Anne-Christine Schmidt

Alptraum Wissenschaft


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hier gehen sollte? Natürlich gab es die schon bekannten Phytokammern, um die „kontrollierten Wachstumsbedingungen“ zu gewährleisten. In diesen abgeschlossenen, abgedichteten Schränken kümmerten ein paar Pflänzlein dahin – winzige Exemplare auf sterilen Lösungen. Wenn man sehnsüchtig aus dem Fenster schaute, erblickte man das viele Grün der Büsche und Bäume. Doch niemand ging nach draußen, um etwas davon herein zu holen. Man hatte sich wieder einmal abgeschirmt von der Natur. Draußen herrschten ja der Wissenschaft feindlich gesinnte, weil unkontrollierte Bedingungen. Und die Molekularbiologie war angetreten, alle Lebewesen auf ihre chemischen Minimalbausteine zu zerpflücken und zu beschränken. Nukleinsäuren, Proteine, Fette, Kohlenhydrate und das Heer der sekundären Pflanzeninhaltsstoffe erkennt man nur mit Hilfe stromverbrauchender Laborgerätschaften und nach Behandlung mit einer Herde zumeist umweltschädigender Chemikalien.

      Zur Beendigung meiner Probezeit, die ein halbes Jahr währen sollte und in der ich meine Eignung für das ungrüne Institut im Grünen unter Beweis stellen sollte, fehlte noch knapp ein Monat, als plötzlich eine große Unruhe ausbrach. Eine Abteilungsversammlung wurde einberufen. Was war geschehen? Auf dem Hauptbahnhof der Stadt war eine Drogenhändlerbande aufgeflogen. Der wissenschaftliche Leiter des Projektes, auf welchem ich und ein weiterer Mitarbeiter eingestellt waren, war auf irgendeine Weise in die Drogengeschäfte involviert. Es hieß damals, dass er diese Bande mit eigenständig hergestellten Drogen beliefert hatte. Obwohl er eigentlich mein unmittelbarer Vorgesetzter war, hatte ich diesen Kollegen nur ein einziges Mal in der Mensa vorgestellt bekommen. Von meinen übrigen Kollegen wurde er als Fachmann für Bioinformatik, einen besonders computerabhängigen Wissenschaftszweig, hoch gelobt. Auf mich machte dieser vielleicht 45-jährige Mann einen sehr zurückhaltenden, desinteressierten bis verwirrten Eindruck. Ein Gespräch mit mir kam nie zu Stande, obwohl wir auf demselben Forschungsprojekt arbeiteten. Einmal begegnete er mir mit dem Fahrrad in der Stadt, wobei er mit verschwommenem, geistesabwesendem Blick direkt an mir vorüber fuhr, ohne meinen Gruß zu erwidern. Über diese Begegnung wunderte ich mich damals sehr. Im Nachhinein brauchte man sich nicht mehr zu wundern. Die überschwengliche Charakterisierung des kurz darauf wegen eines Drogendeliktes Angeklagten durch Mitarbeiter unserem Institut benachbarter Einrichtungen in der Mitteldeutschen Zeitung vom 24.10.2003 „als hochqualifiziertes, beliebtes und hilfsbereites Multitalent“ [20] bleibt mir unbegreiflich. Gegenüber seinen unmittelbaren Projektmitarbeitern entfaltete er keine der genannten Eigenschaften. Im Einfamilienhaus des gepriesenen Wissenschaftlerkollegen hob die Polizei ein komplett ausgestattetes Drogenlabor aus. Laut einem Zeitungsbericht soll das gesamte Haus sowie die Gartenlaube mit unterschiedlichen Chemikalien zugestellt gewesen sein. Es wurde gemunkelt, dass diese Chemikalien wie auch Laborutensilien und Messgeräte zur Prüfung von Zusammensetzung und Reinheit der synthetisierten Drogen zum Teil aus unserem Institut stammten. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), welches das Forschungsprojekt finanzierte, auf dem besagter Drogenhersteller, ein Informatiker und ich eingestellt waren, zog sofort seine Mittelzuwendung an das Institut zurück. Damit war die finanzielle Grundlage meines Beschäftigungsverhältnisses entzogen, denn meine projektfinanzierte Aufgabe wäre es gewesen, die Messdaten für die computergestützten Auswertungen der beiden Informatiker zu produzieren. Die drittmittelbezogene Anstellung am Institut machte es möglich bzw. sogar erforderlich, meinen Arbeitsvertrag trotz meiner vollkommenen Nichtbeteiligung am kriminellen Geschehen zu kündigen. Da meine arbeitsvertraglich geregelte Probezeit noch nicht beendet war, musste das Institut nicht nach anderen Geldquellen für die Sicherung meines Arbeitsplatzes suchen, sondern befand sich in der glücklichen Lage, mich ohne Angabe von Gründen entlassen zu dürfen. Mein Vorsprechen beim administrativen Leiter der Forschungseinrichtung endete mit einer Schimpfsalve, die er über mich ergoss: „Dem Institut ist ein hoher finanzieller Schaden geschehen!“ Wie ich mir da zu erlauben wagte, mich über meinen Rausschmiss zu beschweren! Der Personalrat half mir auch nicht und vermutete, dass auch Wissenschaftler aus anderen, benachbarten Instituten in die berauschenden Drogengeschäfte verwickelt seien. Ich erfuhr nie, ob dies stimmte oder bloß einem aufgescheuchten Buschfunk entstammte. An die Öffentlichkeit gelangte jedenfalls nichts Weiteres. So musste ich mich fügen und akzeptieren, dass meine ganze fünfmonatige, mühsam erkämpfte Einarbeitung in verschiedenste Techniken und Gerätebedienungen umsonst gewesen war. Obwohl ich mich freiwillig über mehrere Wochen in eine weitere bioanalytische Technik in Kombination mit einer komplizierten, unendliche Optionen bietenden Auswertesoftware eingearbeitet hatte, wurde mir keine Möglichkeit einer Weiterbeschäftigung angeboten. Projektgelder weg, alles weg. Wenigstens schrieb mir der Institutsleiter eine sehr gute Beurteilung ins Arbeitszeugnis und erklärte schriftlich meine unverschuldete Entlassung. Viele Kollegen schimpften und stellten sich auf meine Seite. Eine Laborantin schlug vor, dass ich mich an die Öffentlichkeit wenden sollte, zum Beispiel an die Bildzeitung. Ich fühlte mich aber so verraten und erschlagen, dass ich keine Kraft dafür aufbringen konnte. Also meldete ich mich arbeitslos. Wochenlang kämpfte ich mit Übelkeit und Magenschmerzen. Nicht einmal Sommerurlaub hatte ich aufgrund der Probezeit genehmigt bekommen, und jetzt im November sollte ich noch den gesamten Halbjahresurlaub verbrauchen. Im Dezember befand ich mich im institutslosen Leerlauf, aber nicht im aktivitätslosen. Selbstverständlich und stets dienstbereit nutzte ich die Zeit, um „auf mein Profil passende“ Stellenangebote zu suchen. Aufgrund einer abgeschickten Bewerbung wurde ich in ein außeruniversitäres Forschungsinstitut zum Bewerbungsgespräch mit anschließendem Vortrag eingeladen. Der Arbeitsgruppenleiter erwartete mich in der großen Eingangshalle des modernistischen Stahl-Glas-Gebäudes. In diesem weitläufigen Raum herrschte eine ungeheuerliche Unruhe: viele Leute stürzten scheinbar kopflos hin und her; an einem Empfangsstand durfte man inmitten des tiefsten Sachsenlandes nur auf Englisch seine Fragen vortragen. Überhaupt dominierte das Englische als Institutssprache. Ich fragte mich, wie angesichts des grellen, lauten, hektischen Treibens ein konzentriertes wissenschaftliches Arbeiten in diesem Hause möglich sein konnte. Der bereits genannte Arbeitsgruppenleiter, in dessen Bereich die wiederum auf ein Jahr befristete Postdocstelle ausgeschrieben war und über den eine Kollegin aus dem ungrünen Pflanzeninstitut wegen seiner fachlichen Genialität schwärmte, erzählte mir in wenigen, knappen, englischen Sätzen mit wichtiger, aber eingefrorener Miene, welch anregende Atmosphäre in diesem Hause herrsche. Den ganzen Tag über verzog er sein erstarrtes Gesicht nicht ein einziges Mal zu einem Lächeln. Später offenbarte mir im Labor seine stark geschminkte Frau mit ebenfalls hoch bedeutsamem, aber schmunzellosem Mienenspiel, dass hier alle Mitarbeiter „Fighters“ (zu deutsch Kämpfer) seien, weil sie unablässig um ihre Messergebnisse kämpfen und sie dann vor jedem verteidigen. Zum Schluss sah sie mich mitleidig an, wohl ahnend, dass ich kein Kämpfertyp bin. Mit einem der zur Arbeitsgruppe gehörenden Doktoranden begab ich mich zum Mittagessen in die ebenso laute, unruhige Kantine. Dabei äußerte sich der junge Mann nicht gerade wohlwollend über die anderen Doktoranden der Arbeitsgruppe, die seiner Ansicht nach keine Ahnung hätten, aber trotzdem auch mal gern etwas sagen würden. Um mich von der eigenartigen Atmosphäre in diesem Institut zu erholen, brauchte ich im Anschluss einen zweistündigen Spaziergang durch einen nahe gelegenen Schlosspark. Einen ganz ähnlichen Eindruck von einer Forschungsgruppe und besonders von ihrem Leiter gewann ich in einer anderen Forschungseinrichtung, wo ich ebenfalls zu einem Bewerbungsgespräch erscheinen durfte. In diesem Fall handelte es sich um eine auf zwei Jahre befristete postdoktorale Anstellung. Dem ebenfalls relativ jungen Arbeitsgruppenleiter mangelte es an jeglichem Humor. Dafür hob er umso mehr seine Bedeutsamkeit und seine Verdienste bezüglich des Einwerbens von Finanzmitteln hervor. Als Mitarbeiter einstellen wollte mich keiner der beiden wichtigen Wissenschaftsleuchttürme. Schließlich nahm ich Kontakt zu einem jungen Professor auf, welcher kürzlich an meine Herkunftsuniversität, wo ich studiert hatte, neu berufen worden war. Gegen Ende meiner Promotionszeit hatte ich ihn schon einmal besucht, weil mich seine fachliche Ausrichtung interessierte. Zwar war mir dieser aus westlicher Himmelsrichtung einmarschierte Professor von der ersten Minute an unsympathisch gewesen, aber für einen Wissenschaftler wie mich zählte nur das objektive Lehr- und Forschungsgebiet, was er vertrat. Gefühle und subjektive Empfindungen hatten in der Arbeitswelt nichts zu suchen; so meinte ich damals angesichts des allgegenwärtigen Druckes, bloß nicht in die Arbeitslosigkeit zu schlittern. In innerbetrieblichen Organisationsstrukturen gelten Gefühle als wichtigster Störfaktor und sind zu beseitigen [1].

      Der neu berufene Professor befasste sich mit einem Fachgebiet, das geradezu ideal auf meine Ausbildung und Berufserfahrung passte. Kenntnisse aus dem Biologiestudium,