Renate Stadlmaier

Heinrich die Suche


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Sie ist blöd!“

      „ Sie ist deine Schwester.“

      „ Sie hört nie auf mich.“

      „ Deshalb darfst du sie nicht schlagen.“

      „ Warum wollt ihr immer, dass ich auf sie aufpasse? Sie tut ja doch, was sie will.“

      „ Das stimmt, sie ist ziemlich stur. Das hat sie von mir. Doch sie ist auch so zart wie ein kleines Rehkitz. Trotzdem, du bist der Ältere und du musst lernen, dich durchzusetzen.“

       Sein Vater war ein großer, breitschultriger Mann mit strohblonden Haaren, die sich vorne schon leicht zu lichten begannen. Die spitze Nase und das Kinn hatte Conrad von ihm geerbt. Er war modisch gekleidet wie Bertram, hielt sich aber an schlichtere Farben. Heinrich schaute seinen Sohn verständnisvoll an.

      Conrad senkte den Blick.

      „Warum dürfen wir eigentlich dort nicht spielen? Wir tun doch gar nichts Böses.“

      „ Weil der Graf Kindergeschrei nicht ausstehen kann. Sei froh, dass es Bertram war, der euch erwischt hat.“

      „Pah! Bertram, dieser aufgeblasene Pfau! Ich kann ihn nicht leiden. Er hat sich über mich lustig gemacht. Was weiß der schon über kleine Schwestern. Und der Graf? Bertram ist sein Sohn und war ein Kind. Den musste er ja auch großziehen. Hat Bertram denn nie gespielt?“

      Heinrichs Gesichtszüge verhärteten sich.

      „ Bertram durfte nie so ausgelassen sein wie ihr, und großgezogen habe ich ihn. In deinem Alter musste der Junge viel lernen. Wo wir gerade beim Lernen sind - hast du heute schon Lesen und Schreiben geübt?“, versuchte Heinrich das Thema zu wechseln und zog Conrad sanft am Ohr.

      „ Ja, ja.“

      Conrad schüttelte die Hand seines Vaters ab und bohrte weiter.

      „ Wieso hast du ihn großgezogen?“

      „ Du weißt doch, wie wichtig es ist, Lesen, Schreiben und Rechnen zu können?“

      Conrad ließ nicht locker.

      „ Bitte, Vater, erzähl mir alles.“ bettelte der Junge.

      Heinrich seufzte. Unzählige Male schon wollte Conrad diesen Teil aus seinem Vaters Leben erfahren, doch der konnte sich immer geschickt herauswinden. Diesmal bohrte der Junge hartnäckig weiter. Obwohl es ihm sichtlich schwer fiel, gab Heinrich dem Drängen seines Sohnes nach.

      „Schon gut, ich erzähle es dir ja.

      Sie setzten sich beide im äußeren Burghof auf eine schmale Holzbank, die im Schatten der hohen Mauern des inneren Burghofes stand. Heinrich lehnte sich gegen das kühle, raue Mauerwerk, hielt kurz inne und starrte ins Leere. Hinter seinem geistigen Auge schien der Film seines bisherigen Lebens in nur wenigen Sekunden abzulaufen.

       HEINRICH

      Es war der erste Sonntag im Oktober 1232, als Luise Schwab sich hochschwanger auf den Weg in den Wald machte, um Pilze zu sammeln. Die vergangenen Wochen waren feuchtwarm gewesen und die schmackhaften Gewächse schossen regelrecht aus den Waldböden. Ihr Mann war bereits aus dem Haus, auf dem Weg zu ihrem Nachbarn um den gemeinsamen Pflug auszubessern.

       Luise und Lupold Schwab waren arme Bauern, die das Land für das Stift bestellten. Mit dem kleinen Hof konnte man durchaus eine kleine Familie ausreichend ernähren, doch Lupold war kein begnadeter Bauer und nach der letzten, kargen Ernte blieb nicht genug übrig, um die beiden mit einem Neugeborenen über den Winter zu bringen. Luise versuchte deshalb mit Waldfrüchten, Wurzeln und Pilzen den Speiseplan etwas aufzubessern.

      Sie kannte gute Ernteplätze und um diese zu erreichen, musste sie eine kurze Strecke den Berg hoch wandern. Der Aufstieg fiel der schwangeren Frau trotz ihrer Jugend schwer. Luise begann zu schwitzen und lockerte den Schal den sie sich um die Schultern geschlungen hatte. Leicht schnaufend begann sie trotz allem gut gelaunt ein Lied zu summen. Luise liebte den frischen Waldgeruch, den Duft der Bäume und der feuchten Erde. Die Sonne sandte ihre Strahlen durch das herbstlich bunte Blätterdach und wärmte mit ihrer letzten Kraft die kühle Morgenluft. Die junge Frau schritt munter dahin, schwang in ihrer linken Hand den Sammelkorb und legte die Rechte auf ihren prallen Bauch, um die sanften Bewegungen ihres Kindes zu fühlen.

      Der Waldboden war übersät mit Pilzen und Luise musste sich immer wieder bücken, um das Überangebot der Natur einzusammeln.

      Anfangs beachtete sie die Schmerzen im Rücken nicht und schob sie in Gedanken auf die gebückte Haltung beim Sammeln. Doch eine Zeit lang später zog sich der Schmerz bis in den unteren Rücken und wurde stärker. Erst als ein heftiger Schmerz im Unterbauch sie zusammenfahren ließ, wurde sie aufmerksam.

      „Das Kind kommt“, dachte sie erschrocken.

      Sie richtete sich auf und sah sich um. Luise war beim Ernten der Pilze weit vom Weg abgekommen und versuchte, sich zu orientieren. Mit großen Schritten stieg sie über das trockene Gehölz. Nach wenigen Minuten hatte sie den Waldweg wieder erreicht, als eine heftige Wehe sie nochmals erzittern ließ. Luise krümmte sich vor Schmerz und im selben Augenblick spürte sie die warme Flüssigkeit über die Innenseite ihrer Beine fließen. Zuerst war es ihr nicht klar, aber in der nächsten Sekunde begriff sie, dass ihre Fruchtblase geplatzt war.

      Oh, nein bitte nicht, flehte sie im stummen, nicht jetzt, liebe Mutter Gottes steh mir bei.

      Sie presste die Hand zwischen die Beine und kreuzte die Knie, als könne sie damit den Geburtsverlauf aufhalten. Da fuhr der nächste Krampf durch ihren Bauch, lähmte ihre Glieder und drückte ihr Tränen in die Augen. Sie fiel auf die Knie und ließ den Korb fallen. Die mühsam gesammelten Pilze kullerten über die ganze Breite des Waldweges. Luise atmete heftig, sodass der Schmerz für kurze Zeit verschwand. Mühsam stemmte sie sich hoch und wankte mit gekrümmtem Oberkörper den Weg hinunter. Bei jedem Schritt spürte sie wie das Kind gegen ihre Schoß drängte. Luise wusste von einigen Frauen, das der Geburtsvorgang beim ersten Kind oft viele, schmerzvolle Stunden lang andauern konnte, doch dieses Kind, ihr Kind, kam schnell. Viel zu schnell.

      Die nächste Wehe war heftig und warf sie regelrecht um. Auf allen Vieren kauernd, atmete sie stoßweise ein und aus. Luise spürte, dass es nun soweit war. Sie kämpfte sich in die Hocke, raffte ihre Röcke und fing an zu pressen. Mit den Händen griff sie zwischen ihre Beine und spürte wie der Kopf des Kindes sich bei jeder Presswehe aus ihr hinaus quetschte. Es folgten die Schultern und mit einem Schwall der restliche kleine Körper. Luise fing das Baby auf, zog es hoch und fiel im selben Augenblick nach hinten um. Erschöpft blieb sie, mit dem Kind auf dem Bauch, liegen. Sie spürte, wie der Schmerz sich auflöste und ihr ganzer Körper sich entspannte. Für einen kurzen Moment schloss sie die Augen und sammelte sich. Dann zog sie das Neugeborene hoch, biss die Nabelschnur durch und säuberte mit ihrem Schal die winzig Nase und den Mund. Gleich darauf vernahm sie als glücklichster Mensch dieser Erde, den ersten Schrei ihres Sohnes.

      Luise lag mit offenen Augen da, das Kind an sich gedrückt und starrte in den Himmel. Sie war müde und ausgelaugt, doch dank ihrer jungen Jahre kehrte ihre Kraft bald wieder zurück. Sie wickelte das Kind in ihren Schal und rappelte sich hoch. Einen kurzen Moment drehte sich die Welt und Luise taumelte zwei Schritte vorwärts. Sie hielt das Kind fest im Arm und sog die frische Waldluft tief in ihre Lungen. Der Schwindel verging schnell. Auf leicht wackeligen Beinen machte sie sich auf den Heimweg. Luise bemühte sich nicht die Spuren der Geburt zu beseitigen, aber sie ging nicht, ohne vorher noch ein paar der verstreuten Pilze aufzusammeln.

      Nach einer halben Stunde erreichte sie den heimischen Hof. Sie wusch sich und das Kind, wickelte es in saubere Tücher und fiel dann vollkommen erschöpft auf ihr Lager. Ihren neugeborenen Sohn legte sie sich an die Brust und der kleine Mann begann sofort schmatzend und glucksend zu saugen. Dann schlief Luise ein.

      Als Lupold spät am Abend nach Hause kam, fand er, zu seiner großen Überraschung, eine friedlich schlummernde kleine Familie vor.

      Lupold und Luise nannten ihren Sohn,