zu haben. Die aus Europa stammenden Siedler brachen, getrieben von ihrer Sucht nach Reichtum und Landbesitz, mit unglaublicher Brutalität in die nordamerikanische Natur ein und zerstörten innerhalb von 200 Jahren einen ganzen Kontinent. Innerhalb von nur zehn Jahren schlachteten sie 30 Millionen Bisons ab und entzogen den indianischen Jäger- und Sammlergesellschaften abrupt die Lebensgrundlage [15, 6]. Die absurde Natursicht der heimatlosen Europäer in einer Zeit sich entwickelnder naturwissenschaftlich-industrieller Herrschaftsansprüche bahnte ihnen den Weg. Letztlich schlägt die Zerstörung Nordamerikas durch die europäischen Einwanderer auf ihre europäische Heimat zurück. Was soll man angesichts dieses nie aufgearbeiteten Hintergrundes von den dortigen Wissenschaftlern über die Natur lernen? Um dieses Ziel zu erreichen, müsste man schon zu den verbliebenen Indianern gehen. Es gibt eindrucksvolle Überlieferungen über die Sichtweisen der Indianer hinsichtlich der europäischen Gesinnung und Lebensart [6]. Ein Beispiel greife ich heraus, weil es uns in aufrichtiger Weise demonstriert, woran es uns in unserem technisch überorganisierten Leben so sehr mangelt: „Der Lakota-Indianer war ein echter Sohn der Natur, er liebte sie, die Erde und alles, was auf ihr lebte. Diese Zuneigung steigerte sich im Alter. Alte Leute verehrten den Boden geradezu, und in dem Gefühl, einer mütterlichen Macht nahe zu sein, saßen oder lagen sie auf der Erde, so oft sie konnten... Verwandtschaft mit allen Lebewesen der Erde, des Himmels und des Wassers zu fühlen, war ein aufrichtiger und wichtiger Grundsatz im Leben... Der alte Lakota war weise. Er wusste, dass fern von der Natur das Herz des Menschen verhärtet; und er wusste: wer Pflanzen und Tiere nicht achtet, wird auch bald seine Achtung vor den Menschen verlieren. Deshalb sah er darauf, dass die jungen Leute sich dem besänftigenden Einfluss der lebendigen Natur nicht entzogen“ [16].
Auf mysteriöse Weise soll der hoch gelobte Auslandsaufenthalt Wissenschaftler in ihrer persönlichen und fachlichen Entwicklung befördern. Eine Zeitspanne des Rückzuges und der Askese in einer einsamen, komfortlosen Waldhütte würde den nervösen Wissenschaftlern besser bekommen als ein labortechnisch aufgepeppter Auslandsaufenthalt, ihre Sicht weiten, ihre verlorene Sensibilität hervorlocken, ganz sicher ihren charakterlichen Status verbessern und ihr Verhältnis zur Natur und zu ihren Mitmenschen bereinigen. Wohlmöglich schlüge dann die Naturwissenschaft eine andere Richtung ein, wenn ihre Verfechter wieder selbst zur Natur zurückfänden. In diesem Zusammenhang sollte man sich längst vergangener Kulturen entsinnen. Die Anwärter der geistigen Würdenträger unserer keltischen Vorfahren, Druiden genannt und heutzutage gern in Zauberergeschichten entweiht, lebten viele Jahre in entbehrungsreicher Weise im Walde [17], in den heiligen Hainen, bevor sie ihre Aufgaben für die Gemeinschaft übernehmen durften. Man weiß nicht mehr viel davon. Eine solche spartanische innere Einkehr mutet man keinem modernen Wissenschaftler mehr zu, obwohl sie zur Wiedererweckung seiner natürlichen Empfindungen und damit zu seiner Naturerkenntnis einen enormen Beitrag leisten würde. Lassen wir H.A. Pestalozzi zu Wort kommen: „Nur wer spürt, was da im Boden, in den Wurzeln, im Baum drin überall geschieht, also nur, wer die Zwerge spürt, kann Gott spüren, nur wer Zwerge erfährt, sinnlich erfährt, kann Gott erfahren. Oder wem der Begriff Gott nicht passt: Nur wer die Zwerge spürt, kann spüren, dass es da im Baum etwas Unerklärliches gibt, dass es in den Wurzeln etwas Unerklärliches gibt, im Boden etwas Unerklärliches gibt.“ [1] Man muss nicht von Zwergen reden, weil damit gleich wieder Gelächter und Verachtung losbrechen. Doch nur wer das Unerklärliche spürt, zu spüren in der Lage ist, gewinnt Achtung und Demut vor der Natur. „Nur die Seele kann diese Seelen erfassen, den Blütenstaub in der Glückseligkeit der Baumkronen ahnen und die Rufe und das Schweigen vernehmen, darin das göttliche Unbekannte sich vollzieht.“ [18]
Weil mich meine unnütze, stagnierende Situation im neuen Institut als frisch gebackener Postdoktorand sehr aufregte, fand ich nachts nur sehr schwer in den Schlaf und schaute bis weit nach Mitternacht Videokassetten an, die harmlose Märchenfilme spielten, um mich irgendwie zu beruhigen. Die Arbeitsgruppenseminare, in welchen Doktoranden und ausdoktorierte Wissenschaftler Vorträge über den Stand ihrer Arbeiten oder über neueste technische Errungenschaften und Geräteausstattungen hielten, fanden am Abend statt, das heißt zur Feierabendzeit um 17 Uhr, wenn man am Morgen zwischen 8 und 9 Uhr das Institut betrat. Von Begeisterungs- und Konzentrationsfähigkeit spürte man in diesen Veranstaltungen daher bei sich und bei anderen nicht mehr viel. Aber ein Wissenschaftler muss zu jeder Tages- und Nachtzeit funktionieren, geradeso wie die Pflanzen unter ihren auf die Kommastelle vorgeschriebenen, kontrollierten Lebensbedingungen in ihren geschlossenen Wachstumsschränken. Einmal erlaubte ich mir, eine solche Gähnveranstaltung zwanzig Minuten eher zu verlassen, weil sich in mir langsam Unmut ausbreitete, wieso sich den ganzen Tag über niemand um meine Einweisung in die neuen Arbeitsaufgaben kümmerte und ich dann am Abend nicht gehen durfte. Dadurch handelte ich mir am nächsten Tag eine böse Kritik des Arbeitsgruppenleiters ein.
In den üblichen Großraumbüros des Institutes saßen Doktoranden und Nachdoktoranden dicht gedrängt vor ihren Bildschirmen. Auch in den Großraumlabors ging es eng zu. Nach einiger Zeit des Herumvagabundierens eroberte ich aufgrund mehrfachen Drängens endlich einen Schreibtischplatz in einem Dreimannbüro. Nun kehrte etwas Ruhe ein in den unsteten Beginn. Ich hospitierte bei verschiedenen Kollegen und eignete mir einige zusätzliche experimentelle Arbeitsweisen an. Das Schönste an dieser Zeit aber waren die abendlichen Spaziergänge am nahe gelegenen Fluss. Das Institut lag wunderbar im Grünen. Davon blieb allerdings innerhalb der Institutsmauern nicht viel, mit Ausnahme von ein paar Zimmerpflanzen, auch wenn die gesamte Forschungseinrichtung das Wort „Pflanze“ als wesentlichen Teil ihres Namens trug. Das Innere des Gebäudes glich der Ausstattung der Räumlichkeiten meiner Doktorandenzeit: Labore voll getürmt mit kleinen und großen technischen, natürlich strombetriebenen Gerätschaften, Chemikalienflaschen, Dosen und Gläsern; und was gar nicht fehlen darf: Computer über Computer. Selbige bevölkern auch die Büros in Scharen. Ohne sie keine Wissenschaft! 1983 stellte Konrad Lorenz fest, dass der Computer und die Benutzung eines solchen zum wissenschaftlichen Statussymbol geworden sind [12]. Heute, das heißt 30 Jahre später, ist berufsmäßig ausgeübtes wissenschaftliches Arbeiten ohne Computer nicht mehr möglich, von unbezahlter, privater Forschung abgesehen. Kaum ein modernes Messgerät lässt sich ohne Computer steuern. Messdatenauswertungen funktionieren ohne Computer nicht mehr.
In einem unserer Labore stand ein altes Gerät, welches noch für einen Praktikumsversuch eingesetzt werden durfte. Für aktuelle Forschungsaufgaben wurde dieses noch funktionstüchtige System aufgrund seiner veralteten Beschaffenheit nicht mehr benutzt. Was dem betagten Analysengerät nämlich fehlte, um modernen Ansprüchen zu genügen, war ein Steuerungscomputer. Stattdessen gab es Knöpfe, die man mit der Hand drehen musste, um Gasströme und ähnliches einzustellen. Die auf das Klicken von Bildschirmsymbolen degradierte Bedienung moderner Gerätschaften existierte hier nicht. Auch der zum alten Gerät gehörende Praktikumsversuch war anschaulich und praktisch angelegt und umfasste solch klassische Arbeiten wie Einwägen, Lösungsmittelmischen, Destillieren, wobei alle Schritte elektroniklos funktionierten. Mittlerweile ist auch dieser Praktikumsversuch wegen altmodischer Technik abgeschafft worden.
Manchmal wird noch zur Verteidigung der Nützlichkeit der massenhaft eingesetzten Computer eine geglaubte Einsparung von Papier angeführt. Leider habe ich auch in Bezug darauf die Ansicht gewonnen, dass gerade aufgrund des Internets und von computerisierten Auswertungs- und Darstellungsmöglichkeiten auch auf Papierseiten auszudruckende Bilder, Texte, Graphiken und Tabellen ins Unermessliche gestiegen sind. Fast jeder Haushalt verfügt mittlerweile über einen Drucker. Wer druckte vor dem massenhaften Einzug von Computern auch in den privaten Bereich wohl zu Hause auf Papier? Und „gerade Innovationen in der Informationstechnologie sind zum Schrittmacher materieller Expansion geworden. Hardware-Erfordernisse, Energieverbräuche, Elektroschrottgebirge türmen sich zu sagenhafter Höhe auf.“ [14] Lassen wir einen anderen Autor zu Wort kommen, der sich eingehender mit der Angelegenheit auseinandersetzte: „Gut zwei Prozent des globalen Strombedarfs werden allein von den Rechenzentren dieser Welt verbraucht, die nötig sind für Computer, Datennetze, Internetserver und Telefonanlagen. So verursacht beispielsweise die Unterhaltungsindustrie mit ihren neuen Geräten wie Plasmafernsehern und MP3-Spielern einen zunehmenden Energieverbrauch. Das Internet ist ein weiterer Klimakiller, eine einzige Google-Anfrage verbraucht so viel Strom wie eine Elf-Watt-Energiesparlampe pro Stunde. Durch die Internetnutzung entstehen allein in Deutschland vier Millionen Tonnen CO2 jährlich, was zwei bis drei Prozent des gesamten Ausstoßes entspricht.“