Jörg Müller

Die Arche der Sonnenkinder


Скачать книгу

Häuptling. Und wann beginnen wir?“ Jetzt übersetzte der Vater für seinen Sohn.

      „Ich möchte den Tag nach morgen anfangen, Vater Häuptling.

      Denn morgen will ich allen meinen Freunden erzählen, dass ich jetzt viel lernen werde und nicht mehr jeden Tag Zeit für sie habe.“

      Diogenes Augen leuchteten vor Stolz.

      „So sei es, howgh.“

      Listiger Fuchs übersetzte wieder. Rising Sun und Suzette strahlten um die Wette und James und Mary bewirteten jetzt die Gäste.

      Jeden Abend, wenn Rising Sun von den Bleichgesichtern zurückkam und er neben seinem Vater vor seiner Tonne lag und zu den Sternen hinaufschaute, erzählte er ihm, was er gelernt hatte. Sein Vater war im Inneren hin und hergerissen. Zum einen war er glücklich und stolz über die außergewöhnliche Auffassungsgabe seines Sohnes, aber ihm wurde auch bewusst, dass Rising Sun in nicht weit entfernter Zukunft den Stamm der Namenlosen verlassen würde. Und das bedeutete für ihn, dass er ein anderes männliches Mitglied aus dem Stamm der Namenlosen als seinen Nachfolger auswählen und aufbauen musste.

      Brian und Suzette begannen damit, Rising Sun die englische Sprache zu vermitteln. Und schon nach wenigen Wochen konnte sich der Junge in der für ihn neuen Sprache verständlich machen. Aber Rising Sun wurde auch schnell bewusst, dass es ein weiter Weg war, bis er seine Gefühle in der Sprache der Bleichgesichter ausdrücken konnte. Und das war ja sein erklärtes Ziel. Schon bald stellte er erstaunt fest, dass Brian, Suzette, Mary und James einzelne englische Wörter unterschiedlich aussprachen.

      „Suzette, warum hört sich die Sprache der Bleichgesichter bei dir ganz anders an als bei Brian, James und Mary?“

      „Hattet ihr schon einmal Besuch von einem anderen Indianerstamm?“

      Rising Sun überlegte.

      „Ja, es ist noch gar nicht lange her, dass mein Vater von dem Häuptling eines anderen Stammes besucht worden ist.“

      „Und hat der andere Häuptling eure Sprache genauso gesprochen wie ihr?“

      Der Junge überlegt wieder.

      „Ich konnte ihn gut verstehen, aber es hörte sich anders an, wenn er sprach.“

      „Brian, Mary, James und ich kommen von verschiedenen Stämmen und deshalb hört es sich anders an, wenn wir die Sprache der Bleichgesichter sprechen. Warum das so ist, erkläre ich dir später.“

      Rising Sun gab sich damit zufrieden, sprach aber am Abend seinen Vater auf dieses Thema an.

      „Vater Häuptling, wie viele Stämme gibt es auf der Welt, die Manitu geschaffen hat?“

      Der Vater sah seinen Sohn überrascht an und überlegte.

      „Unendlich viele. So viele wie Sterne am Himmel.“

      „Und wie viele Sprachen gibt es auf dieser Welt?“

      „Genauso viele.“

      Der Häuptling wurde langsam unruhig. Das Philosophieren auf der Grundlage von konkreten Fragen war nicht seine Sache und machte ihn nervös.

      „Aber wie verstehen sich dann die einzelnen Stämme, wenn sie sich mal unterhalten wollen?“

      Der Häuptling wurde noch unruhiger. Aber dann fiel ihm eine passende Antwort ein.

      „Sie einigen sich auf eine Sprache, die alle sprechen.“

      „Und welche Sprache ist das?“

      Diogenes spürte, dass er auf dem besten Weg war, sich mit seinen Antworten in eine Sackgasse zu manövrieren. Um das zu verhindern, standen ihm zwei unterschiedliche Strategien zur Verfügung: Schweigen, bis sein Gegenüber seine Frage vergessen hatte, oder mit einer Gegenfrage kontern. Der Häuptling entschied sich für die zweite Variante.

      „Hast du schon mit Suzette darüber gesprochen?

      „Nicht direkt, Vater Häuptling. Ich habe sie gefragt, warum sich die Sprache der Bleichgesichter bei jedem anders anhört.“

      „Und was hat sie geantwortet?“

      „Sie will mir das später erklären, wahrscheinlich, weil es darauf keine einfache Antwort gibt.“

      Diogenes konnte sich dem nur anschließen.

      „Mein Sohn, ich sehe das genauso wie Suzette.“

      Der Häuptling war froh, dass sich sein Sohn damit zufrieden gab und nicht weiter nachfragte.

      Die Zeit verging für Rising Sun wie im Flug. Schon bald beherrschte er die englische Sprache in Wort und Schrift. Wenn sein Onkel Listiger Fuchs zu Besuch kam und sich mit ihm in der Sprache der Bleichgesichter unterhielt, runzelte dieser jedes Mal die Stirn. Denn der Akzent seines Neffen war eine Mischung aus irischem und Londoner Slang. Und fluchen konnte der Junge wie ein irischer Bierkutscher aus dem letzten Jahrhundert. Listiger Fuchs beschloss, den Goodness` einen Besuch abzustatten, um sie darauf hinzuweisen, dass es kein Nachteil für den Jungen sei, wenn er etwas mehr Oxfordenglisch lernen würde.

      Suzette war Listiger Fuchs dankbar für den Hinweis, und fortan bemühten sich Brian, James und Mary ein „besseres Englisch“ zu sprechen, was besonders James sehr schwer fiel.

      James und Mary hatten den Jungen genauso in ihr Herz geschlossen wie Suzette und Brian. Kurz nach Rising Suns achtem Geburtstag bat James Brian um ein Gespräch:

      „Brian, der Junge ist zwar nicht sehr muskulös, aber er ist schnell wie der Wind und bewegt sich unhörbar wie eine Schlange. Du weißt, dass ich bei der Army eine besondere Ausbildung genossen habe. Was hältst du davon, wenn ich den Jungen unter sportlichen Gesichtspunkten unter meine Fittiche nehme?“

      „Eine sehr gute Idee. Ich hatte gehofft, dass du irgendwann diesen Wunsch äußerst. Ich glaube auch nicht, dass der Häuptling etwas dagegen haben wird. Aber wir müssen natürlich zuerst den Jungen fragen, ob er überhaupt Spaß daran hat.“

      Rising Sun war begeistert, und James übernahm die Ausbildung des Indianerjungen. Obwohl er ihn nicht schonte, zeigte Rising Sun nicht einmal ein Zeichen von Ermüdung oder Unlust.

      Als Rising Sun zehn Jahre alt wurde, schenkte ihm Brian einen Weltatlas, der fortan die Lieblingslektüre des Jungen wurde. Brian erklärte ihm erst die unterschiedlichen Kontinente und die riesigen Ozeane. Der Junge war überrascht, wieviel Wasser es auf der Welt gab. Dann widmeten sie sich den einzelnen Ländern auf den fünf Kontinenten und Brian erklärte ihm, welche Sprachen in den einzelnen Ländern gesprochen wurden.

      An den Abenden saß Rising Sun weiterhin mit seinem Vater unter dem Sternenhimmel und berichtete, was er von Brian gelernt hatte. Er legte dann immer den Atlas vor sich und seinen Vater, um ihm die einzelnen Länder, die er kennengelernt hatte, zu zeigen.

      „Vater Häuptling, es stimmt wirklich, dass es so viele Stämme gibt wie Sterne am Himmel. Nur heißen die Stämme Völker und diese Völker leben in Ländern. Und wenn sie sich unterhalten wollen, sprechen sie meistens Englisch.“

      Diogenes hörte seinem Sohn gerne zu und ließ sich jedes Mal von dessen Begeisterung anstecken.

      „Und das viele Wasser, das es auf unserer Erde gibt. Stell dir mal vor, wie viele verschiedene Tierarten es dort geben muss. Wenn ich erwachsen bin, möchte ich alle Völker und sehr viele Sprachen kennenlernen. In der nächsten Woche fange ich damit an, die Heimatsprache von Suzette zu lernen. Sie nennt sich Französisch und hört sich sehr melodisch an.“

      Diogenes wurde in diesem Augenblick wieder schmerzlich bewusst, wie sehr er diese Abende mit seinem Sohn genoss und wie schnell die Zeit vergehen würde, bis sein Sohn das Dorf endgültig verlassen und hinaus in die große weite Welt gehen würde.

      Brian wurde immer mehr gefordert, um den Wissensdurst des Jungen zu stillen. Als Rising Sun dreizehn Jahre alt war, beschloss Brian, den Jungen langsam an die Themen Geschichte, Religion und