Gerhard Schumacher

Marrascas Erbe


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      Nachdem ich mir ein Glas kühlen rosados eingegossen hatte, breitete ich einen Teil der Fotos auf dem Tisch aus. Es war ein eigenartiges Gefühl, in die bildhaft dokumentierte Vergangenheit toter Menschen einzudringen, zu denen ich zur Zeit der Aufnahmen noch keinerlei Bezug hatte, geschweige denn überhaupt von ihrer Existenz wissen konnte.

      Ein Großteil der Motive zeigte Dona Maria und einen Mann, von dem ich wohl zu recht annahm, es handelte sich um Xavier Marrasca. Meist waren sie zusammen vor wechselnden Hintergründen zu sehen. Don Xavier, etwas größer als seine Frau, stand stets rechts von ihr, den Arm besitzergreifend (diesen Eindruck hatte ich zumindest) um ihre Taille gelegt. Dona Maria aber zeigte immer das stolze, nur leicht angedeutete Lächeln der überlegenen Senyora, als würde sie allen Nebenbuhlerinnen mitteilen wollen, seht her, ihr habt euch alle vergebens bemüht, ich aber habe ihn bekommen.

      Verschiedene Aufnahmen waren auf einem Boot gemacht worden, denn hinter den beiden konnte man Reling und Meer erkennen. Dann wieder standen sie in Artà vor der Pfarrkirche, zusammen mit Don Remigio als blutjungem Priester, der unbeschwert fröhlich in die Kamera winkte.

      Auf einzelnen Bildern hatten sie sich wahrscheinlich gegenseitig aufgenommen. Eine ganze Serie von 10 bis 15 Fotos zeigte im Hintergrund die Kathedrale La Seu in Palma und den dortigen Hafen.

      Das älteste Foto, das ich fand, war in einem Atelier entstanden. Dona Maria saß auf einem Stuhl, die Hände züchtig im Schoß gefaltet, während Don Xavier schräg hinter ihr stand, eine Hand ruhte auf ihrer Schulter, nicht aufdringlich, sondern in beiderseitigem Einverständnis Eigentum andeutend.

      Es handelte sich offensichtlich um das Hochzeitsfoto und mußte, der Kleidung beider nach zu urteilen, um 1875 gemacht worden sein. Es war auf Hartpappe aufgezogen und mit einem ovalen Passepartout versehen. Die Rückseite hatte den braunen Aufdruck eines Fotoateliers in Manacor, eine Jahreszahl war nicht angegeben.

      Alle anderen Fotos waren aber ganz offensichtlich jüngeren Datums, das heißt, mit diesem Hochzeitsbild begann die dokumentierte Geschichte des Paares Maria und Xavier Marrasca. Ich beschloß, das Bild rahmen zu lassen und an zentraler Stelle im Haus aufzuhängen, sozusagen als Reminiszenz an meine Gönner, die ehemaligen Besitzer.

      Der Tisch war nicht groß genug, alle Bilder der Kiste auf einmal nebeneinanderzulegen. Deshalb mußte ich erst eine Schicht wieder abräumen, bevor ich eine neue auflegen konnte. Mittlerweile ließ mein Interesse allerdings merklich nach, da die Fotos mit wenigen Ausnahmen immer die gleichen Motive, nämlich Dona Maria und Don Xavier, mal einzeln, mal zusammen, vor wechselnden Hintergründen zeigten und bis auf die durch die verschiedenen Jahrzehnte wechselnde Garderobe und Haartrachten so gut wie keine Abwechslung boten.

      Alle Fotos, die zur Zeit ihrer mehr als dreißig Jahre währenden Witwenschaft aufgenommen worden waren, wiesen nicht einmal die wenigen modischen Unterschiede auf, da Dona Maria sich ab dem Heimgang ihres Mannes nur noch in das traditionelle Schwarz der vom Tod um ihren Partner betrogenen Frauen kleidete. Das ermüdete mich zunehmend, die Aufmerksamkeit ließ zu wünschen übrig und bald schon merkte ich, daß ich mich mehr mit dem vorzüglichen rosado beschäftigte, denn mit den Fotografien vor mir auf dem Tisch, die ich mechanisch Lage für Lage abräumte, um dann eine neue an die Plätze der alten aufzulegen.

      Allmählich näherte ich mich dem Rest der noch in der Kiste verbliebenen Bilder. Und auch dem in der Weinflasche. Als ich die Treppe hinabstieg, eine neue aus dem kellerartigen Verschlag zu holen bemerkte ich einen leichten Rausch in Kopf und Beinen, über den ich völlig unmotiviert plötzlich laut auflachen mußte. Daraufhin steckte Álvaro den Kopf aus seinem Zimmer und fragte, was los sei und ob er helfen könnte. Ich verneinte, immer noch lachend, setzte zu einem Erklärungsversuch an, und als dieser nicht so recht gelingen wollte, lud ich Álvaro ein, die nächste Flasche Wein zusammen mit mir auf der Dachterrasse zu leeren.

      Erfreut über die Einladung sagte der Chauffeur sofort zu, und nachdem ich eine neue Flasche rosado aus dem Verschlag geholt hatte, begaben wir uns beide gemeinsam nach oben auf das Dach.

      Während ich die Weinflasche entkorkte, erklärte ich Álvaro, wo ich die Bilder gefunden hatte und wer darauf abgebildet war. Der Chauffeur räumte die Fotos vom Tisch ab und legte den in der Kiste verbliebenen Rest nebeneinander auf. Aufmerksam betrachtete er die Bilder und murmelte Unverständliches in mallorquin vor sich hin. Als wäre er kurzsichtig, hob er Bild für Bild hoch, hielt es sich vor die Augen und nachdem er es eingehend betrachtet hatte, legte er es zurück auf den Tisch, um das nächste aufzunehmen.

      Ich hatte mein Interesse inzwischen zur Gänze von den Bildern weg zum Wein hin verlagert und hielt gerade das Glas in die untergehende Sonne, um die hellrote Farbe des rosados zu prüfen, als mich Álvaro aus meinen Betrachtungen riß.

      „Komisch“, sagte er und betrachtete zwei Fotos, die er sich abwechselnd vors Gesicht hielt, „es ist zwar nach allem, was Sie mir erzählt haben, eigentlich nicht möglich, aber ich würde meinen, auf diesen beiden Bildern sind Sie mit drauf.“

      „Unsinn Álvaro, das kann nicht sein.“

      „Sag ich ja, aber die Ähnlichkeit ist schon verblüffend. Schauen Sie doch selbst“, antwortete er und hielt mir die beiden Bilder hin.

      Die Aufnahmen waren augenscheinlich in einem Straßencafé gemacht. Im Vordergrund an einem kleinen runden Bistrotischchen saßen, vom Betrachter aus gesehen, rechts Dona Maria, ein Bein über das andere geschlagen, die Knie züchtig durch den Rock bedeckt und links Don Xavier, den linken Arm auf die Tischplatte gestützt, in den Fingern eine Zigarette. Auf dem Tisch standen Kaffeekännchen, Tassen und Cognacgläser. Im Schatten des Hintergrunds aber saß ein Mann an einem Tisch, der auf dem einen Bild direkt in die Kamera schaute und auf dem anderen rechts aus dem Bild hinaus, so daß sein Profil recht deutlich zu erkennen war. Und dieser Mann, ich konnte es kaum leugnen, sah mir ähnlich, erstaunlich ähnlich sogar. Wenn ich ehrlich war, was mir in diesem Fall schwer fiel, sah es in der Tat auf den ersten Blick so aus, als hätte ich dort an dem Tischchen unter der Markise des Straßencafés gesessen. Auf dem zweiten Blick sah es immer noch so aus.

      „Das ist unmöglich“, ich begann zu stottern, „das kann ich gar nicht sein, wo immer diese Aufnahme gemacht wurde, ich war niemals dort, ganz sicher nicht. Es muß sich um eine Verwechslung handeln, um einen Doppelgänger, eine Halluzination, was weiß ich.“

      Álvaro nahm mir die Fotos aus der Hand und betrachtete sie nochmals eingehend. Dann tippte er mit dem Finger im Wechsel mal auf das eine, mal auf das andere Bild und schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er sah.

      „Haben Sie eine Lupe zur Hand, Don Diego?“

      Ich nickte und verschwand verwirrt die Treppe hinab, um aus meinem Zimmer zu holen, was er verlangte, kam wieder nach oben und gab dem Chauffeur das Gewünschte.

      „Da, sehen Sie hier“, sagte Álvaro und reichte mir die Lupe und ein Bild.

      Er deutete auf den rechten Arm des unbekannten Mannes, der nachlässig an der Lehne des Korbsessels herunterhing. Unter der Vergrößerung der Lupe kam die grobkörnige Unschärfe der Aufnahme deutlich hervor. Doch ebenso deutlich zu erkennen war der Ring, den der Fremde an dem Ringfinger der rechten Hand trug. Eine schlichte Fassung, die einen großen ovalen Stein hielt. Nicht besonders auffallend, aber markant.

      Álvaro wies erst auf das Foto und dann auf den Ring, den ich am Ringfinger der rechten Hand trug. Einen ovalen Stein in einer schlichten Fassung, nicht besonders auffallend, aber markant.

      Es handelte sich bei dem Ring, den ich trug und bei dem, der am Finger des Unbekannten steckte, ohne Frage um ein und denselben Ring.

      Das zweite Bild zeigte nichts anderes, sondern beschränkte sich lediglich darauf, das erste zu bestätigen.

      Unfähig zu begreifen, was ich da vor mir sah, starrte ich auf die Bilder und dann wieder auf meine Hand, die nun doch recht stark zitterte. Als ich nach dem Weinglas griff und dabei einen Gutteil seines Inhalts verschüttete, kamen mir die Vorkommnisse der letzten Wochen wieder ins Bewußtsein zurück, die Geschehnisse, die ich weder einzuordnen wußte, noch verstanden, sondern deren mysteriösen Umstände ich einfach nur verdrängt