Marcelo Strumpf

Tödliche Täuschungen


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gekauft und von dem sie zwei Gläser getrunken hatte, nachdem er am späten Nachmittag wie eine Diva aus dem Haus gerannt war. Ein Rotweinkenner war er jedenfalls nicht, soviel stand für sie fest. Eigentlich war er überhaupt kein Kenner, egal auf welchem Gebiet, dachte Anna und schaute zum Wecker auf dem Nachttisch. Es war erst kurz nach zehn Uhr abends, also hatte sie gerade mal eine halbe Stunde geschlafen beziehungsweise versucht, Ruhe zu finden. Sie wollte gerade aufstehen, als sie ein Geräusch hörte. Es war ein Rascheln, das vom Dach zu kommen schien. Oder kam es aus der Wand neben dem Bett? Aus Dominiks Schlafzimmer konnte es nicht kommen, denn das Badezimmer lag dazwischen. Ratsch. Ratsch. Ratsch. Was war das nur? Sie setzte sich im Bett aufrecht und knipste die Nachttischlampe an. Gab es hier Ratten oder Mäuse im Gebälk? Gewundert hätte sie das nicht, so verkommen, wie diese Bruchbude war. Sie hätte es Dominik nie überlassen dürfen, die Urlaubsunterkunft in England auszusuchen. Aber nach der dummen Geschichte vor ein paar Monaten wäre es nicht gut gewesen, ihm zu widersprechen, als er auf ihren Vorschlag eingegangen war und gesagt hatte, er würde für sie beide ein Cottage in Cornwall suchen. Und alles nur, weil sie die verdammte Hotelrechnung in ihrer Kostümjacke vergessen hatte! Andernfalls hätte Dominik nie von ihrem kleinen Abenteuer erfahren. Ein kleines, aber lustvolles Abenteuer, dachte sie jetzt und lächelte. Aber war es das hier wert gewesen?

      Da! Schon wieder! Kratz, kratz, kratz. Was ist das nur? Verdammt! Sie stand auf, öffnete die Tür und lief zu Dominik ins Schlafzimmer, ohne sich darum zu kümmern, ob er schlief oder nicht. Erbarmungslos knipste sie das Licht an.

      „Dominik, wach auf! Da ist irgendetwas auf dem Dach!“. Wahrscheinlich hat er sich wieder Stöpsel in die Ohren gestopft, um sein eigenes Schnarchen nicht hören zu müssen, dachte sie und rüttelte so lange an ihm, bis er endlich wach wurde.

      „Was ist?“, fragte er schlaftrunken und hielt sich eine Hand vor die Augen, weil ihn das Licht der Deckenlampe blendete.

      „Auf dem Dach ist irgendetwas, ich höre die ganze Zeit so komische Kratzgeräusche. Steh gefälligst auf und sieh nach!“

      Er schaute sie verschlafen an und setzte sich im Bett auf, konnte aber nichts hören, also ließ er sich wieder auf sein Kissen fallen. „Anna, du hast schlecht geträumt“, nuschelte er. „Geh wieder ins Bett, und mach das Licht aus.“ Dann fiel er sofort wieder in tiefen Schlaf.

      Nein, sie hatte nicht geträumt und bildete sich die Geräusche auch nicht ein. Typisch für Dominik, wenn etwas unbequem ist, zieht er den Schwanz ein, dachte sie und warf einen letzten giftigen Blick auf ihn. Es kümmerte sie auch nicht, dass die Tür laut knarrte, als sie sie ins Schloss fallen ließ. Ihr war es egal, ob er wieder wach wurde. Sie konnte ja auch nicht schlafen. Vielleicht sollte sie eine Tasse Tee trinken, und nach einer Zigarette war ihr auch.

      Auf dem Weg nach unten in die Küche hörte sie erneut Geräusche. Diesmal kamen sie jedoch nicht vom Dach, sondern von draußen. Dennoch traute sie sich nicht, in der Küche Licht zu machen, aus Angst, irgendetwas Schreckliches zu entdecken. Vielleicht war da eine riesige Ratte oder – noch schlimmer – ein Einbrecher. Aber sie musste auch gar nicht das Licht anmachen, denn in der Küche war es auch so hell genug. Der Mond warf sein kaltes weißes Licht durchs Fenster und beschien den Esstisch und die Wand, an der eine altmodische Küchenuhr tickte. Auf einmal musste sie daran denken, wie sie sich immer über Filmszenen aufregte, in denen ein Protagonist durch die Zimmer eines Hauses rannte, ohne Licht zu machen, und laufend „Wer ist da?“ rief. Kein normaler Mensch tat so etwas. Also wollte sie nicht genauso blöd sein und knipste die Neonröhre unter einem der Küchenschränke an. Jetzt konnte sie genau sehen, dass in der Küche nichts Schreckliches zu entdecken war, und setzte Teewasser auf. Hoffentlich hatte Dominik überhaupt daran gedacht, im Supermarkt Tee für sie zu kaufen. Natürlich nicht! Also blieb ihr nichts anderes übrig, als alle Küchenschränke zu durchwühlen, in denen Restbestände von Lebensmitteln lagerten, die Vormieter des Cottage zurückgelassen hatten. Nudeln, Pulverkaffee, Salz und andere Gewürze, sogar eine Flasche mit ranzigem Öl und eine mit Essig waren dabei. Endlich fand sie eine angebrochene Packung Tee. Leider waren es nur Teebeutel. Besser als nichts, dachte sie und stellte den Wasserkocher an, um sich gleich danach eine Zigarette anzuzünden und an den Küchentisch zu setzen.

      Nur zu gerne hätte sie es jetzt gesehen, dass Dominik in die Küche gekommen wäre und sie hier beim Rauchen ertappt hätte. Genussvoll zog sie an der Zigarette und blies den Rauch aus. Vermutlich würde er einen Aufstand machen, weil sie es wagte, in der Küche zu rauchen. Was bildete er sich eigentlich ein? Nur weil er vor ein paar Jahren das Rauchen aufgegeben hatte, sollte sie darauf verzichten? Dieser Langweiler! Sie würde sich nie wieder etwas vorschreiben lassen. So wie von ihrer Mutter, die sie ständig herumkommandiert hatte, sofern sie nicht gerade besoffen war. Seitdem hasste sie es, wenn man ihr Vorschriften machte.

      Sie wollte gerade einen Teebeutel in den Becher geben und kochendes Wasser eingießen, als sie zusammenfuhr. Schon wieder hatte sie ein Geräusch gehört. Als ob jemand Steinchen gegen das Küchenfenster geworfen hätte. Das Geräusch kam eindeutig von draußen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Zigarette auf den Aschenbecher ablegte und aufstand, um aus dem Fenster zu schauen. Die Nacht war pechschwarz. Eine Wolke hatte sich über den Mond geschoben, so dass man im Vorgarten kaum etwas erkennen konnte. Sie musste daher das Licht in der Küche wieder ausschalten, um draußen etwas erkennen zu können. Und als sie das getan hatte und wieder zurück ans Fenster ging, konnte sie draußen etwas erkennen. Nein, das war unmöglich! Sie musste Halluzinationen haben. Sie konnte nicht glauben, wer dort vor dem Fenster stand und sie angriente.

      Sie stürzte sofort zur Haustür und öffnete sie, um im Nu zu spüren, wie die kalte Nachtluft den dünnen Seidenstoff ihres Pyjamas durchdrang. Scheiße, ist das kalt, dachte sie. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als vor die Tür zu treten.

      „Du hast mich zu Tode erschreckt! Was machst du hier? Bist du verrückt geworden, hierher zu – “. Weiter kam sie nicht, denn der nächtliche Besucher umarmte sie und presste seine Lippen auf die ihren. Er schien ihr die Luft aus den Lungen heraussaugen zu wollen.

      ***

      Man merkte den beiden Jungen ihre Angst an, obwohl Jamie, der körperlich stärker als Robby war, seine Furcht zu überspielen versuchte.

      „Ist das eine Nachtigall?“, fragte er und blieb stehen, um dem trällernden Gesang eines Vogels zu lauschen, der irgendwo auf einem nahe gelegenen Baumwipfel in der Heidelandschaft saß.

      „Keine Ahnung. Kann auch ein Kuckuck sein“, sagte Robby. „Lass uns einfach nur weiterlaufen und irgendjemanden finden, den wir nach dem Weg fragen können. Irgendwie finde ich es hier ziemlich ätzend. Weit und breit kein Mensch.“ Als er dann auch noch auf einen vertrockneten Ast trat, erschrak er. „Scheiße! Wieso habe ich mich nur auf diese blöde Radtour mit dir eingelassen?“

      „Mensch, Robby, sei keine Memme“, sagte Jamie. „Du wolltest doch schon immer mal ein kleines Abenteuer erleben. Im Internat ist ja alles soooo langweilig, sagst du doch immer. Also, dachte ich mir, mache ich dir eine kleine Freude mit der Radtour durchs Moor.“

      „Ja, eine Radtour, die wir seit Stunden zu Fuß unternehmen, weil dein Fahrrad einen Platten hat und du Hornochse nichts zu flicken mitgenommen hast. Wir bekommen sicherlich mächtigen Ärger, wenn wir morgen nicht rechtzeitig wieder in der Schule zurück sind.“

      „Falls wir jemals wieder dorthin zurück finden und nicht vorher von Werwölfen oder der Bestie vom Bodmin Moor angefallen werden“, antwortete Jamie und ahmte einen heulenden Wolf nach.

      Der Vierzehnjährige liebte es, Robby aufzuziehen. Es war aber nicht böse gemeint, sondern eher eine Fopperei unter guten Freunden. Noch vor zwei Jahren, als Robert Daltrey auf die Saint Patrick School in Truro gekommen war, sah es ganz anders aus. Da hatte Jamie den Neuzugang überhaupt nicht leiden können. „Daltrey ist ein Snob“, hatte er damals zu seinen Mitschülern gesagt. Aber er hatte dann bald herausgefunden, dass hinter Robbys hochnäsiger Fassade ein überaus netter Kumpel steckte, der einen auch mal bei Klassenarbeiten abschreiben ließ.

      „Wie witzig“, antwortete Robby, dem nun auch noch kalt wurde und der schon alleine Gänsehaut davon bekam, wenn er nur daran dachte, in der Dunkelheit im nebelverhangenen Moor