Fächern, weshalb ich mich trotz der großen Freude an dieser Aufgabe wieder davon entfernte. Ich hatte die Herbarbelege in nicht immer einwandfreier Form gepresst und geklebt und außerdem in meiner Unerfahrenheit einige, mir noch gänzlich unbekannte Pflanzen falsch bestimmt.
Die Naturbezogenheit eines Biologiestudiums ist an manchen Stellen noch nicht verloren gegangen, besonders im Vergleich dazu, was mir an einer der Universitäten begegnete, wo ich mich in späteren Jahren als wissenschaftlicher Mitarbeiter plagte. Dort gab es einen Studiengang namens „Angewandte Naturwissenschaft“. Nach Abschluss dieses fünfjährigen Diplom- und später Masterstudienganges an unserem Institut als Doktoranden tätige Absolventen kannten kaum bis gar nicht unsere heimischen Bäume, die vor den Universitätsgebäuden wuchsen. Studenten desselben Studienganges, die ich in verschiedenen Praktika und Seminaren betreute, belustigten sich über Studenten eines anderen Studienganges, welche die Stimmen heimischer Vögel lernten. Sie selbst befassten sich dagegen mit ihrer Ansicht nach viel wichtigeren, vertechnisierten Dingen, die man mit Geräten behandelt und wofür man elektrischen Strom benötigt. Vögel und Bäume zählten für sie nicht zur Natur. Derartige technokratische Arroganz gegenüber natürlichen, nicht minder anspruchsvollen Beschäftigungen begegnete mir immer wieder unter sich Naturwissenschaftler nennenden Mitmenschen. Dabei bietet das Erkennenlernen von Vogelstimmen eine wunderbare Möglichkeit, die inmitten des Brummens der elektronischen Geräteschar abgestumpfte Sinneswahrnehmung zu schärfen, was eine der allerersten Aufgaben eines jeden Naturforschers sein sollte. Der Standesdünkel ist auch unter älteren, gesetzteren, promovierten und professorierten, im chemischen und mathematischen Bereich tätigen Wissenschaftlern deutlich ausgeprägt, was sich in vielen entsprechenden Äußerungen, die ich in meinem interdisziplinären Umgang zu hören bekam, insbesondere über Biologen oder Geoökologen, denen nur ein minimaler mathematisch-technischer Sachverstand zugetraut wird, widerspiegelt. Als Beispiel hierzu möchte ich einen Satz aus einem Vortrag eines Professors der Chemie wiedergeben: „Die Biologen machen es sich einfach und geben den Organismen Farbstoffe zu fressen, die sie sich dann unterm Mikroskop anschauen.“ Man muss den Tenor dieser banalen Äußerung kennen, um darüber schmunzeln zu können, der immer lautet: wir Chemiker hingegen messen mit unseren komplizierten Geräten. Oder ein anderer Kollege blies sich auf: „Was die Biologen können, können wir erst recht.“, oder „bei den Biologen läuft alles ein bisschen anders“ usw. So belustigten sich meine Chemikerkollegen mit Vorliebe über alle Nichtchemikerkollegen, mit Ausnahme der Mathematiker und Physiker, und fühlten sich als etwas wesentlich Klügeres und Besseres. Solche kleinen Rangeleien darf man natürlich nicht zu ernst nehmen, wenn nicht eine grundlegende Fehlentwicklung der naturwissenschaftlichen Sichtweise dahinter stecken würde. „Nur die Vertreter der unmittelbar einschlägigen Wissenschaften, etwa Ökologen und Psychiater, bemerken überhaupt, dass etwas faul ist in der Spezies Homo sapiens L., und gerade sie besitzen in der Rangordnung, die von der heutigen öffentlichen Meinung den verschiedenen Wissenschaften zuerkannt wird, nur einen äußerst inferioren Status. Nicht nur die öffentliche Meinung über die Wissenschaft, sondern auch die Meinung innerhalb der Wissenschaften neigt ganz zweifellos dazu, diejenigen für die Wichtigsten zu halten, die es nur vom Standpunkt einer zur Masse degradierten, naturentfremdeten, nur an kommerzielle Werte glaubenden, gefühlsarmen, verhaustierten und der kulturellen Tradition verlustigen Menschheit aus zu sein scheinen.“ [10] Die heutige öffentliche Meinung wie auch die unter den berufsmäßigen Wissenschaftlern selbst dominierende Meinung beurteilt die verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen in einer merkwürdigen Weise, indem sie von jeder einzelnen Wissenschaft umso weniger hält, je höher entwickelt, komplexer und wertvoller ihr Forschungsgegenstand ist [10]. Lassen wir in diesem Kontext noch einmal den großen Naturforscher Konrad Lorenz zu Wort kommen: „Die gebräuchliche Bezeichnung von Physik und Chemie als ´exakte Naturwissenschaften` ist eine Verleumdung aller anderen. Bekannte Aussprüche, wie etwa der, dass jede Naturforschung so weit Wissenschaft sei, als sie Mathematik enthalte, oder dass Wissenschaft darin bestehe, `zu messen, was messbar ist, und messbar zu machen, was nicht messbar ist`, sind erkenntnistheoretisch wie menschlich der größte Unsinn, der je von den Lippen derer kam, die es besser hätten wissen können. Der richtige moderne Operationalist, Reduktionist, Quantifikator und Statistiker blickt mit mitleidiger Verachtung auf jeden der Altmodischen, die glauben, man könne durch Beobachtung und Beschreibung tierischen und menschlichen Verhaltens, ohne Experimente und selbst ohne zu zählen, neue und wesentliche Einblicke in die Natur erlangen.“ [10] Die Ansichten von Konrad Lorenz versöhnen einen zahlen- und messgerätegeplagten Naturfreund wieder ein wenig mit der Idee, die Natur auch auf wissenschaftliche Weise zu betrachten. Was Konrad Lorenz in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kritisierte, zieht sich fortan durch die naturwissenschaftliche Hackordnung, und ich durfte die mitleidigen bis harsch kritisierenden Kommentare meiner reduktionistischen Superstatistiker an eigenem Leibe erfahren. Allerdings gab es etliche Datensätze, die man statistisch auch anders hätte interpretieren können, wenn man für die Daten eine andere Art der Darstellung im Koordinatensystem gewählt hätte. Besonders zu Buche fällt der Einfluss der Bezugsgröße auf die letztendliche Bewertung und Interpretation von Messdatenreihen. Vorgefasste Überzeugungen und Erwartungen bezüglich der Ergebnisse wissenschaftlicher Experimente steuern deren Ausgang. In der medizinischen Forschung ist dieser „Experimentatoreffekt“ allgemein bekannt, weshalb klinische Versuchsreihen oftmals in doppelblindem Aufbau durchgeführt werden. Dabei wissen weder Experimentatoren noch Patienten, wer welche Behandlung erhält. Der Experimentatoreffekt findet in naturwissenschaftlichen Forschungen keinerlei Berücksichtigung [11]. Aber die eifrig messenden und mittels vielfältigster Computerprogramme auswertenden Naturwissenschaftler glauben ganz fest an die unverrückbare Wahrheit ihrer Forschungsergebnisse.
Unter den naturwissenschaftlichen Disziplinen gibt es immerhin den grünen Zweig der Ökologie, in welcher das Zusammenspiel der Lebewesen in ihrem Lebensraum im Mittelpunkt steht. Aber wie sollte es anders sein: auch dort hielt die Computerdominanz längst Einzug und feierte ihren Siegeszug mit klickenden Mäusen und Grafiken produzierenden Auswerteprogrammen, die dem Wissenschaftler die Geheimnisse der Artenvielfalt und der ökologischen Gleichgewichte offenbaren sollen. Ich besuchte einmal einen Promotionsverteidigungsvortrag einer Geografin. Sie hatte sich etwa fünf Jahre lang mit der Bedeutung von Feldhecken in der von der Agrarindustrie zerrammelten Landschaft beschäftigt. In ihrem Vortrag zeigte sie eine Unmenge der erwähnten Grafiken, die sie in unermüdlicher Computerarbeit erstellt hatte. Das Ergebnis hätte ein einigermaßen natürlich empfindender Mensch, der ohne seine Aufmerksamkeit bannende technische Geräte auf einem Feldweg entlangspaziert, vermittels eines einzigen Blickes gefunden: Feldhecken sind schön, nützlich und wichtig.
Auch besitzt die Natur im Umfeld naturwissenschaftlicher Einrichtungen keinen Wert. Naturwissenschaftlich tätige Personen empfinden in der großen Allgemeinheit weder Achtung noch Mitgefühl für eine natürliche Umgebung. Sie stürzen am Morgen in ihre grauen Stahlbetonbunker oder in aus Metall und Kunststoff bestehende Bürocontainer, deren Luftzufuhr über automatische Gebläse an den Außenwänden reguliert wird. Mitarbeiter des universitären Rechenzentrums beschwerten sich über blühendes Gras auf einer Wiese vor ihrem computerbefüllten Gebäude, weil sie befürchteten, umherfliegende Blütenteile könnten ihre Computerbelüftungen beeinträchtigen. Vom Frühjahr bis zum späten Herbst wälzte sich darum eine Armada stinkender, dröhnender Maschinen über die Wiesen vor den Universitätsgebäuden, sobald einige Blütchen begannen, das eintönige Universitätsgelände zu verschönern. Auf den Maschinen hockende oder die Brummstinkmaschinen vor sich her schiebende Personen trugen Gesichtsmasken und große Ohrenklappen, als kämpften sie gegen einen gar giftigen, gefährlichen Feind, der sich in den zarten Grashalmen und Blumen zu verstecken trachtete. Eine meiner späteren, in einem chemischen Institut ansässigen Kolleginnen äußerte ihre Meinung, die Wiese vor dem schrecklichen Betonklotz, worin sich unsere Büros und Labore befanden, sei für die auch in diesem Hause hockenden Biologen zu erhalten. Gute Idee, aber brauchen nicht auch alle anderen Mitmenschen eine bunte Wiese vor ihrem tristen Schreibtisch? Soll die Natur des Universitätsgeländes als Labor für ein paar Spezialisten ein letztes Refugium zugebilligt bekommen? Inmitten von einem Heer Naturwissenschaftler?
Ein herrlicher großer alter Obstgarten neben den hohen grauen Betongebäuden der Universität, der ich in späteren Jahren als wissenschaftliche Mitarbeiterin angehörte, fiel einem scheußlichen Neubau einer Maschinenhalle aus Stahl und Kunststoff zum