ Espanya einbog, sah ich dort immer noch das Automobil stehen, in dem ich hergekommen war. Also mußte mein nächtlicher Logiergast, der Chauffeur, auch noch in der Stadt sein und ich vermutete, nicht zu Unrecht, wie sich im Verlauf des Tages herausstellte, ihm noch eine weitere Nacht Gastfreundschaft gewähren zu dürfen (aus