Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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konstant.

      - Es sah von oben aus, als ob der Felsen einen grün schimmernden Kern hatte, den er wie einen Ring umschloss.

      Moses las die Zeilen immer wieder durch. Was hatte es mit dem grünen Kern auf sich? Sein erster Gedanke war, dass es sich um ein ausgedehntes Waldgebiet handelte. Aber das konnte mitten in der Wüste, wo es weit und breit kein Wasser gab, nicht sein.

      Am nächsten Morgen flog er zurück nach Genf. Aber er konnte sich nicht auf seine eigentliche Arbeit konzentrieren. Immer wieder musste er an den geheimnisvollen Felsen und seinen grün schimmernden Kern denken, und schnell wurde ihm bewusst, dass er das Geheimnis des Felsens lüften musste, um wieder Herr über seine Gedanken zu werden.

      Zwei Wochen später flog Moses wieder los. Da er diesmal länger in der Wüste bleiben wollte, um mehr über den Felsen in Erfahrung zu bringen, hatte er seine Ausrüstung entsprechend zusammengestellt. Neben einem kleinen Zelt, einem Schlafsack und Proviant in mehreren Kisten, hatte er einen großen Leiterwagen mitgebracht, den er nach der Landung aus vorgefertigten Einzelteilen zusammenbaute, um seine Ausrüstung zu transportieren.

      Direkt vor der Felswand schlug er sein Lager auf. An den ersten beiden Tagen fand er weder eine Stelle, an der er den Felsen als ungeübter Kletterer besteigen konnte, noch eine Öffnung, die ihm einen Zugang zum Kern ermöglicht hätte. Aber er ließ sich nicht entmutigen. Am Morgen des dritten Tages wurde seine Geduld belohnt. Ein Vogelschrei riss ihn aus seinem Schlaf. Er sprang auf, lief in die Richtung, aus der die Vogelstimme kam und entdeckte nach wenigen Metern in einer Höhe von drei Metern eine Öffnung im Felsen, die er in der Vergangenheit übersehen hatte. Während er nach oben sah, verließen verschiedene Vogelarten dieses Loch und flogen hinaus in die Wüste. Er ging zurück zum Lager, lud mehrere Kisten auf den Leiterwagen und transportierte sie bis zu der Öffnung. Anschließend stapelte er sie so, dass er das Loch gut erreichen und hineinsehen konnte. Es war fast kreisrund und hatte einen Durchmesser von etwas mehr als einem Meter. Moses leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Er blickte in einen Gang, der circa fünf Meter weit unter 45 Grad Richtung Westen verlief und dann anscheinend nach Süden abbog. Da der Gang mindestens zwei Meter hoch und über einen Meter breit war, zögerte Moses nicht und kroch durch die Öffnung. Im Schein der Lampe tastete er sich langsam vorwärts. Der Boden des Gangs war eben und fest. Hinter der Biegung verdoppelte sich die Breite des Gangs. Moses ging vorsichtig weiter und zählte die Schritte. Die Helligkeit im Gang nahm zu und bei der Zahl 60 erreichte er wieder eine Biegung. Der Gang wurde wieder schmaler und verlief jetzt unter 45 Grad nach Osten. Nach weiteren zehn Schritten erreichte er das Ende des Ganges, das fast vollständig von den Ästen und Blättern eines Baumes versperrt wurde. Moses teilte die Äste mit seinen Händen und sah hinaus. Als sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, entdeckte er in einer Entfernung von 100 Metern einen kleinen See. Die am Ufer stehenden Bäume bildeten mit ihren Ästen und Blättern ein Dach, durch das sich nur wenige Sonnenstrahlen einen Weg bahnten. Moses bot sich ein einmaliger Anblick. Trotz der unterschiedlichen Farben und einem bizarren Schattenspiel auf der Wasseroberfläche strahlte die vor ihm liegende Landschaft eine Vollkommenheit und Harmonie aus, wie er dies in seinem Leben noch nie erlebt hatte. Vor dem Ausgang lagen mehrere unterschiedlich große Felsbrocken, die es Moses problemlos ermöglichten, den Höhenunterschied von etwa einem Meter zu überwinden. Am Ufer des Sees blieb er stehen und schloss die Augen, um zur Ruhe zur kommen, denn er zitterte vor Aufregung am ganzen Körper. Jetzt erst fiel ihm auf, dass hier am See kein Laut zu hören war. Nicht einmal die Blätter bewegten sich im Wind. Minutenlang blieb er so stehen und spürte, wie jeder Stress und alle Sorgen von ihm abfielen und er einfach nur dankbar und glücklich war, in diesem Moment an dieser Stelle sein zu dürfen. Die vielen unbekannten Düfte, die er einatmete, versetzten ihn in einen rauschähnlichen Zustand. Er schüttelte sich mehrmals, um wieder in die Realität zurückzufinden. Vorsichtig öffnete er die Augen und stellte erleichtert fest, dass der See und der Wald noch vorhanden waren. Er konzentrierte sich jetzt auf seine Umgebung, ging vorsichtig zwischen den Bäumen und Sträuchern am Ufer des Sees entlang und entdeckte viele Spuren, die von unterschiedlichen Tieren stammten. Er hatte Durst, bückte sich und schöpfte mit beiden Händen das klare Wasser. Es war angenehm kühl und schmeckte köstlich.

      Plötzlich wurde es laut. Die unterschiedlichsten Tierstimmen ertönten und Moses hatte das Gefühl, dass sich die Tiere jetzt darüber beschwerten, dass er in ihr Paradies eingedrungen war und von ihrem Wasser getrunken hatte. Moses erhob sich und ging, sich immer wieder vorsichtig umblickend, zurück zum Ausgang, der von den Ästen und Blättern des großen Baumes vollständig bedeckt wurde. Er benutzte die Felsbrocken wieder als Stufen. Bevor er die Äste mit seinen Händen auseinanderbog, um den Gang zu betreten, drehte er sich noch einmal um, hob einen kleinen, spitzen Stein auf, nahm ihn in die Hand und machte eine Faust. Die Spitzen des Steins bohrten sich tief in seine Haut und verursachten große Schmerzen. Moses öffnete langsam seine Hand und sah, dass er an mehreren Stellen blutete. Es war also kein Traum, was er gerade erlebt hatte und jetzt noch sah. Er betrat den Gang und schaltete seine Taschenlampe an. Wie in Trance ging er zurück zur anderen Seite des Gangs.

      Wieder zurück auf dem Wüstenboden verstaute er zuerst die Kisten und dann die restlichen Ausrüstungsgegenstände auf dem Leiterwagen. Gerade als er losgehen wollte, rutschte eine Kiste vom Wagen und mehrere Holzstücke brachen von einer Seite und dem Deckel ab. Da sie sonst kaum beschädigt war, lud Moses sie wieder auf und machte sich auf den Rückweg zum Flugzeug. Der Motor und das Funkgerät funktionierten ohne Probleme.

      Als er die Flughöhe erreicht hatte und hinaus in den blauen Himmel sah, faltete er zum ersten Mal in seinem Leben die Hände und betete. Er wusste nicht, zu wem er betete, aber er war sich sicher, dass der Adressat des Gebets sich freuen würde, denn es war ein Dankgebet.

      Zwei Tage später saß Moses wieder am Schreibtisch seines großen Genfer Büros. Aber er konnte sich auch diesmal nicht richtig auf seine Arbeit konzentrieren. Er ertappte sich dabei, wie sich seine Gedanken immer wieder um dieselben Fragen drehten:

      - Woher kam das viele Wasser mitten in der Wüste, das die Lebensgrundlage dieses geheimnisvollen Waldes war und dessen Existenz seit vielen Jahrtausenden sicherte?

      - Lebten in diesem Wald Menschen, und wenn ja, wie sahen sie aus?

      - Warum war dieser Felsen nirgendwo verzeichnet?

      - Wem gehörte dieses Paradies?

      - Wer oder was unterband die Funktion des Flugzeugmotors und des Funkgerätes innerhalb eines zehn Kilometer breiten Korridors und warum gab es ihn?

      Aber alle diese Fragen, auf die er keine Antworten wusste, wurden mit der Zeit immer stärker von zwei weiteren Fragen überlagert: Warum spürte er so eine starke Bindung zu diesem Paradies und wie konnte er es vor den Menschen schützen?

      Von nun an nutzte Moses jede freie Minute, um diesen Wald zu besuchen. Er stellte bei seinen Flügen fest, dass im Umkreis von 120 Kilometern um den Felsring keine Menschen lebten und die Oberflächenbeschaffenheit der Wüste stark von großen Dünen und tiefen ausgetrockneten Flussläufen geprägt wurde. Aus der Vogelperspektive sah es so aus, dass in dem überwiegenden Teil der Wüste ein Durchkommen nur unter großen Schwierigkeiten und mit Spezialfahrzeugen möglich war. Diese Erkenntnis beruhigte ihn, denn er hatte große Angst, dass noch ein anderer Mensch das Paradies entdecken und vielleicht zerstören würde. Er konnte nicht wissen, dass sich die Topographie dieser Region seit Jahren kontinuierlich veränderte.

      Jedes Mal, wenn er wieder nach einem Besuch des Paradieses in seinem Genfer Büro an seinem Schreibtisch saß, nutzte er sehr diskret seine Kontakte, um mehr Informationen über die Gegend, in der die Felsformation lag, zu bekommen. Aber alle seine Bemühungen waren nicht von Erfolg gekrönt. Diesen Flecken Erde schien es einfach nicht zu geben.

      Die Besuche seines kleinen Paradieses liefen immer nach dem gleichen Schema ab. Er beobachte stundenlang aus der Distanz den kleinen See, ohne jemals ein Lebewesen zu entdecken. Aber jedes Mal, wenn er sich zum Abschied dem See näherte, um daraus zu trinken, meldeten sich die Bewohner des Waldes lautstark.

      Bald bemerkte Moses, dass ihn die regelmäßigen Besuche des Paradieses veränderten. Er war nicht mehr in der Lage, mit Waffen zu handeln und konzentrierte sich fortan auf seine Kundschaft, die ihr Vermögen sicher