Gerhard Schumacher

Die Glückseligen


Скачать книгу

hatte, wenn er denn nicht auf der Parteischule den Fahnenappell verschlief, diesem HO-Gauner, der er immer noch war, der nie irgendwo, schon gar nicht in der Zivilisation, ankommen würde, dem hätte ich seine Schadenfreude am allerwenigsten gegönnt. Aber was soll´s, ich konnte es mir ja nicht aussuchen. So ist das postsozialistische Wendeleben, zumindest reichsbundesbahnmäßig gesehen.

      Ich war inzwischen fast bei Wenzel angelangt. Er hatte das bärtige Köpfchen leicht angewinkelt, zwinkerte vergnügt mit den blitzblanken Äugelein und streckte mir beide Arme empfangsbereit entgegen, so, als würde er mich gleich inniglich in selbige schließen. Im letzten Augenblick überlegte er es sich anders, zog die Ärmchen wieder in ihre Grundposition und ich war froh, nicht vor all den Leuten an seine Brust gedrückt und eventuell auch noch abgeknutscht zu werden.

      »Du kommst ja pünktlich«, schrie er mich an, »das ist schön, da braucht man nicht solange zu warten«, schlussfolgerte er messerscharf. Dass Wenzel schrie, war normal, es war ihm von der Natur nicht gegeben, in angemessener Lautstärke zu reden.

      Dann lud er mich zum Frühstück ein und auch mein Hinweis, es sei ja nun doch schon früher Nachmittag, brachte ihn nicht davon ab, denn er hatte höchst Wichtiges mit mir zu besprechen.

      »Hast du schon gefrühstückt Morbi, mein Freund, komm mit frühstücken, ich lad´ dich ein, ein Stück weit, ins Omero, ein gutes Frühstück gibt´s da, geh´ schon mit, Schwager, ehrlich…«

      Wer konnte da schon Nein sagen? Wir schnürten die Treppen hinunter zur Haupthalle, vorbei an zugedröhntem Drogenvolk, Bahnpolizisten und sonstigen Pennern und kamen durch schwingende Türen ins Freie. Wenzels Volvo, in der Grundfarbe ursprünglich einmal weiß, stand mitten auf dem Trottoir des kleinen Bahnhofsvorplatzes direkt an einer Notrufsäule. Ob er keinen Schiss hätte, abgeschleppt zu werden, wo es doch hier von Polizisten nur so wimmelte, fragte ich ihn erstaunt. Wenzel verneinte und schloss den Wagen umständlich auf. Er habe da einen einfachen aber wirksamen Trick, erklärte er und reichte mir aus der Windschutzscheibe einen Notizbuchzettel, auf dem mit Bleistift in Druckbuchstaben geschrieben stand: EILIGER NOTDIENST!!! und darunter war mit Filzstift ein rotes Kreuz nicht ganz symmetrisch gemalt. Das Ganze sah aus wie die ungelenke Krakelei eines Zehnjährigen.

      »Und den Wisch kaufen dir die Bullen ab?«, fragte ich ungläubig.

      »Immer«, antwortete Wenzel vergnügt. Und richtig, ich konnte kein Strafmandat entdecken. Was ja auch wieder einiges über die grünen Jungs und Mädels aussagt.

      Wir fuhren die Joachimstaler Straße und Bundesallee Richtung Steglitz und Wenzel bemühte sich, allzu dunkle Ampelphasen zu vermeiden indem er zügige Hochgeschwindigkeit vorgab. Unter dem Rückspiegel baumelte ein Duftbäumchen in Tannenform vor sich hin, sonderte aber gnädigerweise keinen Nadelwaldgestank mehr ab. Es hatte schon beim Kauf des Wagens dort gehangen und war inzwischen zu alt für diese Art von Spielereien. Nachdem wir endlich in die Leonorenstraße einbogen, parkte er den Wagen vorschriftsmäßig am Straßenrand einer Seitenstraße und wir schlenderten durch wärmende Sonnenstrahlen zur Restauration Omero.

      Es ist dies nun ein nicht eben gut beleumdetes Etablissement, das sich seit immerhin fast 15 Jahren einer mir unverständlichen Beliebtheit bei bestimmten Bevölkerungsschichten erfreut. Wir Alten gehen nur ungern in diese Suff- und Fresshöhle, da hier unbestritten die noch Älteren das Zepter schwingen, das sie erst bei ihrem biologisch bedingten Abgang an den sorgsam herangezüchteten Nachwuchs unter sich weitergeben, der es dann genauso hält, das Zepter. Ein verschworener Zirkel von Greisen, in sich geschlossen, abgeschirmt durch die eigene Senilität wie weiland das Zentralkomitee im Moskowiter Kreml. Im Omero tagte das richtungskompetente Oberorgan der gerontologischen Bewegung in permanenter Sitzung.

      Die Räumlichkeit selbst, deutsche und internationale Spezialitäten, besteht aus einem langen schlauchartigen Saal, der sich meterweit im Hintergrund durchs Halbdunkel kämpft und wohl auch darin verliert. Kein Bild stört die schlichte Schmucklosigkeit der Wände, die beidseitig mit Tischchen für jeweils vier Greise vollgestellt sind. Die Tischreihen trennt eine Art Laufsteg für das Bedienungspersonal, das, wie sich mir bald erschloss, aus einer einzigen, mehr als zwielichtigen, Person besteht, die offensichtlich Tag und Nacht hier schlaflos ihr Wesen treibt und mittels des schmalen Knüppeldamms allerlei Gemenge von der Feuerstelle an die Tische speditiert, Bier und Schnaps sowieso.

      Im hinteren, fast schon dunklen Teil der schlauchigen Schankstube gelangt man durch ein Gewirr verschiedener Türen und tückisch auf ihre Chancen lauernder Stufen in den per Schild deklarierten „Raum für Festlichkeiten aller Art“, in dem die Untoten ihre Jubiläen, Gedenkfeiern, letzte Tänze und, wer weiß, schwarzen Messen oder andere kultischen Orgien bei tauchsiedergewärmten Gerstensaft und sonstigen Gaumenkitzlern abfeiern.

      Kurz vor dem Türgewirr, gerade noch im rauchgeschwängerten Dunst zu erahnen, befindet sich der Tresen mit Zapfanlage, Waschgelegenheit und Schränken aller Größen und Couleur, die Gläser unterschiedlicher Abmaße, Zubehör und sonstige Accessoires des Suffs bergen und verwahren.

      Ein weiteres Schild im Eingangsbereich weist großspurig auf einen sommerlich zu nutzenden Biergarten hin, den jedoch keiner, den ich kenne, je gesehen, geschweige denn betreten hat. Nicht wenige behaupten sogar, der Biergarten existiere ausschließlich in der blühenden Phantasie des Schildermalers. Wer weiß.

      In diese Lokalität verbrachte mich Wenzel Wiener, der Substitut aller Schwäger.

      Kaum, dass wir den Gastraum betraten, schleuderte Wenzel ein behände gedonnertes »zwei Halbe Fred«, in Richtung eines sich undeutlich im Halbdunkel herumdrückenden Individuums, das hier augenscheinlich den Schankkellner gab und sich infolge der wienerschen imperativen Diktion beherzt am Zapfhahn zu schaffen machte. Ich war einigermaßen verblüfft, denn der Ersatzschwager schien hier offensichtlich wohl bekannt und gelitten zu sein, stand mit dem Personal auf vertrautem Fuß, duzte hierhin und dorthin die zwielichtigen Diener des Suffs und deren halbseidene Klientel und schämte sich auch keineswegs, mir diese mehr als fragwürdigen Bekanntschaften bislang verheimlicht zu haben. Was lief hier ab? Was ist jahrelang an mir vorbeigeschlittert?

      Um diese Zeit, dem frühen Nachmittag, war das Omero nur mäßig besucht, so dass wir ohne Mühe Plätze fanden. Der Vertretungsschwager bugsierte mich an einen freien Greisentisch in strategische Nähe zur Theke und dem in ihrer Umgebung lauernden Kellner Fred, der, unmittelbar, nachdem wir saßen, schiefmäulig grinsend die georderten Biere vor uns stellte und sich dann flugs in das Zwielicht seiner Tresenexistenz zurückzog.

      Von dem angekündigten Frühstück war keine Rede mehr. Wenzel starrte einige Sekunden auf sein Glas, bevor er es konzentriert an die Lippen führte und ansatzlos etwa die Hälfte des Bieres in seinen Hals schüttete, es sodann absetzte und mit Schwung auf den Tisch zurückknallte.

      »Ahhh, das tut gut, ein Stück weit, was Schwager?«, schwallte Wenzel mich an und guckte verträumt durch den Raum.

      Was für eine hochwichtige Mitteilung er mir denn nun eigentlich machen wolle, versuchte ich vorsichtig den Grund unserer Anwesenheit herauszufinden, hatte aber vorerst kein Glück bei Wenzel, der voll und ganz damit beschäftigt war, sein Bier auszutrinken, mich blinzelnd ebenfalls zum Trinken aufzufordern, beim Kellner zwei neue Halbe in Auftrag zu geben und außer seinem Standardrepertoir: Ahhh, Prost, gut was, ein Stück weit, nichts weiter von sich gab.

      Wir tranken recht tapfer mit hoher Frequenz fast schweigend vor uns hin. Ich sinnierte beschaulich über Susi Bürstmann-Pümpels knalligen Doppelnamen, Wenzel erfreute sich seiner Umgebung und scherzte auf deftig humorige Art mit den Greisen vom Nachbartisch, »Na, heute schon die Skelette rhythmisch bewegt, Companeros, oder wie? Was sagt das Friedhofsamt dazu?« und ähnliche Büttenreden mehr.

      Nach dem dritten Halben schlich sich mir ein leichter Schwurbel ins Hirn. Er äußerte sich aufs Angenehmste, denn plötzlich stellte ich mir den Schankkellner Fred in schwarzen Netzstrümpfen mit Minirock und weißem Häubchen vor, wie er durch die Tischreihen den Knüppeldamm entlang tänzelte und den Gerontologen des Zentralkomitees Schwabbeleisbein und Räuberspieß vor die Sabberlätze knallte. Der Beuteschwager wurde immer unbestimmter in seiner Gestalt, zerfloss bis zur Undeutlichkeit, drohte zur Gänze mit dem Hintergrund zu verschwimmen und ward nur noch