Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


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Rat des Stammes den Namen Strahlende Sonne gegeben. Nach vielen Versuchen brachte Strahlende Sonne einen gesunden Jungen zur Welt. Der Kleine war schon bei der Geburt sehr groß, auffallend mager, hatte sehr große Füße und faszinierende schwarze Augen. Diogenes und Strahlende Sonne konnten sich nicht auf einen Namen einigen, und so wuchs ihr Sohn die ersten Wochen und Monate ohne einen Namen auf, was bei einem Stamm mit dem Namen die Namenlosen nicht wirklich überrascht. Aber schon bald waren viele Stammesmitglieder der Meinung, dass sich der Kleine redlich einen Ehrennamen verdient hatte. Denn jeden Morgen bei Sonnenaufgang meldete sich der Häuptlingssohn mit lauter Stimme und weckte dadurch die Hunde, die sich ebenfalls sofort lautstark bemerkbar machten. Und so brauchte kein Namenloser einen Wecker, vorausgesetzt, er wollte überhaupt bei Sonnenaufgang aufstehen. Diogenes wurde zu einer eilig einberufenen Versammlung geladen, auf der der selbsternannte Sprecher des Rates völlig Indianer untypisch sofort zur Sache kam, denn er fürchtete Diogenes‘ Pow Wow­Technik.

      „Häuptling Diogenes, wir möchten dir zwei Dinge mitteilen:

      - Der Junge bekommt den Ehrennamen Rising Sun.

      - Das frühe Geschrei deines Sohnes stört uns und die Hunde. Wir fordern dich deshalb auf, dies unverzüglich abzustellen.“

      Zustimmendes Gemurmel der anwesenden Ratsmitglieder war zu hören. Diogenes überlegte kurz, erhob sich dann von seinem Platz und blickte in die Runde.

      „Ich bin mit dem Namen einverstanden und kümmere mich, howgh.“

      Der Häuptling besorgte am nächsten Morgen eine zweite, etwas kleinere Tonne, die er gemeinsam mit seiner eigenen Tonne an den Dorfrand rollte. Und gegen den anfänglichen Widerstand von Strahlende Sonne zog er mit Rising Sun dort ein. Der Dorffriede war wiederhergestellt, denn das Geschrei des Jungen war jetzt im Dorfkern nicht mehr zu hören, und den Häuptling hatte es sowieso noch nie gestört.

      Rising Sun wuchs sehr schnell. Und kaum, dass er laufen konnte, erkundete er auch schon zielstrebig alleine die Umgebung. Er war immer barfuß unterwegs und weigerte sich standhaft, die hübsch verzierten Mokassins, die ihm seine Tante Liebliche Kaktee geschenkt hatte, anzuziehen. Als ihn sein Vater einmal darauf ansprach, antwortete der Junge:

      „Vater Häuptling, ich habe von Adlerauge gelernt, mit meinen Füßen zu sehen und zu fühlen. Wenn ich die Mokassins anziehe, bin ich blind und spüre nichts mehr.“

      Der Vater fand die Aussage seines Sohnes plausibel und damit war das Thema Mokassin sehr zum Leidwesen von Liebliche Kaktee erledigt. Rising Sun kannte bald alle Pflanzen in der Umgebung und lernte von den alten Frauen im Dorf, wie sie hießen und welchen Nutzen die Menschen von den einzelnen Pflanzenarten hatten. Dann widmete er sich der Fauna rund um das Dorf. Er spielte mit den Spinnen, Käfern, Ameisen, Schlangen und was sonst noch auf der Erde herumkrabbelte. Den Tieren schien es zu gefallen, denn sie warteten schon jeden Morgen auf ihren menschlichen Freund. Manchmal saß Rising Sun stundenlang auf einem großen Stein und beobachtete die Vögel. Dann wünschte er sich, ebenfalls fliegen und die Welt einmal von oben betrachteten zu können. Da er pünktlich zu den Mahlzeiten im Häuptlingszelt saß und immer gut gelaunt war, interessierten sich seine Eltern nicht weiter darum, wo sich ihr Sohn den ganzen Tag aufhielt. Sie wunderten sich nur, dass Rising Sun so selten mit gleichaltrigen Kindern spielte. An den Abenden saßen Vater und Sohn vor ihren Tonnen, betrachteten schweigend die unendliche Zahl funkelnder Sterne und manchmal philosophierten sie über das, was ihnen gerade durch den Kopf ging.

      Mittlerweile war Rising Sun fünf Jahre alt. Er war sehr groß für sein Alter, hatte lange schwarze Haare, die ihm seine Mutter zu einem Zopf geflochten hatte, der ihm bis zu den Hüften reichte und war weiterhin immer barfuß unterwegs. Die meiste Zeit verbrachte er draußen vor dem Dorf, wo er am liebsten mit einer kleinen Schlangen­ und einer großen Spinnenart spielte. Die Schlangen hatten kurze spitze Zähne und waren ungiftig, was man von den Spinnen nicht behaupten konnte.

      Sein Tagesablauf änderte sich, als in einer Entfernung von etwas mehr als fünf Kilometern von dem von Kakteen eingefasstem Dorf der Namenlosen in Rekordzeit von einem Unbekannten ein großes Haus gebaut wurde. Angelockt von den ihm unbekannten Baugeräuschen näherte sich Rising Sun vorsichtig der Baustelle. Die großen Baumaschinen mit den ihm fremden Geräuschen beunruhigten ihn anfangs, aber seine Neugier war größer, und er merkte schnell, dass er von den großen Maschinen nichts zu befürchten hatte. Von nun an besuchte er die Baustelle einmal die Woche. Das Zelt aus Stein wurde immer größer. Er fragte sich, ob die Menschen, die in einem so großen Zelt wohnten, auch so aussahen wie die Indianer vom Stamm der Namenlosen.

      Als er wieder dem großen und immer noch wachsenden Zelt einen Besuch abstattete, entdeckte er ein neues, viel kleineres Zelt, das eher aussah, wie die Zelte, die er kannte. Seine Augen suchten instinktiv das kleine Zelt und dessen Umgebung ab und blieben dann an einem eigenartigen Gestell hängen, das neben dem Zelt in dessen Schatten stand. Aber nicht das Gestell fesselte seine Aufmerksamkeit. Es war die Frau, die auf dem Gestell lag und ihn beobachtete. Sie hatte eine weiße Haut, hellgraue Haare und fast so schwarze Augen wie er. Wie in Trance ging Rising Sun auf die Frau zu und blieb direkt vor ihr stehen. Sie lächelte ihn freundlich an und lud ihn mit ihrer rechten Hand ein, sich neben sie zu setzen. Der Junge zögerte kurz und folgte dann der Einladung, ohne die Frau aus den Augen zu lassen. In diesem Augenblick kam ein großer und sehr breitschultriger Mann um das Zelt herum, erblickte Rising Sun und stutzte. Die Frau sah dies und sprach mit dem Mann in einer Sprache, die sich für Rising Sun sehr fremd anhörte. Der Mann nickte und entfernte sich, ohne sich weiter um den Jungen zu kümmern. Die Frau sprach ihn jetzt direkt an. Rising Sun verstand wieder nichts, aber er war sich sicher, dass die Frau wissen wollte, wie er hieß. Von dem Bruder seines Vaters, dem Anwalt Listiger Fuchs, wusste er, dass sein Name in der Sprache der Bleichgesichter Rising Sun oder Sol Naciente hieß. Er konnte beide Namen fehlerfrei aussprechen.

      Rising Sun nannte beide Namen. Die Frau wiederholte Rising Sun und der Junge nickte. Sie zeigte auf sich und sagte Suzette. Rising Sun wiederholte den Namen so lange, bis die Frau zufrieden nickte. Der Mann kam wieder zurück und hatte ein Tablett in der Hand, auf dem zwei große Gläser standen. Er reichte ein Glas der Frau, das andere dem Jungen und verschwand dann wieder. Rising Sun probierte erst vorsichtig, trank dann das ganze Glas in einem Zug leer, wischte sich anschließend mit dem Handrücken der linken Hand den Mund ab und strahlte Suzette zufrieden an. Sie hatte nur einen kleinen Schluck getrunken und dann das Glas neben sich auf die Erde gestellt. Rising Sun sah hinauf zur Sonne, stand auf, stellte sein Glas neben das der Frau und ging ein paar Schritte in Richtung seines Dorfes, denn er wollte pünktlich zum Essen im Zelt sein. Dann drehte er sich noch einmal um und winkte Suzette zu. Sie winkte zurück. Rising Sun rannte los und schon kurze Zeit später konnte Suzette den Jungen nicht mehr sehen. Da setzte sich ein anderer Mann neben sie.

      „Wer war das denn, Suzette?“

      Suzette drehte sich gedankenverloren zur Seite.

      „Das war Rising Sun. Ich hoffe, er kommt mich noch mal besuchen, denn ich möchte ihn gerne näher kennenlernen. Er gehört bestimmt zu dem Indianerstamm, der hinter dem Kakteenwald wohnt.

      3 Rising Sun

      Häuptling Diogenes hätte es nie für möglich gehalten, dass Bleichgesichter sich freiwillig in dieser menschenfeindlichen Gegend ansiedeln würden. Von seinem Bruder Listiger Fuchs wusste er, dass sich ein gewisser Brian Goodness bewusst für diesen Ort entschieden hatte, weil seine Frau an einer besonderen Art von Immunschwäche litt, und dass die Region, in der der Stamm der Namenlosen lebte, genau die klimatischen Rahmenbedingungen bot, damit die Frau eine faire Chance hatte, ihr Leben zu verlängern. Weiterhin erfuhr er, dass dieser Brian Goodness einer reichen irischen Familie entstammte und bis zu seinem Umzug in die amerikanische Wüste als Dozent an einem bekannten College in Dublin gearbeitet hatte. Diogenes beschloss, erst einmal abzuwarten, was bekanntlich seine große Stärke war.

      Brian hatte seine Frau Suzette während des Studiums in Dublin kennen und lieben gelernt. Die zierliche dunkelhaarige und immer frierende Französin mit den tollen dunklen Augen war ihm auf dem Campus sofort aufgefallen. Und da ihr der große rothaarige Schlacks auch sehr gut gefiel,