Marcelo Strumpf

Tödliche Täuschungen


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      Aber seine Frage hatte sie nicht mehr gehört. Sie war bereits die knarrenden Treppenstufen zum Obergeschoss hochgelaufen, während sie mit einem Finger über das Treppengeländer fuhr und auf Staub untersuchte. „Na ja. Zumindest scheint die Schreckschraube hier wischen zu lassen“, sagte sie beinahe enttäuscht.

      „Ich gehe dann mal das Gepäck aus dem Auto holen“, sagte Dominik, der es am liebsten dort gelassen und den Urlaub, der ohnehin keiner werden würde, sofort abgebrochen hätte. Die Spannungen, die am Flughafen begonnen und sich auf der Fahrt hierher fortgesetzt hatten, waren sicherlich nur der Auftakt zu einem großen Streit, der auch in den nächsten sieben Tagen nicht enden würde. Wieso wollte er sich das antun? Andererseits, er hatte sich so sehr auf Cornwall gefreut. Nein, er wollte sich den Urlaub von Anna nicht vermiesen lassen.

      Doch das würde schwierig werden. Denn kaum war er mit beiden Koffern und der Reisetasche zurück im Haus, hörte er sie in der oberen Etage lauthals schimpfen. Er lief die steile Treppe hoch und stellte das Gepäck im kleinen Flur ab, wo sie wie ein Racheengel auf ihn wartete.

      „Hier bleibe ich keine fünf Minuten! Das ist doch die reinste Kaschemme, die du gemietet hast! Die Matratze ist durchgelegen, die Bettwäsche riecht muffig, in dem Badezimmer kann man sich kaum drehen, es gibt nicht mal eine Duschbrause in der Badewanne, geschweige denn eine Duschkabine, und aus jeder Fensterritze zieht es. Und dann noch diese verstaubte Einrichtung. Überall Spitzendeckchen und Nippes!“

      Dominik versuchte ruhig zu bleiben und lief in eines der beiden Schlafzimmer, das Anna offensichtlich für sich auserkoren hatte. „Du übertreibst. Wie immer. Ich weiß nicht, was du hast“, antwortete er seelenruhig. „Das ist doch eine typisch englische Schlafzimmereinrichtung. Ein Messingbett, Rosenbettwäsche von Laura Ashley, so wie du sie doch magst. Und die Aussicht aus dem Fenster ist doch auch wunderschön“, sagte er und blickte auf sanft geschwungene sattgrüne Hügel, auf denen Schafe weideten.

      „Laura Ashley? Laura Ashley?“ Ihre Stimme überschlug sich. „Man merkt, dass du von Designern keinen blassen Schimmer hast. Das hier, mein Lieber“, sagte sie und riss ein Bettbezug hoch und hielt ihn ihm hin, „das hier ist billigste Discounter-Wäsche, noch dazu verblasste!“ Und schau dir mal das Badezimmer an, es ist mit einem Langflorteppich ausgelegt! Noch unhygienischer geht es wohl nicht. Mir wird übel, wenn ich nur an die Haare von fremden Leuten und an die Milliarden von Bakterien in dem Badezimmerteppich denke.“

      „Anna, komm du mal lieber wieder auf den Teppich.“ Jetzt platzte ihm der Kragen. „In deiner Jugend hast du doch in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit Außentoilette gewohnt. Und jetzt machst du hier auf Etepetete. Was soll das?“

      Sie schaute ihn ungläubig an. Sie war es nicht gewohnt, dass er ihr konterte. Aber ihre Verwunderung war von kurzer Dauer. Aus ihren großen dunklen Augen wurden schmale Schlitze, die Funken zu versprühen schienen. „Du Mistkerl! Was fällt dir eigentlich ein, so mit mir zu reden? Und was heißt hier in meiner Jugend?“, äffte sie ihn nach. „Hältst mich wohl für eine alte Schachtel, oder was?“

      „Nicht für eine alte Schachtel, aber für das Aschenbrödel, das nicht daran erinnert werden möchte, wie dreckig es ihm mal ging, und nun so tut, als sei es mit einem goldenen Löffel im Mund geboren worden.“

      Sie brach in gekünsteltes Gelächter aus. „Ach so! Und du bildest dir vermutlich ein, mein Märchenprinz gewesen zu sein, der mich aus der Gosse geholt hat, nicht wahr? Dominik, mach dich nicht lächerlich, du Möchtegernmärchenprinz!“ Ihre Stimme wurde höher und lauter.

      „Dass ich nicht dein Märchenprinz bin, das musst du mir nicht sagen“, sagte er so ruhig wie möglich. „Es wurde mir klar, als ich vor Monaten herausfand, dass du mit anderen Männern rumvögelst. Nun ja, ich hätte es eigentlich wissen müssen. Wenn Alice dich vor zwei Jahren auf der Skireise nicht gestoppt hätte, hättest du es vermutlich vor unser aller Augen mit ihrem Freund auf dem Sofa getrieben.“ Er spürte, wie ihm übel und schwindlig wurde. Sein Herz raste. Ihm war, als würde ihm die Luft zum Atmen genommen. Er musste hier sofort raus, sonst würde er sich vergessen. Sie wollte sofort zurückschlagen, doch er ließ es erst gar nicht dazu kommen. „Halt den Mund, Anna!“, schrie er. „Es reicht!“ Dann rannte er die Treppen hinunter.

      „Wag es nicht, mich hier stehen zu lassen! Hast du gehört?“, rief sie ihm hinterher, obwohl sie wissen musste, dass er sie nicht mehr hören konnte, nachdem er die Haustür laut hinter sich zugeknallt hatte.

      Er lief drauf los. Laufen würde ihm helfen, sich zu beruhigen und klare Gedanken zu fassen. Noch nie hatte Anna ihn dermaßen wütend gemacht wie jetzt. Er, der Männer verachtete, die ihre Frauen schlugen, konnte auf einmal nachvollziehen, warum manche Männer sich dazu hinreißen ließen. Sie hatte ihn zur Weißglut gebracht, und er hätte es beinahe getan – ihr eine runtergehauen.

      Die vom Regen gereinigte Luft wirkte auf ihn beruhigend. Wie kitschig doch der Himmel aussieht, dachte er, als er die gleißend orangene Abendsonne sah, die die Wolken rosa färbte. Er lief weiter, ohne sich an den Pfützen zu stören, die sich in den Vertiefungen des abgefahrenen Straßenbelags gebildet hatten. Zu beiden Seiten wurde die schmale Straße von einer moosbewachsenen Mauer gesäumt, aus der purpurrote Spornblumen, Farne und weiß blühender Bärlauch wuchsen. An den sternförmigen Blüten und langen Blättern glitzerten Regentropfen.

      Nach etwa zweihundert Metern machte die Straße eine leichte Rechtskurve, und er sah zu seiner Linken ein Gatter, hinter dem eine Weide lag. Auch wenn er nicht wusste, ob er da hineindurfte, öffnete er das Tor und verriegelte es gleich wieder hinter sich. Und dann sah er die flach abfallende Wiese, übersät mit Tausenden von kleinen, gelben Blumen. Von hier oben bot sich eine überwältigende Aussicht. Dort unten lag der Ärmelkanal, der, grau-blau aufgewühlt, die schroffen Steinklippen der geschwungenen Küste mit seinen weißen Schaumkronen umspülte. Die turmhohen Kliffs aus farbigem Sandstein und grau-schwarzem Granit waren bizarr zerklüftet oder rundgeschliffen und zu Skulpturen geformt wie von gigantischer Künstlerhand. Sein Blick erfasste das Panorama einer sich zu beiden Seiten ausbreitenden grünen Steilküste mit sanften Hügeln im Hinterland. An einem Hang rechts in der Ferne klebte ein weißes Herrenhaus, an dem sich ein Pfad vorbeischlängelte, der sich im satten Grün des dicht bewachsenen Hangs verlor. Das musste wohl der Küstenpfad Südenglands sein, dachte er und schaute nach links rüber. Schafe und Pferde weideten auf den gelblich-grünen Hügeln mit den hohen, windgepeitschten Kiefern. Aus einer der Baumkronen lugte ein rechteckiger Kirchturm hervor. Gleich morgen früh wollte er mit den Notizen für den Reisebericht beginnen und vor allem Fotos machen. Sollte doch Anna der Teufel holen. Zur Not würde er ihr die nächsten Tage einfach aus dem Weg gehen. Aber im Moment wollte er weder an sie noch an ihre Launen denken, sondern nur das Gefühl genießen, das allmählich von ihm Besitz nahm.

      Es war ein Kribbeln, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte und schon als Kind erlebt hatte, wenn er glücklich war. Auf einmal wurde ihm klar, dass er in Annas Gesellschaft noch nie dieses Kribbeln gespürt hatte wie jetzt, ganz alleine, Mitten in dieser friedvoll wirkenden Postkartenlandschaft. Er badete in einem warmen Gefühl von Ruhe und Glück. Es war mächtig und stark, verwandelte sich dann in ein innerliches Kitzeln und entlud sich schließlich in einem plötzlichen Gefühlsausbruch. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die das graublaue Wasser des Ärmelkanals, die Bucht und die Ausläufer der schroffen Steilküste verschwimmen ließen.

      Und dann brach es gänzlich aus ihm heraus. Sein Körper bebte förmlich. Er ging in die Hocke, kniete sich auf das feuchte Gras und begann zu schluchzen wie ein kleiner Junge. Zu lange hatte er sich zurückgehalten und versucht, seine verletzten Gefühle zu ignorieren. Zu lange hatte er sich etwas vorgemacht. Doch jetzt wurde ihm klar, dass sich etwas ändern musste – nein, dass er etwas ändern musste. Er wollte von vorne beginnen. Ohne Anna.

      Anna musste irgendwie aus seinem Leben verschwinden.

      ***

      Seit gefühlten drei Stunden wälzte sie sich im Bett mit der viel zu weichen Matratze herum und überlegte, ob sie nicht eine Schlaftablette nehmen sollte. Und vielleicht auch noch eine Kopfschmerztablette hinterher. Am besten gleich zwei, nachdem sie langsam rasende Kopfschmerzen bekam. Es war wie Migräne,