Gerhard Schumacher

Die Glückseligen


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ich mich ausgesprochen wohl mit ihr fühlte und überdies keine Lust hätte, überhaupt etwas zu bekämpfen und eben deshalb guten Mutes war. Nach einigem überflüssigen Wortgewechsel trennten wir uns durch einseitiges Auflegen des Hörers.

      Es wurde wieder still um mich. Keine Standuhr ließ das Pendel schwingen, noch kauzte ein Käuzchen aus nahem Tann. Lediglich die Toilettenspülung speditierte obszön rauschig die Notdurft des Obernachbarn in die Katakomben der Kanalisation. Es ist schon erstaunlich, was diese Familie über mir so an Mengen aus ihren Körpern scheidet. Alle paar Minuten muss die Klospülung arbeiten, man mag es sich nicht vorstellen, was da abgeht. Irgendwie muss das Zeug, das da durch die Rohre rauscht, auch einmal, zugegeben, in verändertem Aggregatzustand, in die Leiber der Ausscheidenden hineingestopft werden. Das müssen unglaubliche Mengen sein.

      Es klopfte kurzzeitig im Gebälk, oder war´s ein Biber beim Dammbau? Zu spät, zu spät, mein breitschwanziger Freund, der Zeiger der Uhr rundet unerbittlich den Kreis, und nachts ist dem Dammbau kein gutes Gelingen geweissagt. Irgendwo ein Husten, stöhniges Gekrächze. Dann erneute Stille.

      Erotisch tut sich in diesem Haus rein gar nichts. Zumindest nichts Hörbares. Vielleicht in den oberen Stockwerken, ich weiß es nicht, höre nicht, kann es nicht hören. Andererseits laufen eine nicht geringe Zahl Kinder durch Flur und Treppenhaus. Die können doch nicht alle adoptiert oder im Wald gezeugt sein. Na bitte. Außerdem kann man ja wohl davon ausgehen, dass auf ein gezeugtes Kind eine Vielzahl nicht gezeugter, irgendwie verhüteter oder gar nicht erst geplanter Kinder kommt. Diese Versuche, so schwiemelig sie auch immer sein mögen, müssen sich doch bemerkbar machen, zumindest hörbar. Aber nichts, einsame Stille in sexueller Hinsicht breitet sich Tag für Tag und Nacht für Nacht aus. Seltsam, dieses Haus. Nun gut, bei einigen Nachbarn kann ich nach äußerlicher Beschau schon verstehen, wenn sie mit diesem Thema ein für alle Mal abgeschlossen haben. Aber die jungen Hüpfer, die müssten doch hüpfen, was das Zeug hält und die Kondition hergibt. Tun sie bloß nicht. Jedenfalls nicht hier und jetzt und überhaupt. Verlotterte Jugend kommt nicht mal der ihr von der Natur zugewiesenen Aufgabe nach. Doch ich schweife ab.

      Aber der Urschwager meldet sich noch immer nicht. Obwohl meine Gedankengänge sich ausgezeichnet in sein bevorzugtes Dauerthema einordnen. Und nach dem erneuten Niedergang bei Kathrin oder Muschi, wie auch immer, dürfte der Verbalsexualismus erfahrungsgemäß bei ihm wieder auf einem berauschenden Höhepunkt, angelangt sein, einem mentalen Dauerorgasmus sondergleichen.

      Da fällt mir ein, dass der neue Fotograf, Pardon es handelt sich um eine Fotografin, an der Ecke zur Hauptstraße bis Ende des Monats mit verschiedenen Sonderangeboten lockt, neben langweiligen Passfoto-Offerten und Baby-auf-Bärenfell Stumpfsinn verheißen sie unter anderem auch zehn Prozent Preisnachlass, so man eine Erotikserie in Auftrag gibt. Wobei mir allerdings verschiedene Dinge unklar bleiben. Zum Beispiel, von welchem Preis eigentlich die zehn Prozent Rabatt ausgehen und, vor allen Dingen, wie ist das mit der Erotik gemeint? Muss man da die Partnerin mitbringen, oder wird die gestellt? Oder soll man etwa selbst, oder mit der Fotografin (natürlich dann nur mit Selbstauslöser, ist ja anders gar nicht möglich), oder wie ist das alles zu verstehen? Sicher ist nur, dass Schwager Landmann diese Fragen brennend interessierten. Dennoch, trotz ungeheurer telepathischer Anstrengungen meinerseits: er ruft nicht an, nicht ums Verrecken, der Geizhals.

      Außerdem plagt mich seit Wochen ein Traum, der fast jede Nacht ganz arg mich drangsaliert. Darin sitze ich in einer Klasse von vielleicht fünfzig Mitschülern, ja ich habe sie nicht gezählt, aber diese Zahl wird´s schon gewesen sein, mindestens, und ein mir recht unsympathischer Professor verteilt die Blätter für eine wichtige, wahrscheinlich die wichtigste Klausur überhaupt. Es handelt sich um Blätter, die jeweils mit einem der fünf Kontinente bedruckt sind, allerdings nur in den Umrissen, ohne Ländergrenzen, Städte- oder Flüssenamen. In den dazu gehörenden Aufgaben muss man eine bestimmte Strecke zwischen zwei festgelegten Punkten eintragen und zusätzlich die Anzahl der Kilometer auf 10 Prozent genau (schon wieder die geheimnisvolle Prozentzahl) angeben. Jeder hat fünf Aufgaben zu bewältigen. Die Erste kann ich noch bravourös meistern: von Berlin-Steglitz nach Ratzeburg über die Ausfahrt Zarrenthin. Kinderspiel, einzeichnen ungefähr, Entfernung 260 km, übern Daumen.

      Aber dann kommt´s wirklich dicke. Von Paris über Neapel nach Berlin-Papestraße ist die für mich unlösbare Aufgabe. Und Timbuktu - Bad Reichenhall ohne Umweg über Grainau. Liegen die Orte überhaupt auf einem Kontinent? Oder Tananarive – Saigon und zurück über Singapur nach Lübeck-Moisling. Vergiss es.

      Zum Glück wache ich an dieser Stelle immer auf und rette mich so aus größerem Desaster. Allerdings weiß ich zu Beginn des Traums noch nicht, dass Lübeck-Moisling der auslösende Wachmacher ist und durchträume bis dahin unangenehme Zeiten.

      Traum hin oder her, der Urschwager rief nicht an, es half nichts, ich musste die Initiative ergreifen und wählte also die landmännische Fernsprechnummer. Schon nach wenigen Klingeltönen hatte ich ihn am Apparat.

      »Hier Landmann, wer da?«, schallte es mir im vertrauten Singsang aus dem Hörer entgegen. »Hallo?«

      Da ich mir trotz aller zwischenzeitlichen Grübeleien keinen Grund für meinen Anruf überlegt hatte, rief ich das Erstbeste in die Muschel, das mir einfiel:

      »Allo allo, ici Radio-Television de Paris.«

      »Oui oui«, ließ die Antwort nicht auf sich warten.

      »Monsieur Landmann?«, spann ich den einmal aufgenommenen Faden unverdrossen weiter, wobei ich seinen Namen sowohl bei Land als auch bei Mann nach Franzosenart mit Nasalen versetzte. Ich war gespannt, wie es weiter ging, zumal meine Französischkenntnisse in Wort und Schrift und Telefon damit so gut wie ausgeschöpft waren. Meines Wissens hatte der Pensionärsschwager auch keine weiterreichenden Erfahrungen mit der Sprache Voltaires. Zur Not konnte ich immer noch auf das Spanische ausweichen. Wer konnte schon ahnen, wie schwierig in Deutschland die Kommunikation ist?

      »Oui, ici Madame, äh, pardon, Monsieur Landmann, Landmann, oui oui, voulez-vous parle avec moi?«

      Donnerwetter, das hätte ich ihm nicht zugetraut. Einmal abgesehen von der Tatsache, dass seine Antwort inhaltlicher Blödsinn war, denn weswegen sollte ihn das Pariser Radio anrufen, wenn es nicht mit ihm reden wollte, bewies der Schwager doch nicht geringe Schlagfertigkeit.

      »Je ne parle pas francais«, gab ich kleinlaut zu.

      »English?«, fragte Landmann weltmännisch zurück, »Espanol, Italiana, Kisuaheli, du bloody bastard you, can you hear me, tell me, can you hear me, can you understand me? Or what?«

      »Espanol es mas bien, Flamenco, Toro, Gran Canaria, Senorita Landmann es en la casa?« Ich weiß nicht, was mich ritt, diesen Schwachsinn weiter zu treiben, der Schwurbel der wienerschen Biere war in vollem Gange und ich fühlte mich wohl dabei. Landmann schien ähnlich zu fühlen, ich spürte es, sonst hätte er bei seinem babylonischen Sprachangebot nicht die einzige Sprache, die wir beide beherrschten, nämlich deutsch, ausgespart.

      »Si Senor«, blökte Schwager Paul generös, ganz sicher hatte er Gefallen an der eigentümlichen Konversation gefunden, »Senorita, äh Senor Landmann es en la casa, pronto, prego, pero, äh, no tengo dinero, pesetas, caprice?«

      Nun wurde der beamtete Landmann polyglott.

      »Keep quiet, I´m still on your side, side si, a tu lado, que sera amigo, que sera?«

      »A donde esta?«, fragte ich schamlos.

      »Dorodont? Was? Que? Donde, de nada, amigo, de nada. Por favor, please, Yo soi un canario«, flötete Landmann ohne Pause vor sich hin, darin durchaus mit seinem, Nachfolger Wenzel vergleichbar, der es ebenfalls bestens verstand, ohne Punkt und Komma auf seine Umwelt einzuschwallen.

      »I´m a tiger, terrible tiger, entfant terrible, don´t misunderstand me, don´t let me be misunderstood, Mr Orbison, äh, Mr Jones«, er stockte, offensichtlich meinte er Eric Burdon und kam nicht drauf. Landmann verlegte sich aufs Stöhnen:

      »I got the blues, Yo soi un grande matador, je suis le nouveau Chevalier, Maurice, oui, comprende amigo?«

      Es war schlicht herrlich. Verträumt hörte ich dem landmännischen Gesäusel