Marcelo Strumpf

Tödliche Täuschungen


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um von dort aus mit dem Fahrrad unbekannte Gefilde zu erkunden. So erreichten sie den südlichen Teil des Bodmin Moors und näherten sich einem Gebiet, das durchzogen war von Heidelandschaft und dem River Fowey mit seinen weit verzweigten Seitenarmen. Nicht umsonst nannte man noch im frühen 19. Jahrhundert die Gegend hier Fowey Moor.

      Sie waren durch die fast menschenleere Heide geradelt, vorbei an Hügelgräbern und Steinkreisen, bis sie Dozmary Pool erreichten, den graublauen See, in den, wie Jamie seinem Freund stolz erklärt hatte, nach der Überlieferung der Artussage, Sir Bedivere das Schwert Excalibur warf, um es der Dame vom See zurückzugeben. Kaum hatte er seine kleine Geschichte zu Ende erzählt, war Jamie über irgendetwas Spitzes gefahren, einen Stein oder eine Glasscherbe, wodurch der Vorderreifen seines Rads einen Platten bekommen hatte. Seitdem hatte er es neben sich her schieben müssen, und Robby war nichts anderes übrig geblieben, als dasselbe zu tun.

      „Da vorne plätschert es. Hoffentlich müssen wir nicht auch noch durch einen Bach laufen.

      Bist du dir sicher, dass es hier nach Bolventor geht?“, fragte Robby. „Man kann doch im Dunkeln kaum etwas sehen.“ Seine Stimme klang weinerlich.

      „Vertrau mir. Ich war schon mal hier in der Gegend.“

      „Ach ja? Und wann soll das gewesen sein?“

      „Mit meinen Eltern und meinen Brüdern, vor etwa fünf Jahren. Da haben wir das Bodmin Moor auch zu Fuß erkundet.“

      „Und? War euch unterwegs auch Essen und Trinken ausgegangen? Ich habe schrecklichen Hunger“, quengelte Robby. „Mir ist nur noch ein Stück Müsliriegel geblieben, das ist meine Notration. Und außerdem ist mir kalt.“

      „Du wirst schon nicht verhungern“, antwortete Jamie, dem selber der Magen knurrte. „Außerdem schadet es dir nicht, wenn du etwas abspeckst, Fetty.“

      Robby, der in der Tat nicht gerade sportlich war und für sein Leben gerne aß, schaute seinen Freund beleidigt an, sagte aber nichts. Stattdessen holte er den halben Müsliriegel aus seinem Rucksack und stopfte ihn sich mit trotzigem Gesichtsausdruck in den Mund.

      Jamie hatte aber schon nicht mehr darauf geachtet. Er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Umgebung nach etwas Bekanntem zu erkunden. Wenigstens hatten sie Taschenlampen dabei, die ihnen den Weg beleuchteten. „Da vorne ist ein Hinweisschild“, sagte er endlich und lief voraus, während er sein Rad neben sich her schob.

      „Verdammt! Komm ja nicht auf die Idee, mich hier alleine zu lassen!“, rief ihm Robby hinterher. Na warte, Freundchen. Dir werde ich mal zur Abwechslung auch einen Schrecken einjagen. Und dann setzte er sich sofort aufs Rad und fuhr in schnellem Tempo an Jamie vorbei, der an dem verwitterten Hinweisschild stehen geblieben war und es mit seiner Lampe anstrahlte.

      „Hey, Daltrey. Bleib hier! Zum Stausee geht’s da lang. Das Schild weist nach Colliford Lake. Von dort aus ist es nicht mehr weit nach Bolventor.“

      In der kleinen Ortschaft Bolventor hofften sie, noch einen offenen Pub zu finden, in dem sie eine warme Mahlzeit bekämen und irgendwo vielleicht auch Flickzeug für Jamies Rad. Aber es war bald Mitternacht, so dass es ziemlich unwahrscheinlich werden würde.

      Robby, der die Idee, alleine ohne Jamie wegzuradeln, auch nicht mehr so toll fand, schloss sich wieder seinem Schulfreund an und lief an seiner Seite in die Richtung, in die der Pfeil zeigte, entlang eines Weges, der vom tagelangen Regen aufgeweicht war. Zwar hatte es seit einigen Stunden aufgehört zu regnen, dafür setzte ihnen der starke Wind zu, der über das Moor fegte und die Landschaft schaurig klagen ließ.

      Die Stimmung der beiden Jungen fiel genauso schnell wie die Außentemperatur, seit die Sonne, die sich ohnehin den ganzen Tag über hinter den Wolken versteckt hatte, endgültig untergegangen war. Jamie schätzte die Temperatur auf höchstens acht Grad. Hoffentlich würde es ihnen wärmer werden, wenn sie etwas Warmes im Bauch hätten. Ein Stew wäre nicht schlecht oder eine Fleischpastete, dachte er und hörte schon wieder sein Bauch grummeln. „Da vorne ist eine Straße“, sagte er und unterbrach das Schweigen. „Lass uns entlang der Autostraße laufen. Da ist es sicherlich heller.“

      Doch ihre Hoffnung, die Scheinwerfer von vorbeifahrenden Fahrzeugen würden ihnen den Weg erleuchten, erfüllte sich nicht. Weit und breit war kein Auto zu sehen. Sie schienen die einzigen Menschen auf der Welt zu sein. Das war ungewöhnlich, denn im Frühjahr war das Moor ein beliebtes Ausflugsziel. Wenn auch natürlich nicht unbedingt mitten in der Nacht. Es war kurz vor halb zwölf Uhr, als sie endlich den Stausee erreichten.

      „Vielleicht sollten wir unsere Flaschen auffüllen. Das Wasser des Stausees müsste eigentlich trinkbar sein“, sagte Robby, als sie sich in der Dunkelheit dem Seeufer näherten. Wenigstens lösten sich jetzt die Wolken etwas auf und ließen den Vollmond für etwas Licht sorgen.

      „Denke schon, dass man das trinken kann“, antwortete Jamie und holte seine Trinkflasche aus dem Rucksack. „Hier. Du kannst ja meine gleich mit auffüllen. Danach sollten wir weiter zum Colliford Lake Park und unsere Zelte aufschlagen. Da sind wir wieder in der Zivilisation. Zumindest hoffe ich das. Keine Ahnung, ob um diese Uhrzeit noch Leute dort sind. Viele Autos sind ja nicht unterwegs.“

      „Viele? Wir haben weit und breit kein Auto gesehen. Was, wenn niemand da ist? Außerdem dachte ich, dass wir bis nach Bolventor gehen“, sagte Robby und geriet ob der Aussicht, mit einem leeren Magen schlafen zu müssen, in Panik.

      „Wenn du nicht willst, dass wir verdursten, solltest du uns erst mal mit Wasser versorgen“, erwiderte Jamie. „Den Rest sehen wir dann.“

      „Bin ich dein Butler, oder was?“, sagte Robby, der dann aber nachgab und mit beiden Trinkflaschen ans Ufer lief. Er hockte sich hin und schöpfte erst mal etwas Wasser in seine Hand. Es war kalt und schmeckte wie Wasser nun mal so schmeckte. Aber hoffentlich schwammen hier keine Kaulquappen oder Wasserflöhe herum, dachte er. Auf Fleischeinlage im Trinkwasser konnte er wirklich verzichten.

      „Bist du bald fertig, Daltrey? Wie lange brauchst du denn noch? Wir sollten weiter, bevor sich neue Wolken über den Mond schieben und es total finster ist.“

      „Einen Moment noch“, sagte Robby und lief weiter am Ufer entlang, bis zu einer Stelle, an der die nackten Äste abgestorbener Bäume aus der Wasseroberfläche herausragten. „Nanu? Wie kommen denn Bäume in den See?“, fragte er sich und hockte sich hin, um seine Flasche ins Wasser zu tauchen.

      Auf den Gedanken, dass dort, wo sich jetzt der Stausee befand, früher einmal Heide war und Bäume gestanden hatten, kam er nicht. Das lag vermutlich daran, dass er von etwas abgelenkt worden war, das auf dem Wasser schwamm. Zuerst hielt er es nur für eine Sinnestäuschung, einen Schatten, verursacht vom Mondlicht, das auf die abgestorbenen Bäume im Wasser schien. Dann glaubte er, es handle sich um eine Plane oder eine riesige Plastiktüte, die auf dem Wasser trieb. Bei näherer Betrachtung sah er aber, dass es sich um einen auf der Wasseroberfläche schwimmenden Mantel handelte. Das war zwar sonderbar, aber dann wieder auch nicht ganz so außergewöhnlich, dachte er. Schließlich wusste man doch ja, wie die Menschen die Umwelt verschmutzten, indem sie alle möglichen Dinge in die Gewässer warfen.

      Doch in diesem Fall schien ein Mensch entsorgt worden zu sein, denn aus dem Mantel schauten auch Hosenbeine hervor, und die gehörten zweifelsohne zu einem menschlichen Körper, der wie ein Korken auf der Wasseroberfläche trieb. Robbys Herz begann wie wild zu hämmern. Er wollte laut nach Jamie rufen, war aber nur imstande, den Namen seines Freundes herauszukrächzen.

      „Jamie… Jamie...“ Zwei oder drei Mal versuchte er es. Aber Jamie hörte ihn einfach nicht.

      Ob der Körper auf dem See zu einem Mann oder einer Frau gehörte, hätte Robby auf Anhieb nicht sagen können. Zum einen schien der Mond nicht hell genug, zum anderen trieb die Gestalt auf dem Bauch, so dass man kein Gesicht erkennen konnte. Die Hose sprach für einen Mann, aber die langen Haare, die wie ein Strahlenkranz um den Kopf schwappten und sich teilweise in Schilfhalmen verfangen hatten, hätten die Vermutung aufkommen lassen können, es handle sich um eine Frau. Letztendlich stellte sich Robby die Frage nach dem Geschlecht der Wasserleiche ohnehin nicht. Alles, was ihn interessierte, war jetzt, so schnell wie möglich vom unheimlichen See