Marcelo Strumpf

Tödliche Täuschungen


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Und das würde man ja, früher oder später. Seine Mutter wusste doch, dass er sich mit ihr verabredet hatte. Dennoch: Sollte er jetzt etwa zu seiner Mutter gehen und sagen: „Becky wollte mich verführen, ich habe sie nur geschubst, und dabei ist sie gestolpert, unglücklich gefallen, und nun ist sie tot“? Wer würde ihm diese Geschichte abkaufen? Niemand. Nicht mal seine Mutter. Sie, mit ihrem Gerechtigkeitssinn, würde ihm womöglich in den Ohren liegen, sofort zur Polizei zu gehen und sich zu stellen. Und was dann passieren würde, das konnte er sich ausmalen. Noch dazu mit diesen brennenden Kratzern in seinem Gesicht, die Becky ihm vorhin verpasst hatte. Man würde die Kratzer unweigerlich als Indiz für einen Kampf sehen. Becky habe sich gewehrt, als er sie vergewaltigen wollte, würde man behaupten. Mist! Er steckte ziemlich tief in der Klemme.

      Trotz der Ausweglosigkeit, die für ihn immer bedrohlichere Ausmaße annahm und die mit einem Gefühl der Beklemmung einherging, hatte er plötzlich eine Idee. Der Stress ließ ihn auf einmal ganz klar denken und verwandelte sich in eiskaltes Kalkül. Sein noch immer von der Aufregung gerötetes und verschwitztes Gesicht bekam jetzt einen gelösten, ja, fast entspannten Ausdruck. Er wusste, was er jetzt tun musste.

      Mit einem siegesbewussten Lächeln, das zugleich Zufriedenheit und die Überzeugung ausdrückte, das Richtige zu tun, und einem genialen Plan im Kopf verließ Max das Strandhaus, in dem Rebecca leblos auf dem Boden lag. Vorher aber sollte noch sein neues Surfbrett zum Einsatz kommen.

      Tag 1

      Samstag, den 2. Mai 1998

      Seit sie die Autovermietung am Flughafen von Plymouth verlassen hatten, war aus den neu entfachten Spannungen eine unüberwindbare Mauer aus unterdrückten Aggressionen gewachsen. In Dominik rumorte der Groll, vor allem auf sich selbst, weil er Anna nachgegeben und dann doch den protzigen Jaguar genommen hatte, statt den von ihm ursprünglich reservierten Mittelklassewagen. Das war typisch für sie, dachte er. Sie war immer so auf Äußerlichkeiten bedacht. Und er durfte das ausbaden und jetzt zusehen, wie er mit so einem Schlitten auf den einspurigen Landstraßen zurechtkam, noch dazu bei dem für ihn ungewohnten Linksverkehr.

      „Bist du sicher, dass dies der richtige Weg nach Cornwall ist?“. Anna, die auf der Rücksitzbank saß und die ganze Zeit über laut raschelnd in ihrer Modezeitschrift geblättert hatte, während sie nur einmal zynisch die „ach so zauberhafte Gegend“ kommentiert hatte, meldete sich wieder zu Wort. Mit ihrem arroganten Tonfall, den er auf den Tod nicht ausstehen konnte.

      „Ja, Milady, das ist der richtige Weg“, sagte er sarkastisch und kam sich tatsächlich wie ihr Chauffeur vor. Wie ein Bediensteter. Ein Lakai.

      „Also, ich weiß ja nicht“, sagte sie noch immer von oben herab. „Mir scheint, du hast dich verfahren. Wir hätten doch schon längst da sein müssen – Miss Wilcher.“ Sie lachte laut und gekünstelt. Es klang scheppernd, wenn sie lachte.

      Auch dafür hasste er sie. Seit er ihr vor Jahren erzählt hatte, er würde sich wegen der tollen Landschaften Cornwalls gerne die Fernsehfilme anschauen, die nach Rose Wilchers Erzählungen in Cornwall gedreht wurden, verspottete sie ihn damit. In letzter Zeit hatte sie nicht mal gezögert, vor den wenigen gemeinsamen Freunden ihn Rose oder – wie jetzt eben – Miss Wilcher zu nennen.

      „Anna, lass dir mal was Neues einfallen. Dieser Gag ist mittlerweile so fahl wie abgestandenes Bier“, sagte er und konzentrierte sich wieder auf das Fahren. Vielleicht stimmte es sogar, und er hatte sich tatsächlich verfahren. Gut möglich, dass er irgendwo ein Hinweisschild übersehen hatte.

      Die Besitzerin von »Lavinia’s Cottages«, einer Agentur, die Urlaubsdomizile in Cornwall vermietete, hatte ihn mit einer Wegbeschreibung versorgt und erklärt, er würde mit dem Auto von Plymouth höchstens eine halbe Stunde bis zum Cottage an der Bucht von Talland Hill benötigen. Jetzt waren sie schon fast eine Stunde unterwegs. Und mindestens genauso lange regnete es schon.

      Der Mai-Himmel war so grau und wolkenverhangen wie heute früh, als sie von Berlin losgeflogen waren, und schien die Landschaft gänzlich verschluckt zu haben. Nur ab und an sah man vereinzelt Häuser und dahinter sanft geschwungene grüne Hügel, während sie durch einen milchig undurchsichtigen Schleier aus Nebel und Nässe fuhren.

      „Ich weiß wirklich nicht, warum ich mich von dir habe breitschlagen lassen, ausgerechnet in England Ferien zu machen, in einem Land, in dem es ständig regnet, es das schlimmste Essen auf der Welt und die am schlechtesten gekleideten Menschen gibt“, stichelte sie von neuem. Annas gehässiger Tonfall machte deutlich, dass sie partout streiten wollte. Sie hatte ihre Zeitschrift zur Seite auf den Sitz gelegt und beschlossen, ihn auf die Palme zu bringen. Und sicherlich hätte sie sich ins Fäustchen gelacht, wenn sie seine angeschwollene Stirnader gesehen hätte. Denn das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass er, ein, wie sie fand, immerfort beherrschter Langweiler, kurz davor stand, aus der Haut zu fahren. Aber sie bekam es nicht mit. Sie war auf einmal damit beschäftigt, ihr sowieso schon tadelloses Äußeres nachzubessern. Daher sah sie auch nicht seine dunkelbraunen Augen, die im Rückspiegel jede ihrer Handbewegungen beobachteten. Wie sie ihr leuchtend kupferrotes Haar kämmte, das sie schulterlang trug und einen perfekten Kontrast zu ihrem blassen Teint und ihren smaragdgrünen Augen bildete. Und wie sie dann ihre langen Wimpern dick tuschte. Seine Wut auf Anna begann sich in Ratlosigkeit und in Erstaunen zu verwandeln.

      Wie wenig doch ihr hässlicher Charakter zu ihrem schönen Äußeren passte, dachte er. Obwohl er sich auf die Fahrtrichtung zu konzentrieren versuchte, sah er im Rückspiegel, wie sie ihren Lippenstift aufdrehte und eine frische Schicht auflegte. Vor Jahren, als er sie auf einer Party bei gemeinsamen Freunden kennengelernt hatte, hatte sie kaum Make-up benutzt, bis auf den feuerroten Lippenstift, der ihren sinnlichen Mund betonte. Wann hatte er ihre Lippen eigentlich das letzte Mal geküsst? Er wusste es nicht mehr, und es spielte jetzt auch keine Rolle mehr. Denn er hatte ohnehin keine Lust, Anna zu küssen. Am liebsten hätte er jetzt eine Vollbremsung gemacht. Es hätte ihm bestimmt gut getan, sich anschließend zu ihr umzudrehen, um in ihr vom Lippenstift verschmiertes Gesicht zu blicken und sie an den Grund dieser Reise zu erinnern.

      „Nicht du hast dich breitschlagen lassen, mit mir in England Urlaub zu machen“, hätte er zu ihr gesagt, „sondern ich habe mich von dir überreden lassen. Du warst es, die eine gemeinsame Cornwall-Reise vorgeschlagen hatte. Diese Reise sollte dein Liebesbeweis sein. Eine Wiedergutmachung für deinen Seitensprung vor einem halben Jahr. Das hast du wohl schon wieder vergessen, nicht wahr, liebste Anna?“.

      Dass sie ihn betrogen hatte, hatte er mehr oder weniger durch Zufall herausgefunden. Wie in einem schlechten Film war er sich damals vorgekommen.

      Er sollte für sie einige Kleidungsstücke in die Reinigung bringen, und dort hatte die Angestellte in der Seitentasche einer Kostümjacke von Anna ein Blatt Papier gefunden und es ihm gegeben. Zunächst hatte er sich nichts weiter dabei gedacht, als er sah, dass es sich um eine Hotelrechnung handelte. Anna war ja beruflich viel unterwegs und übernachtete daher oft in Hotels. Als Gebietsleiterin im Außendienst eines Schweizer Pharmaunternehmens besuchte sie Apotheken und Arztpraxen in Berlin und im Norden Deutschlands. Doch die Rechnung war von einem Hotel in Weimar. Und Weimar lag ja bekanntlich in Thüringen, also im Süden. Wieso war sie in Weimar gewesen? Und wenn der Trip dienstlich gewesen war, dann hätte sie keine Rechnung bekommen, sondern die Swiss Pharma, die für ihre Außendienstmitarbeiter die Zimmer buchte und bezahlte. Was ihn vor allem stutzig gemacht hatte, war, dass die Hotelrechnung nicht nur auf den Namen Anna Russ ausgestellt worden war, sondern auch auf seinen eigenen Namen. Auf der Rechnung stand Dominik und Anna Russ. Anna und er waren aber nie zusammen in Weimar gewesen.

      Noch am selben Abend, als sie von einer Tagung nach Hause zurückgekommen war, hatte er sie zur Rede gestellt. Zuerst war sie patzig geworden und schnauzte ihn an. Was ihm denn eigentlich einfiele, ihre Kleidung zu durchsuchen. Ob er schon mal etwas von Privatsphäre gehört hätte. Sie war in Fahrt gekommen und hatte ihm eine ihrer berühmten Szenen machen wollen, doch er nahm ihr schnell den Wind aus den Segeln, indem er ihr seelenruhig erklärte, wie und wo er die Rechnung gefunden hatte. Und da war sie sofort kleinlaut geworden und hatte ihre Strategie geändert. Sie begann eine Show abzuziehen und zu weinen. Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich, denn Anna gehörte nicht