Anne-Christine Schmidt

Alptraum Wissenschaft


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aus meinem Antrag geworden war. Immerhin ging es um die Weiterfinanzierung meiner Arbeitsstelle und damit auch um den Fortgang meiner Promotion. Es schien mir, als machte es dem Abteilungsleiter richtig Spaß, mich in meiner Hilflosigkeit zappeln zu sehen. Irgendwann, als mein Arbeitsvertrag sich schon fast seinem Ende zuneigte, erreichte mich eine Meldung, dass es weiterginge mit dem Projekt. Die sich einstellende Erleichterung schaffte es nicht, die über Wochen bis Monate aufgebaute Anspannung aufzulösen, so sehr hatten sich meine Nerven verkrampft. Endlich rückte der auf unbefristetem Posten sitzende Abteilungsleiter mit dem Grund für die lange Dauer der Entscheidung über meinen Fortsetzungsantrag heraus: die Papiere hätten inmitten eines großen Stapels auf dem Schreibtisch eines ebenfalls durch einen unbefristeten Arbeitsvertrag ausgezeichneten Gutachters und wichtigen Verantwortlichen der Projektleitung gelegen und wären ihm dadurch aus den Augen entschwunden. Eine große Enttäuschung befiel mich. Gleichzeitig bemerkte ich zum ersten Mal in meiner berufsmäßigen wissenschaftlichen Tätigkeit, dass man als junger, hochmotivierter und fleißiger Wissenschaftler nicht gebraucht wurde, sondern sich in einem ständigen Kampf ums Weitermachendürfen befindet. Allzu deutlich spürte ich, wie unwichtig man als befristeter Mitarbeiter in den Augen der Vorgesetzten galt, die das große Glück hatten, zu einer Zeit am Forschungszentrum eingestellt worden zu sein, als noch unbefristete Arbeitsverträge ausgestellt worden waren. Mein Pech, zu spät für diesen Luxus geboren worden zu sein, ließ mich in all den späteren Jahren nie mehr los.

      In der ostdeutschen DDR-Vergangenheit gab es im Gegensatz zu heute weder befristet angestellte noch arbeitslose Naturwissenschaftler, deren fundierte Ausbildung nicht gebraucht wurde. Zur Sicherung sowohl einer soliden Studentenbetreuung als auch eines kontinuierlichen Forschungsfortganges gab es den sogenannten akademischen Mittelbau. Dieser setzte sich aus promovierten Wissenschaftlern zusammen, die keine Professur innehatten, aber einer solchen zugeordnet waren. Nach der Wiedervereinigung fiel dieser Berufsstand nach und nach komplett weg, während die jahrelange Ausbildung dafür bestehen blieb. Hinsichtlich der Aufnahme eines Hochschulstudiums existierte in der DDR eine wesentlich strengere Auswahl geeigneter Kandidaten, wodurch von vornherein weniger Personen in eine Wissenschaftlerlaufbahn eintraten. Dagegen quillt aus dem heute vorherrschenden Massenbetrieb an den Universitäten eine alljährliche Absolventenschwemme mit ausnivelliertem Notendurchschnitt hervor. Die letzten unbefristeten Wissenschaftleranstellungen an staatlichen Einrichtungen erfolgten in den ersten Nachwendejahren. In jener Zeit waren allerdings auch sehr viele wissenschaftliche Mitarbeiter aus ihren DDR-Arbeitsverhältnissen gekündigt und in die Arbeitslosigkeit entlassen worden.

      Während meiner im Verhältnis zu den später folgenden Erlebnissen als promovierter Wissenschaftler als beinahe rosig einzuschätzenden Promotionszeit erlebte ich auch bereits den ersten großen Einbruch meiner naturwissenschaftlichen Arbeitsmotivation. Ein zweiwöchiger Sommerurlaub im einsamen Hochschwarzwald hatte mich unverhofft in die mystischen Erlebnisse meiner Jugendzeit zurückversetzt. Wochenlang fand ich nicht in die gerätebesetzte Arbeitswelt zurück. Ich schleppte mich durch Flure und Labore. Meine Seele war auf den spätsommerlichen Hochflächen des Gebirges zurück geblieben. Sie folgte mir nicht an die Computer und Geräte. Dort brauchte ich sie auch nicht, wohl aber zum Leben. Plötzlich schlichen sich seltsame Angstgefühle in meinen Alltag ein, die ich zuvor als Schüler und Student nie gekannt hatte. Auf dem Heimweg von der Arbeit im Forschungszentrum zitterte ich so stark, dass ich mein Fahrrad schieben musste. Regelmäßige, beinahe täglich auftretende, von starkem Zittern begleitete Schwindelanfälle hinderten mich fortan am Autofahren.

      Als sich meine Promotionszeit ihrem Ende neigte und ich nach neuen, verheißungsvollen Ufern Ausschau hielt, glaubte ich, die wissenschaftliche Welt würde überall in einer gewissen Ordnung ruhen. Auch die anderen Abteilungen im Forschungszentrum, in denen ich während meiner Doktorandenzeit zwecks fachlicher Zusammenarbeit und Gerätenutzung oft verweilte, vermittelten eine ähnliche gesunde Harmonie, weshalb man auch nicht schlussfolgern kann, dass die aus heutiger Sicht so hoch geschätzte Arbeitsatmosphäre eine glückliche Ausnahme im Heimatinstitut meiner Diplom- und Promotionszeit darstellte. Da ich auch als Studentin, wie zuvor schon erwähnt, als Hilfskraft im Physikalisch-chemischen Institut eine ähnlich warme, beinahe herzliche Umgebung erlebte, wage ich die Behauptung aufzustellen, dass es einen direkten Zusammenhang gibt, der zum Einen in einer Generationenfrage und zum Anderen in einer Herkunftsfrage gründet. Natürlich gab und gibt es Ausnahmen davon, positive wie meinen herzensguten, stillen Botanikprofessor oder eine hilfsbereite Nachwuchsgruppenleiterin aus meiner Postdoktorandenphase, welche sich aus weiter westlich gelegenen Gefilden in eine sächsische Großstadt verirrten, aber auch negative, wie den aus einer ostdeutschen Großstadt entstammenden Initiator meiner Habilitation und einige seiner Untergebenen. Ich gewinne auch immer mehr den Eindruck, dass das Herkunftskriterium mehr und mehr verwischt, weil die Jüngeren in die verdorbene Atmosphäre hineinwachsen, wodurch allein das Generationenkriterium aufrechtzuerhalten ist. Erst kürzlich klagte einer meiner gleichaltrigen Leidensgenossen über den Verlust der älteren Generation von Wissenschaftlern, vor denen man noch Respekt und Achtung empfand, und mit denen man einen menschlichen Umgang pflegen durfte. Ich selbst hatte das große Glück, eine ganze Reihe dieser älteren Wissenschaftler als Hochschullehrer während meines Studiums und als Betreuer während meiner Promotion erlebt haben zu dürfen. Mein soeben erwähnter gleichaltriger Kollege äußerte sich im persönlichen Gespräch ganz emotionell: „Die meisten der heutigen Professoren sind menschliche Totalversager und Sozialkrüppel.“ Diese Einschätzung, der ich aus erschreckender eigener Erfahrung nicht widersprechen konnte, wirft die Frage auf, wieso und warum die Schere zwischen fachlicher Eignung und menschlichen Qualitäten so weit auseinander klafft. Es liegt sehr nahe, einen Zusammenhang zu ziehen zur inhaltlichen Entwicklung der Naturwissenschaften. Der zwischenmenschliche Umgang in den naturwissenschaftlichen Instituten spiegelt die wissenschaftliche Methodik und ihre gnadenlose Respektlosigkeit vor der Natur und allem Lebendigen wider. „Wie wir mit der Mitwelt umgehen, so auch mit den Mitmenschen; es hat alles seine Logik.“ [5] „Am Ort der Zerstörung der inneren Natur des Menschen ist zugleich der Ursprung auch für die Verwüstung der äußeren Natur zu bemerken.“ [6] „Umweltvernichtung und `Dekadenz` der Kultur gehen Hand in Hand.“ [12] Und so spiegeln die sozialen Strukturen im Inneren der naturwissenschaftlichen Maschinerie die durch sie bedingte Zerstörung und Ignoranz im Äußeren, der „Um“-Welt, wieder. Außerdem bleibt in diesem Zusammenhang nach wie vor auffällig, dass alle Positionen emeritierter Professoren an den Chemischen und Biologischen Fakultäten der drei ostdeutschen Universitäten, an denen ich als Student oder Mitarbeiter wirkte, ausnahmslos von jüngeren Professoren westlicher Herkunft besetzt worden sind. Mittlerweile sind alle älteren Professoren im Ruhestand gelandet, weshalb die mir bekannte Zahl westdeutscher Nachfolger groß ist. Nun gibt es die liebenswürdigsten, offensten und zugänglichsten Mitmenschen in den westlichen Teilen Deutschlands und ich durfte etliche von ihnen dort kennen lernen und Freundschaften mit ihnen schließen. Findet also im Zuge der Wanderungsbewegung gen Osten eine ominöse, sich im Verhalten niederschlagende Selektion statt? Aus den westlichen Teilen Deutschlands stammende Professoren, welche die Lehrstühle im Osten besetzten, trugen eine uns Ostdeutschen fremdartige Mentalität in die Institute herein, als deren herausstechendste Merkmale häufig eine ungewohnte Unnahbarkeit und eine vorgespielte Exklusivität zu nennen wären. Es gab, wie bereits erwähnt, Ausnahmen davon, ebenso umgekehrt; das heißt, es gab selbstverständlich auch Professoren und andere Kollegen ostdeutscher Herkunft, mit denen sich der tägliche Umgang schwierig gestaltete. Gegenüber den ausschließlich aus ostdeutschen Wissenschaftlern und Technikern zusammengesetzten Arbeitsgruppen, von deren Art während meiner Studentenzeit wie auch zu Beginn meiner wissenschaftlichen Berufslaufbahn noch Restbestände existierten, zerstörten die westdeutschen Kollegen, insbesondere die Professoren und Arbeitsgruppenleiter, und die von ihnen importierten Arbeitsstrukturen in erster Linie den Zusammenhalt, die Lockerheit und die offene Diskussionsbereitschaft zwischen den Kollegen. Weiterhin beobachtete ich einen Einbruch des Mitgefühls, der Kameradschaft und des Humors zugunsten von Selbstdarstellung, Konkurrenzgebahren und einem ausgeprägten, oftmals hintergrundlosen „Wichtigtuen“. Individualistisches Konkurrenzstreben schlug fortan den Takt der immer eintöniger werdenden Institutsmelodien. Hinzu gesellte sich der Umstand, dass bald die Kurzzeitbefristungen der Arbeitsverträge in den Wissenschaftsbetrieb Einzug hielten, was die Konkurrenzsituation weiter verschärfte und letzte Funken von Solidarität und Zusammenhalt in der erkalteten Asche der DDR-Vergangenheit erstickte.